KINO

Filmkritiken 2013 

Only Lovers Left Alive, Inside Llewyn Davis, Lunchbox, Eltern, Captain Phillips, Jackpot - Vier Nieten landen einen Treffer (Arme Riddere), Blue Jasmine, Fack ju Göhte, Das kleine Gespenst, Inside WikiLeaks - Die fünfte Gewalt (The Fifth Estate), Alphabet, Exit Marrakech, Alles eine Frage der Zeit (About Time), Der Schaum der Tage (L'Écume des jours), 2 Guns, Zwei Leben, Riddick: überleben ist seine Rache (Riddick), Bottled Life, Da geht noch was, White House Down, Where's the Beer and when do we get paid?, Portugal, mon amour (La cage dorée), Das ist das Ende (This Is the End), Conjuring – Die Heimsuchung (The Conjuring), La grande bellezza - Die große Schönheit, The Company You Keep - Die Akte Grant, Unplugged: Leben Guaia Guaia, Man of Steel, Die Monster Uni (Monsters University), Trainer!, Before Midnight, Die wilde Zeit (Après mai), Star Trek: Into Darkness, Frohes Schaffen, Iron Man 3, Die Jagd (Jagten), Paradies: Glaube, Sofia's Last Ambulance (Poslednata lineika na Sofia), Zero Dark Thirty, Gangster Squad, Movie 43, Django Unchained


Only Lovers Left Alive

Rhythmus im Blut

Mit seinen Vampiren Adam und Eve bringt Jim Jarmusch in „Only Lovers Left Alive“ eines der charmantesten Blutsauger-Paare der Filmgeschichte auf die Leinwand. Die zwischen vergnüglich und melancholisch pendelnde Romanze ist gespickt mit Anspielungen auf Musik, Film, Literatur und Popkultur.


Es ist ein gängiger Kunstgriff, Zeit- und Zivilisationskritik in den Mund von Außerirdischen oder Zeitreisenden zu legen, die den allgegenwärtigen Wahnsinn kopfschüttelnd aus der Perspektive des Außenseiters betrachten. So wie es Vampir Adam (Tom Hiddleston) tut, der nun schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel hat – die man ihm natürlich nicht ansieht, genauso wenig wie seiner noch etwas älteren Liebsten Eve, gespielt von der seit Orlando anscheinend tatsächlich alterslosen Tilda Swinton. Adam hat genug gesehen und erlebt, ihm scheint die Welt nur noch von „Zombies“ bevölkert. Eve hingegen gibt den eher romantisch-lebensfrohen Teil in ihrer Beziehung. Die führen die beiden schon eine Weile aus der Ferne und per Videotelefonie: Sie lebt in Tanger, er in einer verlassenen Gegend der sterbenden Metropole und Ex-Autostadt Detroit, deren Name hier auch ‚détruit‘ bedeuten könnte.

Als bei Adam wieder einmal akute Missstimmung aufkommt, macht sich Eve über ein paar komplizierte Nachtflugverbindungen von Marokko aus auf den Weg in die Staaten, um ihren Langzeit-Gemahl auf andere Gedanken zu bringen. Das klappt auch einigermaßen, und es könnte alles in Ordnung sein, wenn nicht Eves missratene jüngere Schwester Ava (Mia Wasikowska) auf einmal aufkreuzen und sich vorübergehend bei ihnen einquartieren würde. Auch unter Vampiren gibt es die üblichen Familienzwistigkeiten. Und wenn Ava jemanden „süß“ findet, wie Adams „Zombie“-Gehilfen Ian (Anton Yelchin), ist äußerste Vorsicht geboten. 

Der illusionslos-nüchterne Blick des Vampirs
Die Konstellation bietet ein tragfähiges Handlungsgerüst für schöne Nachtbilder bleicher Gestalten und ihre Dialoge, in die Drehbuchautor und Regisseur Jim Jarmusch oft jenen lakonischen bis skurrilen Witz einfließen lässt, den man aus Filmen wie Down By Law, Mystery Train oder Night On Earth kennt, und der hier noch durch Anachronismen und Untoten-Gags („Das ist gerade mal 87 Jahre her!“) angereichert wird. Seine Vampire sind wahre Nerds und wandelnde Konversationslexika, sie hatten ja auch Jahrhunderte Zeit, sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen. Was Wunder, dass der romantisch-melancholische Künstler Adam die Unfähigkeit der Menschen beklagt, die großen Geister und Wissenschaftler unter ihren Zeitgenossen zu erkennen und angemessen zu würdigen. In der Beurteilung von Künstlern sieht es seiner Ansicht nach nicht viel besser aus, und da kennt sich Adam als Musiker und Komponist mit einem über die Jahrhunderte gewachsenen und veredelten Geschmack besonders gut aus, ob es sich um klassische Stücke für Solovioline oder um Noise und Garage mit Space-Rock-Elementen handelt. 

Musik ist ein zentraler Bestandteil von Only Lovers Left Alive. Gleich zu Beginn gibt es einige schöne alte Gitarren zu bestaunen, unter anderem Exemplare von Gretsch und Gibson sowie ein glitzerndes schwedisches Hagström-Modell aus den 70ern (ein Hinweis am Rande für die Gitarreros). Neben viel Gitarren- und ein bisschen Geigenmusik darf auch etwas Soul nicht fehlen. Adam lebt immerhin in Motown, einer der beiden historischen Soul-Hochburgen, während Eve bekennt, eher ein „Stax-Girl“ zu sein (noch so ein Musiker-Gag). 

Jarmusch treibt das Spiel mit den Zitaten und Anspielungen munter weiter fort. In Eves Reisegepäck befindet sich neben Literatur aus ihrer „Jugend“, also bis circa zum 17. Jahrhundert, auch Aktuelleres wie Infinite Jest. Die Namen in ihren Reisepässen sind berühmten Figuren der Literaturgeschichte entlehnt. Ein paar Seitenhiebe auf reale historische Gestalten und frühere Zeitgenossen müssen ebenfalls sein, insbesondere Lord Byron und Shakespeare kommen gar nicht gut weg. Was letzteren angeht, bedient sich Jarmusch einer der zahlreichen Theorien, die dessen Autorschaft anzweifeln, nämlich jener, die Christoper Marlowe (John Hurt) für den Verfasser von Shakespeares großen Bühnenwerken hält. Überdies entpuppt sich Marlowe hier als Vampir … ernstzunehmen ist das Jonglieren mit den Verweisen ohnehin nicht: So stammt das Adagio aus einem von Schuberts Streichquartetten nicht von ihm, sondern von – Adam. 

Blut ist ein ganz besonderer Saft
Wie der Mensch, braucht auch der Vampir Nahrung für sein Überleben. Und für ihn gilt ebenso: Das Auge isst beziehungsweise saugt mit. (Man beachte eine Szene, in der Eve Adam eine spezielle Darreichungsform von Blut kredenzt.) Dass Blut ein ganz besonderer Saft ist, wusste eben nicht nur ein einschlägig bekannter Weimarer Geheimrat. Vor manchen qualitativ minderwertigen Blutkonserven müssen sich Vampire im 21. Jahrhundert offensichtlich in Acht nehmen. Gleiches gilt für Versuche, direkt an der Quelle Mensch/„Zombie“ anzuzapfen. In diesem Zusammenhang gönnt Filmemacher und Musiker Jarmusch sich und dem Publikum einen deftigen Gag auf Kosten der Musikindustrie. Doch eigentlich ist der Halsbiss ja sowas von out und 19. Jahrhundert – das macht man heutzutage nur noch im Notfall, und in dem gilt für die Opfer die Ansage: Only Lovers Left Alive. Üblicherweise holt Adam als Chirurg verkleidet im Krankenhaus Nachschub, wobei seine Namensschilder einmal mehr Doktoren aus Film und Literatur zieren. 

Mit Only Lovers Left Alive stellt Jim Jarmusch unter Beweis, dass sein typischer Stil auch mit einem Genre wie dem Vampirfilm zusammengeht, von dem man das nicht unbedingt erwartet hätte. Ein vergnüglicher, gleichwohl melancholisch grundierter Film mit einem ausgezeichneten Hauptdarsteller-Gespann, und ein feiner Abschluss für das gar nicht so schlechte Kino-Jahr 2013. 

(24.12.2013, kultur-in-bonn.de) 
 
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Inside Llewyn Davis

Katzenjammer 

„Inside Llewyn Davis“ handelt von einem erfolglosen Folksänger und -gitarristen im New York des Jahres 1961. Ein Film ohne echten Plot, aber mit einer Katze. So etwas kriegen nur Joel und Ethan Coen hin – zum großen Vergnügen des Zuschauers. 


Llewyn Davis (Oscar Isaac) ist ein weiteres Prachtexemplar in der Galerie der skurrilen Charakterköpfe und schrägen Scheiterer, die die Filme der Coen Brothers seit je bevölkern. Chronisch pleite und den Verlust seines Duopartners mehr schlecht als recht verarbeitend, schlägt er sich mit kümmerlich entlohnten Solo-Gigs und gelegentlichen Plattenaufnahmen als sideman durch. Regelmäßig brüskiert er seine Mitmenschen, auch und gerade ihm nahestehende wie Jean (Carey Mulligan) und Jim (Justin Timberlake) oder das Ehepaar Gorfein (Robin Bartlett, Ethan Phillips), obwohl sie ihm zum wiederholten Male ein Quartier für die Nacht geben oder mit Geld aushelfen. Kaum ein Fettnäpfchen, das er auslässt, kaum eine als Witz gemeinte Bemerkung, die nicht jemand in den falschen Hals bekommt. Und dann entwischt ihm auch noch die Katze seiner Gastgeber. 

Kein wirklich sympathischer Held, den sich die Coens da ausgedacht haben. Gleichwohl folgt man Llewyn Davis interessiert und amüsiert auf seinen Wegen durch New York, nach Chicago und wieder zurück, und bei seinen Begegnungen mit Verwandten, „Freunden“, Musikmanagern und skurrilen Fremden. In matten, gedämpften Farben gehalten, sieht Inside Llewyn Davis aus wie ein Film aus der Zeit, in der er spielt, und entwickelt eine Art Gegengeschichte zu den großen Folksänger-Karrieren, die Anfang bis Mitte der 60er-Jahre im Gaslight Cafe in New Yorks Künstlerviertel Greenwich Village begannen. Zu den Quellen, die die Coens nutzten, um Zeitkolorit und Atmosphäre adäquat wiedergeben zu können, gehören unter anderem die Memoiren des 2002 verstorbenen und vermutlich nur noch Folk-Spezialisten bekannten Dave van Ronk.

Der scheiternde Künstler
Bei aller Detailtreue in Ausstattung und Kostümbild wirkt der Film gar nicht wie ein typisches period piece, sondern äußerst frisch. Das ist nicht zuletzt der Leistung von Oscar Isaac geschuldet, der ein überzeugendes Abbild des scheiternden Künstlers liefert. Die Figur des Llewyn Davis steht so stellvertretend für all jene talentierten Singer/Songwriter, die den großen Durchbruch nie geschafft haben, und für die, die es zukünftig versuchen und nicht schaffen werden. Als passender Kontrast dazu betritt nach Llewyns letztem Auftritt im Film einer mit Gitarre, Mundharmonika und näselnder Stimme die Bühne des Gaslight Cafe, dem tatsächlich eine bis heute andauernde Karriere mit weltweiter Gefolgschaft beschieden sein sollte.

Hier ist denn auch ein kurzer (Warn-)Hinweis angebracht: Wer mit zu Gitarrenbegleitung vorgetragener Folk-Musik so gar nichts anfangen kann, wird an rund einem halben Dutzend Stellen zwei bis drei Minuten andauernde Probleme mit Inside Llewyn Davis bekommen, wenn Stücke (meist Traditionals) von Anfang bis Ende ausgespielt werden. Darunter befindet sich allerdings ein Song, der ohne weiteres das Zeug zum Hit hat: „Please Mr Kennedy“, eigens für diesen Film von T-Bone Burnett zusammen mit Justin Timberlake, den Coens und zwei weiteren Ko-Autoren geschrieben und mit Verve und Witz von einem aus Timberlake, Oscar Isaac und Adam Driver bestehenden Trio vorgetragen – die würdigen Nachfolger der unvergleichlichen „Soggy Bottom Boys“ aus O Brother, Where Art Thou. Mit Marcus Mumford hat im Übrigen ein weiterer prominenter Musiker beim Soundtrack mitgemischt, und Oscar Isaac, Carey Mulligan und Justin Timberlake singen wie selbstverständlich alles selbst. 

Referenzen zum ebenfalls prall mit US-amerikanischer Volksmusik gefüllten O Brother, Where Art Thoulassen sich auch unter den Rollennamen finden. Die heimliche Hauptfigur von Inside Llewyn Davis heißt Ulysses – und ist eine Katze, die sich als Szenendieb betätigt, wo sie nur kann. Dazu Joel Coen bei der Pressekonferenz in Cannes laut britischem Telegraph: "The film doesn't really have a plot. That concerned us at one point; that's why we threw the cat in." („Der Film hat keinen wirklichen Plot. Das fing irgendwann an, uns Sorgen zu machen, deswegen haben wir die Katze eingebaut.“)

Zwischen Komödie und Drama
Zu lachen gibt es auch ohne die Running-Gag-cat einiges in dieser, bei Licht betrachtet, ziemlich düster grundierten dramedy. Auch das ein Markenzeichen der Coens: ihre einmalige Art, frei von jeglicher Sentimentalität eine tragfähige Balance zwischen Humor und Illusionslosigkeit herzustellen, die unter anderem den 2010 hierzulande etwas untergegangenen, aber nicht minder sehenswerten A Serious Manauszeichnete. 

Sinn für Humor der grimmigeren Sorte braucht man, wenn man mit Llewyn zu tun hat. Jean (Carey Mulligan) zeigt, dass sie darüber verfügt, als sie Llewyn rät, er solle in Zukunft besser zwei Kondome übereinander ziehen, oder am besten gleich ein Ganzkörperkondom benutzen. Diese Szene wirkt wie die verschärfte Variante eines „Paargesprächs“ aus den besten New-York-Komödien Woody Allens. Und die Coens-Reihe komischer Gespräche zwischen komischen Typen wird um einen weiteren eindrucksvollen Auftritt ihres Stammschauspielers John Goodman bereichert, der sich in seiner Rolle als exzentrischer Jazzmusiker über Folksänger und ihre drei Akkorde lustig macht, und Llewyn die Katze als neuen Duopartner empfiehlt. Die Coens-Komik durchstreift einmal mehr ein weites Spektrum von skurril-überdreht bis ätzend staubtrocken (Llewyns Bemerkung über eine A-cappella-Männertruppe), und wandert auch einmal unter die Gürtellinie (der Katze).

Zu meckern gibt es da kaum etwas. Die Coens haben nichts von dem verloren, was ihre Filme – die meisten jedenfalls – seit rund 30 Jahren jedes Mal aufs Neue zu something special macht. 

(04.12.2013, kultur-in-bonn.de) 
 
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Lunchbox

Es geht ums Essenzielle

Was mit Liebe, Sorgfalt und Könnerschaft zubereitetes Essen so alles bei und zwischen Menschen auslösen kann, zeigt das indische Alltagsdrama „Lunchbox“ auf ebenso anrührende wie amüsante Weise – und ohne typische Bollywood-Stilmittel.


Irrfan Khan gehört zu den größten Stars des indischen Kinos, und warum das so ist, lässt sich in Lunchboxunschwer erkennen. Er verfügt über Präsenz, füllt Szenen aus und kann mit seinem Gesicht die ganze Gefühlsskala vermitteln, ohne große mimische Anstrengungen unternehmen zu müssen. So auch bei der Wandlung des verschlossenen, griesgrämigen Witwers Sajaan zu einem wieder dem Leben zugewandten Menschen. 

Sajaan arbeitet bei einer Versicherung in der Millionenstadt Mumbai und steht kurz vor dem Ruhestand. Vorher soll er seinen Nachfolger Shaikh (Nawazuddin Siddiqui) einarbeiten. Shaikhs Übereifer und penetrante gute Laune gehen Sajaan gleich auf die Nerven, sodass er ihn sich möglichst vom Leibe hält und wie gewohnt allein in die Mittagspause geht. 

An dieser Stelle ist nun ein kurzer Exkurs über indische Sitten und Gebräuche fällig: Zigtausende indischer Männer erhalten täglich zur Mittagspause von sogenannten Dabbawallas fünfstöckige Lunchboxen direkt an ihren Arbeitsplatz geliefert, deren köstliche Inhalte ihre Ehefrauen während des Vormittags zubereitet haben. Nachmittags holt der Lieferant die Box wieder ab und bringt sie zur Hausfrau zurück. 

Eine warme Mahlzeit vom Feinsten
Durch eine Verwechslung erhält Sajaan nun auf einmal eine Lunchbox mit außerordentlich wohlschmeckendem Speisen, die die dafür verantwortliche Köchin Ila (Nimrat Kaur) eigentlich ihrem Ehemann zugedacht hatte, von dem sie sich schon seit geraumer Zeit vernachlässigt fühlt. Wie die Statistik versichert, kommen solche Verwechslungen einmal in sechs Millionen Fällen vor, weshalb die Prämisse, auf der Lunchbox aufbaut, auch ins Reich der Märchen gehört, was Regisseur und Autor Ritesh Batra unumwunden zugibt. Dabei fällt ein hübscher Gag am Rande ab: Als Ila im späteren Verlauf der Geschichte ihren Lieferdienst wegen der vertauschten Lunchboxen zur Rede stellt, erklärt der Dabbawalla empört, bei ihnen könnten gar keine Fehler vorkommen, denn ihr Service sei schließlich von Harvard-Absolventen geprüft. 

Zurück zum Wesentlichen, zum Essen. Nachdem Ila durch die Reaktion ihres Mannes klargeworden ist, dass er ihr Essen gar nicht bekommen hat, will sie trotzdem wissen, wem es so gut geschmeckt haben muss, dass er fünf blitzblank leerverputzte Gefäße zurückgeschickt hat. Also legt sie am folgenden Mittag ihrer nächsten raffinierten Menükreation einen Zettel bei. Und das ist der Beginn einer wunderbaren (Brief-)Freundschaft. 

Nachdem es anfangs um die Qualität der Mahlzeiten geht, tauschen sich Sajaan und Ila zunehmend über persönliche Dinge aus, in teilweise seitenlangen Botschaften. Auch die Untreue von Ilas Ehemann kommt dabei zur Sprache. Die beiden nicht sonderlich glücklichen Menschen werden zu gegenseitigen Ratgebern. Schließlich eröffnet Ila Sajaan, dass sie überlegt, mit ihrer Tochter nach Bhutan zu gehen. Bhutan gilt als eine Art Glücksverheißung, seitdem dort das Bruttonationaleinkommen / Bruttosozialprodukt als offizielle Messgröße ausgedient hat und durch das Bruttonationalglück ersetzt wurde. Damit naht auch der Moment, an dem sich Ila und Sajaan entscheiden müssen, ob aus ihrer Korrespondenz mehr werden soll ... 

Staubtrockener Humor, deadpan vorgetragen
Mehrwert fürs jeweils eigene Leben haben beide in jedem Fall gezogen. Der sinnliche Genuss des guten Essens und die Vertrautheit mit seiner Briefpartnerin haben Sajaan wieder empfänglicher für die schönen und auch die weniger schönen Seiten des Lebens gemacht. Er lockert seine Reserve gegenüber lauten Kindern und nervigen Mitmenschen und fängt auch an, sich mit Shaikh anzufreunden, denn beide haben inzwischen Parallelen in ihren Lebensgeschichten und weitere Ähnlichkeiten entdeckt. Nicht unbedingt im Humor, denn anders als der mit einem sonnigen Gemüt ausgestattete Kollege bevorzugt Sajaan eher die schwärzere Sorte: Nach all den Jahren des langen, täglichen Stehens in der Bahn habe man ihm nun mitgeteilt, dass das auch im Tod so weitergehen werde, da es nur noch Stehgräber zu kaufen gebe. Und als Shaikh erzählt, er habe von Kollegen gehört, dass Sajaan einmal mit einem Tritt eine Katze vor ein Auto befördert habe, entgegnet dieser staubtrocken und mit unbewegtem Gesicht, es habe sich nicht um eine Katze, sondern um einen Blinden gehandelt.

Da ist gleich noch eine Freundschaft entstanden, und so gibt Sajaan auch den Trauzeugen auf Shaikhs Hochzeit. Entwarnung, es wird jetzt nicht stundenlang gesungen und getanzt! Ähnlichkeiten mit dem dreieinhalbstündigen Schmachtfetzen Sometimes Happy, Sometimes Sad beschränken sich auf den Titel, der die Grundstimmung von Lunchbox recht gut zusammenfasst. Es handelt sich hier nicht um einen typischen Bollywood-Film; Lunchbox wurde als internationale Koproduktion mit indischer Beteiligung gedreht und hat die übliche Spielfilmlänge. In den wenigen kurzen Gesangseinlagen wird ähnlich wie beim chorischen Sprechen auf der Bühne die Handlung kommentiert oder eine Szene vorbereitet, etwa wenn in einem Bus Insassen aus einem Schlagertext singen. 

Nicht prächtig ausstaffierte Heldinnen und Helden und ihre überlebensgroßen Gefühle stehen im Mittelpunkt, sondern die Alltagsgeschichte zweier Menschen, die über das mit Hingabe und Könnerschaft zubereitete Essen einen Zugang zueinander finden und ihrem Leben eine Wendung geben – mit offenem Ausgang. Ein passender Schluss für einen sehenswerten Film, dessen vorzügliche Darsteller gleichwohl so viel Interesse an ihren Figuren geweckt haben, dass man schon gerne wüsste, wie die Geschichte weitergeht. 

(20.11.2013, kultur-in-bonn.de) 
 
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Eltern

Die ganz alltägliche Überforderung

Ein Akademikerpaar mit zwei Kindern muss feststellen, dass es gar nicht so leicht ist, die jahrelang eingespielte Rollenverteilung – er Kindererzieher, sie Ernährerin – vorübergehend auszusetzen, weil er wieder seinem Beruf nachgehen will. „Eltern“ von Robert Thalheim ist ein hervorragendes Stück ‚Dramedy‘ mit starker Besetzung. 


„Wir schaffen das schon“ oder „Wir kriegen das schon irgendwie hin“ – nach dieser optimistischen Grundüberzeugung versuchen die Enddreißiger-Eltern Christine (Christiane Paul) und Konrad (Charly Hübner) Familie, Arbeit und Alltag zu bewältigen. Sie ist Ärztin im Krankenhaus und ernährt die Familie, er Schauspieler und Regisseur im vorübergehenden Ruhestand, weil mit der Erziehung der beiden Töchter Käthe (10) und Emma (5) beschäftigt. Eine moderne Musterfamilie, und sympathisch sind sie auch noch: Die Kinder singen im Auto bei subversiven Liedtexten der Goldenen Zitronen lauthals mit. 

Als die eingeübten Abläufe ausgesetzt werden müssen, da Konrad ein Engagement erhält und die Nibelungen von Hebbel in einer von ihm selbst bearbeiteten Fassung inszenieren soll, dauert es nicht lange, bis die ganz alltägliche Überforderung und der ganz normale Wahnsinn Einzug halten. Zwar kommt ein Au-pair-Mädchen aus Argentinien, doch die hat, wie sich schnell herausstellt, eigene Probleme: Isabel (Clara Lago) ist schwanger – und will abtreiben. Nachdem die ersten Irritationen verdaut sind, siegt bei Konrad und Christine der altbekannte „Das schaffen wir schon!“-Impuls. 

Multitasking grotesk
Doch als nun Verantwortungen neu verteilt werden sollen, zeigt sich, dass die bislang scheinbar so perfekt funktionierende und harmonierende Familie Risse hat. Mutter und ältere Tochter sind sich regelrecht fremd geworden, weil Christine ja so selten da ist – und kochen kann sie auch nicht. Schon nach kurzer Zeit eskaliert die Lage, und Isabel stellt verwundert fest: „Jetzt klingt es hier wie in einer argentinischen Familie“, wenn in der Wohnung alle durcheinander reden beziehungsweise schreien, weil Mutter Christine telefonieren will, aber immer wieder von Emma daran gehindert wird. Und Vater Konrad gibt morgens eine groteske Multitasking-Einlage, als er während des Zähneputzens seine Stückfassung weiter bearbeitet, während von der Seite mal wieder die Jüngste quengelt. 

Mit anderen Worten: In der einen Woche Handlungszeit, die der Film umfasst, herrscht das blanke Chaos. Das Zeit- und Terminmanagement zwischen Wohnung, OP-Saal, Spielplatz, Arztterminen mit Isabel und vor allem Theaterbühne klappt nicht. Konrad droht mit seiner Bearbeitung der Nibelungen ein Waterloo zu erleben, der eitle Star des Theaterensembles wirft ihm „Lindenstraßen-Realismus“ vor. Statt „Wir schaffen das schon“ lautet Konrads Standardsatz nun „Ich kann mich einfach nicht konzentrieren.“ Und dann muss auch noch ein Nachfolger für den verstorbenen Hamster Specky aufgetrieben werden, da sonst das Geheule von Emma gar nicht mehr aufhören würde. Unter all diesem Stress wird dann selbst der Papa manchmal böse mit seinen beiden Goldstück-Töchtern. Auch zwischen den Eltern kracht es kräftig. Christine wirft Konrad vor, er klinge wie eine Mutter aus den 50er-Jahren, worauf postwendend die Retourkutsche folgt, sie gebe dazu den passenden 50er-Jahre-Mann ab. Und natürlich bleiben die üblichen Techtelmechtel-Verdächtigungen nicht aus. Sie glaubt, er habe etwas mit Bühnenbildnerin Julie (Maren Eggert), er glaubt, sie habe etwas mit einem Arztkollegen. Die Musterfamilie ist erst einmal dekonstruiert. 

Filmischer Realismus ohne falsche Töne
Robert Thalheim, der zusammen mit Jane Ainscough das Drehbuch schrieb, hat Eltern sehr gut ausbalanciert und mit nahezu perfektem Timing zwischen Drama und Komödie inszeniert. Kaum eine Szene ist zu lang geraten ist oder hat einen falschen Ton, selten klingt ein Satz wie aufgesagtes Drehbuch-Deutsch. Man nimmt den Figuren ab, was sie sagen, tun und lassen. Einen blinden Fleck der Geschichte könnte man bemängeln: Großeltern, die sich üblicherweise gerne mal um die Kinder ihrer Kinder kümmern, oder andere Verwandte kommen nicht vor. 

Gleichwohl gehört Thalheims Film in eine Reihe mit den besten Arbeiten von Andreas Dresen und Hans-Christian Schmid, die es ebenso vortrefflich verstehen, Alltagsgeschichten intensiv und lebensecht in Szene zu setzen. Dass Eltern einen so überzeugenden Eindruck hinterlässt, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der durchweg ausgezeichneten Besetzung. Die alte Regel, wonach nur verlieren kann, wer mit Kindern und Tieren vor die Kamera geht, erfährt hier jedenfalls keine Bestätigung. Nun hat der Specky-Hamsterersatz auch zu wenige Auftritte zum Schau-stehlen, doch die beiden Kinderdarstellerinnen Paraschiva Dragus (Käthe) und Emilia Pieske (Emma) sind schon ein Pfund, an dem sich Charly Hübner, der in Polizeiruf 110ebenfalls mit zwei Filmkindern gesegnet ist, und Christiane Paul, im richtigen Leben Dr. med. und zweifache Mutter, allerdings nie verheben – auch wenn Emilia Pieske als Nerv- und Quengelkind wirklich eine ziemlich großartige Vorstellung gibt. Den Schauspielern gelingen wahrhaftige und teilweise berührende Szenen – etwa bei der Versöhnung zwischen Mutter und älterer Tochter – aus dem ganz normalen Wahnsinn der andauernden täglichen Überforderung. Und wie es sich in so einem Fall gehört, bleibt das Ende offen, nährt aber die Hoffnung, im Lichte der gerade gemachten Erfahrungen noch einmal auf Anfang stellen zu können. 

(13.11.2013, kultur-in-bonn.de) 
 
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Captain Phillips

Rettung vom Rettungsboot 

Auch als Schiffsführer erledigt Tom Hanks präzise und souverän seine Schauspielarbeit. Regisseur Paul Greengrass komprimiert die Geschichte von Überfall und Entführung auf hoher See allerdings auf einen reinen Actionthriller. Damit wird „Captain Phillips“ dem Thema Piraterie vor Somalia nicht gerecht. 


Cargo statt Argo: Captain Phillips schildert minutiös den Überfall somalischer Piraten auf einen US-amerikanischen Frachter im April 2009, an dessen Ende der titelgebende Kapitän (Tom Hanks) von den Somalis als Geisel mit auf das Rettungsboot genommen wird. Wie in Paul Greengrass‘ Filmen (Bourne Verschwörung, Bourne Ultimatum) üblich, ist die Kamera viel in Bewegung. So entsteht ein packender und intensiver Bildersog, wenn die vier Piraten sich nach mehreren missglückten Anläufen schließlich Zugang zum Schiff verschaffen und den Frachter mit seiner zum größten Teil versteckten Besatzung von 20 Mann in ihre Gewalt bringen. Währenddessen versucht Phillips, sie mit allerlei Tricks und Ablenkungsmanövern im wahrsten Sinne des Wortes hinters Licht zu führen und seine Mannschaft zu schützen. 

Der zweite Teil des Films rekonstruiert mit einem an Zero Dark Thirty erinnernden Bemühen um Detailgenauigkeit die Anstrengungen zur Rettung des entführten Kapitäns. (NB: Phillips und die Piraten befinden sich nicht in einem offenen Ruderboot, sondern einem geschlossenen und motorisierten, so genannten Freifallrettungsboot. Mit Dank an Wikipedia für die Begriffsklärung.) Und vom Zeitpunkt der Entführung an wird der Film, obwohl er spannend bleibt, zu einem zwiespältigen Hollywood-Vergnügen. Nachdem die US-Army das Boot lokalisiert, mit den Piraten Kontakt aufgenommen und ihre Lösegeldforderung erhalten hat, weiß Phillips, woran er ist: Die Somalis wollen mit ihrer Geisel zurück an Land zu einem Piratenstützpunkt, doch das wird die Armee niemals dulden. „Sie können euch nicht gewinnen lassen!“, ruft der Kapitän seinen Entführern zu. Damit ist eigentlich schon alles gesagt. 

Das Militär als Präzisionsmaschine
Also machen die Spezialeinheiten ihren Job, nachdem sie das Boot mit allen Mitteln der Technik für eine Rettungsaktion „vermessen“ haben. Das militärische Vorgehen wird als kühle, professionelle Präzisionsarbeit abgebildet. Die Hintergründe der Piraterie, die vom failed state Somalia ausgeht, werden hingegen nur angetippt. Doch es sind/waren eben nicht nur technisch gut ausgerüstete Kriminelle und Bürgerkriegsmilizen mit oder ohne Verbindungen zu Islamisten, die US-amerikanische und europäische Frachtschiffe überfallen, sondern auch ehemalige Fischer, deren Fischgründe von den Fangflotten anderer (auch europäischer) Länder geplündert wurden, ganz zu schweigen von der Giftmüllverklappung ausländischer Schiffe vor der Küste Somalias. Statt auf Problematisierung liegt der Fokus, wie in Hollywood üblich, auf Personalisierung.

Da Kapitän Richard Phillips ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben und auch am Drehbuch mitgewirkt hat, ist davon auszugehen, dass Charaktere und Situationen realistisch wiedergegeben sind – mit einer gewissen fiktionalen Zuspitzung, versteht sich. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass der Film bei der Darstellung der vier Somalis übers Ziel hinausschießt. Mit Ausnahme ihre Anführers Muse (Barkhad Abdi) erscheinen sie häufig als „Halbwilde“, die wie von Sinnen um sich brüllen, wenn sie gerade mal nicht an Drogenpflanzen kauen.

Tom Hanks‘ Kapitän bildet das Zentrum des Films, und an seiner schauspielerischen Leistung gibt es nichts auszusetzen. Die mit zunehmender Eskalation der Situation wachsende Sorge und der Schrecken der unmittelbaren Todesangst sind ihm ins Gesicht geschrieben. Hanks auf hoher See, das passt offenbar: Ein wenig erinnert er hier an seinen verschollenen Frachtflieger aus Cast Away, der mit einem selbst gebauten Floß von der einsamen Insel flieht, auf die es ihn verschlagen hatte. Dafür hätte man ihm seinerzeit ohne weiteres seinen dritten Hauptdarsteller-Oscar geben können. Stattdessen droht nun ein Jahr nach Argoerneut eine politisch-patriotisch grundierte Auszeichnung, dieses Mal für Captain Phillips. 

(13.11.2013, kultur-in-bonn.de) 

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Jackpot – Vier Nieten landen einen Treffer (Arme Riddere)

Treffen sich die üblichen Verdächtigen in Fargo … 

„Jackpot – Vier Nieten landen einen Treffer“ ist ein wilder Zitate-Mix aus dem postmodernen Thriller der 90er-Jahre, von Tarantino bis zu den Gebrüdern Coen. Der Film drückt aufs Tempo und bemüht sich um Witz und Cleverness, verfehlt seine Vorbilder aber deutlich. 


Regisseur und Drehbuch-Koautor Magnus Martens muss die stilbildenden Thriller der 90er-Jahre in- und auswendig kennen. So viel Tarantino, Guy Ritchie, Coen Bros. & Co steckt in seinem Jackpot – Vier Nieten landen einen Treffer (Arme Riddere), dass der Zuschauer die neunzig Minuten auch zum munteren Zitate-Erkennen-Spiel umfunktionieren kann. Es geht schon bei Konstellation und Erzählstruktur los, die offensichtlich Bryan Singers Die üblichen Verdächtigen (The Usual Suspects) entlehnt sind. Am Beginn steht ein Massaker mit einem einzigen Überlebenden, dessen Ablauf und Vorgeschichte stückweise in Rückblenden erhellt wird, während die Handlung voranschreitet. 

Doch die Polizeiverhöre und Tatortbegehungen fördern immer neue Versionen der Ereignisse zu Tage und machen die Rekonstruktion schwierig. Was ist Wahrheit, wo fängt die Lüge an? Gesichert ist nur, dass der Überlebende Oscar (Kyrre Hellum) mit drei Ex-Knastinsassen eine Toto-Tippgemeinschaft eingegangen war und kurz vor Weihnachten 1,7 Millionen Kronen gewonnen hatte. Danach muss es dann zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sein, die unter anderem in mangelhaften mathematischen Fähigkeiten bei der Errechnung des jedem zustehenden Anteils begründet lagen und die Tippgemeinschaft schnell dezimierten ... 

All das bietet Martens in einer Bildsprache dar, die stark an Tarantino und Guy Ritchie (Bube Dame König grAs / Lock, Stock and Two Smoking Barrels, Snatch – Schweine und Diamanten) erinnert. Die Schauplätze im winterlichen Norwegen sowie einige Figuren und Gags lassen hingegen an Fargo denken: Da gibt es etwa in der Plastikweihnachtsbaumfabrik, in der die vier arbeiten, einen Häcksler, der sich bei der Entsorgung gewisser Teile als nützlich erweisen wird. Und wenn man nicht dank des Pressematerials wüsste, dass der ziemlich tumbe Tipper Thor von Mads Ousdal gespielt wird, könnte man meinen, den kleinen Bruder von Peter Stormare vor sich zu haben. Dazu kommen stock figures wie der stylishe und leicht durchgeknallt wirkende Cop (Henrik Masted), der sich in Anlehnung an das Verleihtitel-Deutsch auch als „Flic mit dem irren Blick“ titulieren ließe. Und Hauptfigur Oscar, der scheinbar kein Wässerchen trüben kann, ist wiederum ein Verwandter von Kevin Spaceys Oscar-prämierter Kaisersoße aus den Usual Suspects.

Es ist das Problem von Jackpot, dass Regisseur Magnus Martens besonders witzig und originell sein möchte, indem er die Schraube immer noch ein bisschen weiter zu drehen versucht. Doch bei dieser durchsichtig kalkulierten Komik fallen nur spärlich gute Gags ab. Der Film scheitert letztlich daran, dass seine großen Vorbilder überdeutlich durchschimmern. Blut fließt rot, und der Humor versucht angestrengt, eine schwarze Färbung anzunehmen, wirkt dabei aber eher bemüht als komisch. Schade, man hätte mehr von Jackpoterwarten können. Denn als Vorlage diente eine Geschichte von Jo Nesbø, dessen Roman Headhunter 2011 eine wirklich packende und äußerst originelle Verfilmung erhalten hatte. 

(12.11.2013, kultur-in-bonn.de) 
 
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Blue Jasmine

Endstation Selbstgespräch

Woody Allens neuer Film „Blue Jasmine“ gehört zu seinen besseren, weil er nicht auf die schnelle Pointe aus ist, sondern weitgehend unsentimental auslotet, wie tief man fallen kann. 


Blue Jasmine ist kein Feel-Good-Movie, das den Zuschauer mit einem Lächeln aus dem Kino entlässt. Woody Allen legt es nicht auf Gags und geistreiche one-liner an, nur gelegentlich lässt er typische Geschlechterkampf-Dialoge im Stil seiner besten Komödien aus früheren Jahren einfließen. Und es gibt auch keine einzige wirklich sympathische Figur in diesem Film. Blue Jasmine ist ein Drama über sozialen Abstieg, Realitäts- und Kontrollverlust. So sieht es auch aus und fühlt es sich an. 

Jasmine (Cate Blanchett) gehörte bis zum Finanzmarktkollaps zur High Society von New York. Nach dem Bankrott ihres untreuen und betrügerischen Ehemanns Hal (Alec Baldwin), der mit seinen windigen Geschäften zahlreiche Anleger um ihr Geld gebracht hat, ist auch sie vollkommen pleite und zieht zu ihrer Schwester Ginger (Sally Hawkins) nach San Francisco. Ginger ist wie Jasmine Adoptivkind und nahezu das völlige Gegenteil ihrer „Schwester“. Sie schlägt sich mit einfachen Jobs durch und hat zwei Söhne zu versorgen, die aus ihrer gescheiterten Ehe mit Handwerker Augie (Andrew Dice Clay) stammen – der ebenfalls bei Hal Geld angelegt und verloren hatte. Nun ist sie mit dem großmäuligen Chili (Bobby Cannavale) zusammen. Er und Jasmine können sich vom ersten Moment an nicht ausstehen. 

Konstellation und Figuren wirken, als ob Allen vor der Arbeit am Drehbuch ein paarmal Elia Kazans Klassiker Endstation Sehnsucht (A Streetcar Named Desire, 1951) gesehen hätte. Insbesondere die Ähnlichkeiten in der Zeichnung der weiblichen Hauptfiguren und der Physiognomie ihrer Darstellerinnen springen ins Auge – Filmfans haben auf Internetseiten darauf hingewiesen, dass Cate Blanchett die Rolle der Blanche DuBois tatsächlich vor ein paar Jahren im Theater gespielt hat. Hin und wieder lässt Blue Jasmine auch an Amos Kolleks Psychostudie Sue (1997) mit Anna Thomson denken, die allerdings um einiges drastischer, düsterer und hoffnungsloser als Allens Film ausfiel. 

Hauptdarstellerin kompensiert Schwächen der Story 
Rundum gelungen ist Blue Jasmine nicht. Manche Figur wirkt holzschnittartig, mancher Entwicklungssprung der Geschichte holprig oder forciert nach dem Deus-ex-Machina-Prinzip konstruiert. So etwa, als Jasmine, die gerade berechtigte Hoffnung schöpfen darf, ihrer Misere zu entkommen, der Exmann ihrer Schwester im denkbar ungünstigsten Moment über den Weg läuft. 

Was haften bleiben wird, ist vor allem die Leistung von Cate Blanchett. Ohne sentimentales Mitgefühl für ihre Figur im Zuschauer hervorrufen zu wollen, lässt sie ihn teilhaben an Jasmines Versuchen, ihr altes Leben zu behalten beziehungsweise wiederzubekommen, in einer Mischung aus Restwürde, die schnell in Dünkel umkippen kann, und zunehmendem Realitätsverlust, begleitet von Alkohol und Tabletten. Immer wieder wirft Jasmine zwanghaft den Blick zurück in ihre glamouröse Vergangenheit – der Film ist in stetigem Wechsel zwischen aktueller Handlung und Rückblenden auf Jasmines früheres Leben strukturiert – und führt in aller Öffentlichkeit Selbstgespräche. In diesen Szenen gelingt es Cate Blanchett auf ebenso eindringliche wie peinsame Weise, dem Verloren-sein und der Fassungslosigkeit über ein völlig aus den Fugen geratenes Leben ein Gesicht zu geben.

(06.11.2013, kultur-in-bonn.de) 

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Fack ju Göhte

Der Lümmel im Lehrerzimmer  

Die Schulkomödie „Fack ju Göhte“ kann mit einer für hiesige Verhältnisse überdurchschnittlichen Gagdichte und einem überzeugenden Hauptdarsteller aufwarten. 


Dass die so genannten Paukerfilme hierzulande aus der Mode gekommen sind, wird kaum jemand bedauern. Schaut man gelegentlich sonntagnachmittags im TV bei den Lümmeln von der ersten Bank und Konsorten rein, bestätigt sich ein vor langer Zeit abgespeicherter Eindruck: Und das sollen Zuschauer Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre mal ernsthaft lustig – oder gar anstößig – gefunden haben!? Beziehungsweise: Davor haben katholischer Film-Dienst und Evangelischer Filmbeobachter seinerzeit tatsächlich gewarnt?

Nichtsdestoweniger steht auch Fack ju Göhte in der Tradition der Schulkomödie, von Feuerzangenbowle bisFliegendes Klassenzimmer. Der Film zitiert und variiert die typischen Klassenzimmergags, bei denen Lehrer mithilfe von Utensilien wie Kreide, Türklinke, Wasserhahn und Schrank malträtiert werden, in zeitgemäß drastischen Versionen. Darüber hinaus hat Drehbuchautor und Regisseur Bora Dagtekin eine Reihe von komischen Situationen konstruiert, deren Pointen nicht gleich absehbar sind und den Film über den Durchschnitt hiesiger Komödien hinausheben. Auch Artverwandtes aus den USA wie Bad Teacher oder School of Rock lässt Fack ju Göhte hinter sich. 

Kleinganove mit Rotlichtkontakten wird Aushilfslehrer
Vor allem aber verfügt seine Hauptfigur über einiges komisches Potenzial und ist mit Elyas M’Barek optimal besetzt. Er spielt den Kleinganoven mit Migrationshintergrund und Rotlichtkontakten Zeki Müller, der mit gefälschten Zeugnissen Aushilfslehrer für Deutsch und Sport an einer Gesamtschule wird, weil die Beute aus einem Einbruch, für den er ein Jahr im Knast saß, inzwischen unter einer neugebauten Turnhalle auf Schulgelände liegt. Zeki ist ein Macho, wie er im Buche steht, rau und ungehobelt, aber gewitzt und clever, wenn es um die Durchsetzung seiner Interessen geht. Und Herr Müller findet auch die richtige Ansprache für 15-, 16-jährige Problemschüler, nämlich ihre: Da ist niemand vor einem „Spack!“, „Spast!“ oder „Heul leiser!“ aus Lehrermund sicher. Wer der (gebrüllten) Aufforderung, endlich die Pause zu beenden und sich ins Klassenzimmer zu begeben, nicht nachkommt, wird mit Schüssen aus einem Paintball-Gewehr daran erinnert. Unterricht gibt es zunächst mal keinen, stattdessen werden Spielfilme geguckt (offensichtlich ein Bad Teacher-Zitat), aber die Schüler sollen bloß nicht auf die Idee kommen, alte VHS-Videos mit den „Scheiß-Nazifilmen von euren Großeltern“ mitzubringen. 

Kontrast ist ein bewährtes Mittel in solchen Komödien, also gibt es im Lehrerkollegium auch die Referendarin und „Streberin“ Lisi Schnabelstedt, die noch Ideale und pädagogische Ansprüche vertritt. Karoline Herfurth spielt sie recht gut, überschreitet aber einige Male die Grenze zum overacting, wenn ihre Figur in emotional aufgeladenen Situationen die Fassung verliert. Natürlich fangen die Gegensätze Zeki und Lisi irgendwann an, sich anzuziehen, und natürlich bewegt man sich aufeinander zu. Sie wird ein bisschen vulgärer, er ein bisschen intellektueller: Der Aushilfslehrer für Deutsch fängt tatsächlich an, auf den Unterschied zwischen Genitiv und Dativ zu achten! Und da Herr Müller insbesondere den Problemschülern aus seiner 10b etwas Abschreckendes aus dem richtigen Leben vermitteln will, nimmt er seine Klasse auf „Exkursionen“ zu ihm persönlich bekannten Problemfamilien, Drogenabhängigen und Neonazis mit. 

„Modernisierter“ Shakespeare in der Theater-AG 
Der Plot ist im Grunde nicht neu, doch in Handlung, Atmosphäre, Sprache und (fehlenden) Umgangsformen an die Gegenwart angepasst. Dabei kann es nicht ausbleiben, dass der Witz etwas krasser und drastischer ausfällt und bisweilen auch danebengreift. Weniger gelungen ist etwa die Idee, Lisis unglückliche jüngere Schwester Laura mithilfe von Zekis Prostituierten-Freundinnen so richtig aufzubrezeln, womit sie denn auch gleich dazu beiträgt, den größten Rabauken aus der 10b zu bändigen. 

Einen recht billigen Gag zieht man aus Shakespeares Romeo und Julia und dessen literarischer Sprache. Da übernimmt Herr Müller in der Theater-AG kurzerhand die Regie des Stücks – obwohl er nach eigener Aussage nur die „Pornoversion“ kennt – und adaptiert es in ein Voll-fett-krass-SMS-Deutsch. Das ist zwar für ein paar Lacher gut, verunglimpft jedoch den Klassiker auf plumpe Weise und liefert dem Kinopublikum eine bequeme Ausrede, sich mit als schwierig geltenden Texten gar nicht erst befassen zu müssen. Mit Schillers Räubern gehen Lehrer und Schüler im Unterricht dann gezwungenermaßen etwas pfleglicher um, und anders als Räuber Moor hat Räuber Müller eine echte Chance zur „Resozialisierung“. Denn die resolute Schuldirektorin Gudrun Gerster (Katja Riemann) lässt bei ihren Versuchen, das Schul- und Bildungschaos in ihrem Laden zu managen, gelegentlich Fünfe gerade sein. 

So verläuft denn doch wieder alles in moralisch ausreichend korrekten Bahnen, erhält Ganove Zeki gewissermaßen ein Ticket für die bürgerliche Gesellschaft. Und damit ist Fack ju Göhte auf einmal überraschend nahe dran an den verstaubten Paukerfilmen von anno dazumal. Sicher, es ist „nur“ eine Komödie, aber auch diese dramatische Form spiegelt und transportiert oft unter ihrer komischen Oberfläche weitverbreitete Stimmungen und Ansichten. In dieser Hinsicht bleibt Fack ju Göhte jederzeit mainstreamkompatibel, und dafür ist der Film, von einigen Missgriffen abgesehen, erstaunlich unterhaltsam und witzig geworden. Wer sich allerdings unterhalb der Ebene von subversiv-anarchischer Komik und anderen Spielarten der sophisticated comedy nicht amüsieren kann, wird hier kaum auf seine Kosten kommen. 

(05.11.2013, kultur-in-bonn.de) 
 
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Das kleine Gespenst

Gemütlicher Grusel

Die Verfilmung von Ottfried Preußlers „Das kleine Gespenst“ ist sehr kindgerecht ausgefallen – und somit für Erwachsene ohne Nachwuchs, Neffen oder Nichten weniger geeignet. 


Auf Burg Eulenstein lebt ein kleines, weißes Gespenst, das immer zur mitternächtlichen Geisterstunde erwacht und höchst nachtaktiv durch das Gemäuer fegt. Sein größter Wunsch ist es jedoch, das Tageslicht sehen zu können. Ein paar verstellte Uhren später ist es soweit: Das Gespenst beginnt seinen Dienst nun pünktlich zur Mittagszeit in der Kanalisation des Burgstädtchens Eulenberg. Doch aus seiner anfänglichen Freude wird bald Kummer und Ärger. Denn es hat sich durch die Sonnenstrahlen nicht nur pechschwarz verfärbt, sondern verursacht auch jede Menge Aufruhr in der Bevölkerung. In der lokalen Presse macht es gar als „der schwarze Unbekannte“ Furore – was nebenbei für einen Gag sorgt, der auch bei Erwachsenen Wirkung zeigt, wenn der dunkelhäutige, mit bayrischem Akzent sprechende Briefträger und der Bürgermeister aufeinandertreffen. 

Währenddessen gerät Apothekersohn Karl fälschlicherweise in Verdacht, eine wertvolle Uhr aus dem Burgmuseum gestohlen zu haben. Tatsächlich hat Uhrmachermeister Zifferle sie zur Reparatur mitgenommen. Und als ob Karl dadurch nicht schon genug Probleme hätte, glaubt ihm zunächst auch niemand, dass er ein Gespenst auf der Burg gesehen hat. Nur seine Schulfreunde Marie und Hannes halten zu ihm. Wie in solchen märchenhaften Geschichten üblich, freunden sich Kinder und Gespenst an und helfen sich gegenseitig. Denn inzwischen weiß Schwarz Bescheid: Das kleine Gespenst hat von seiner Tageslichtexistenz genug und möchte ins Nachtleben der Burg zurückkehren, um auch wieder mit seinem besten Freund, dem weisen Uhu Herr Schuhu, plaudern zu können. 

Am Ende haben Kinder wie Gespenst etwas gelernt und pädagogisch wertvolle Erfahrungen gesammelt. Zuschauer im Alter der Kinderdarsteller wird der Film wohl ansprechen, zumal letztere ihre Sache gut machen. Die Erwachsenenrollen hingegen lassen den Schauspielern kaum Raum, um Duftmarken setzen zu können. Dem gekonnt computeranimierten kleinen Gespenst leiht im Übrigen die in zahlreichen Hörbüchern erprobte Anna Thalbach ihre Stimme, was sich wie nicht anders zu erwarten als gute Wahl erweist. Und dass, wenn Karl in einer „Action“-Szene an den Zeigern der Kirchturmuhr hängt, der erwachsene Betrachter automatisch an Hugo Cabret und Harold Lloyd erinnert wird, dürfte der Primarstufen-Zielgruppe relativ egal sein. 

Das kleine Gespenst hat diese gemütliche, vorwiegend heitere Atmosphäre, die man aus den im Nachmittagsprogramm laufenden Märchenverfilmungen des Fernsehens kennt. Spätvorstellungen zur Geisterstunde brauchen die Kinos da gar nicht erst anzusetzen. 

(05.11.2013, kultur-in-bonn.de)

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Inside WikiLeaks – Die fünfte Gewalt (The Fifth Estate)

Communication Breakdown 

„Inside WikiLeaks – Die fünfte Gewalt“, die Verfilmung der Geschichte um die Enthüllungs-Plattform und ihre beiden Protagonisten Julian Assange und Daniel Domscheit-Berg, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. 


Zwar hat Julian Assange (Benedict Cumberbatch) das letzte Wort in Inside WikiLeaks – Die fünfte Gewalt(The Fifth Estate), doch dürfte zu diesem Zeitpunkt das Urteil der Zuschauer über ihn schon gefallen sein. Als manipulativer Egomane, Trickser und Selbstinszenierer, im Umgang divenhaft bis schroff-verletzend, ist er in den zuvor vergangenen knapp zwei Stunden gezeichnet worden. Nicht einmal die küchenpsychologische Erklärung, wonach alles Tun und Lassen Assanges inklusive Graufärbung der Haare in erster Linie auf ein unbewältigtes Kindheits- und Jugendtrauma – die dreijährige Zwangsmitgliedschaft in einer Sekte – zurückzuführen sei, wird ausgelassen. 

Man muss Regisseur Bill Condon und seinem Drehbuchautor Josh Singer lassen, dass sie dabei zunächst recht geschickt vorgehen und dieses für Assange abträgliche Charakterbild sukzessive und unterschwellig entwickeln, unterstützt von Benedict Cumberbatchs bewährten mimischen Fähigkeiten. Der Film konzentriert sich auf die Zeit von Assanges Zusammenarbeit mit Daniel Domscheit-Berg (Daniel Brühl) bis zu jener aufsehenerregenden Enthüllung vom 28. November 2010, als Guardian, New York Times und Spiegel zeitgleich anfingen, hunderttausende geleakte US-amerikanische Regierungsdokumente publik zu machen. Danach zerbrach die Partnerschaft der beiden Wikileaks-Aushängeschilder aufgrund von heftigen Auseinandersetzungen über die richtige Veröffentlichungspolitik und wachsenden persönlichen Animositäten. Seitdem ist die Submission-Plattform für Whistleblower außer Betrieb gesetzt, sodass potenzielle Informanten Wikileaks nicht mehr über gesicherte Wege Daten zukommen lassen können. Gründer Assange hält sich noch immer in London in der Botschaft Ecuadors auf, das ihm Asyl gewährte. 

Von Partnerschaft zu Konfrontation
Die Wikileaks-Geschichte ist halbwegs spannend als Thriller-Drama nach Art von Aufstieg und Fall inszeniert, mit wechselnden internationalen Schauplätzen, konspirativer Atmosphäre und ein paar Nebensträngen in der Handlung, für die sich ein namhaftes Ensemble gewinnen ließ, so unter anderen Laura Linney und Stanley Tucci als US-amerikanische Regierungsmitarbeiter, die um die Sicherheit ihrer Quellen im Nahen Osten fürchten. Derweil spielt der eigentliche, zentrale Konflikt des Films auf einer persönlichen Ebene: Für Domscheit-Berg gilt es, sich aus seiner anfänglichen Rolle des Bewunderers und Zauberlehrlings zu befreien. 

Es ist nicht zu übersehen, dass neben der von den Journalisten David Leigh und Luke Harding geschriebenen Abhandlung WikiLeaks Daniel Domscheit-Bergs Buch Inside WikiLeaks – Meine Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt die Grundlage für das Skript bildete. Spätestens nach Halbzeit des Films wird klar, welches Bild von wem die Zuschauer hier mitnehmen sollen. Im Grunde ist die Strategie von Inside WikiLeaks – Die fünfte Gewalt ebenso manipulativ wie die Person Assange, so wie er hier präsentiert wird. 

Thema vernachlässigt: Worum geht es bei Wikileaks?
Mit zunehmender Länge verfestigt sich der Eindruck, dass die Schilderung der welthistorisch nicht ganz unbedeutenden Ereignisse der persönlichen Abrechnung untergeordnet bleibt. Dabei gerät bisweilen aus dem Blick, wofür Wikileaks stand: Datenschutz (Privacy) für die Nutzer zu erreichen, Transparenz über kriminelle und korrupte Handlungen in Politik, Wirtschaft und Finanzwelt herzustellen und die Whistleblower/Informanten zu schützen. All diese Dinge scheinen zu wichtig, um sie den inkompatiblen Egos zweier Menschen zu überlassen, die nicht mehr miteinander können und sich nur noch gegenseitig mit Vorwürfen und Beschimpfungen überziehen. 

So bewegt sich Inside WikiLeaks – Die fünfte Gewalt zwar unterhalb der Schwelle zum Ärgernis, bleibt aber letztlich zwiespältig und unbefriedigend. Doch wenn die Idee hinter Wikileaks so gut ist, wie man immer noch annehmen darf, wird sie es verkraften, wenn ihre Erfinder nicht mit von der Partie sind und dafür andere weitermachen. Edward Snowden hat schon einmal einen Anfang gewagt. Es bleibt zu wünschen, dass die Verfilmung seiner Geschichte besser glückt. 

(30.10.2013, kultur-in-bonn.de)

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Alphabet

Formatierte Menschen

Kaum jemand wird doof geboren, aber fast alle werden doof gemacht. Wie es dazu kommen konnte, zeigt Erwin Wagenhofers vorzüglicher Dokumentarfilm „Alphabet“. Heranwachsende werden um Kindheit und Jugend gebracht, und das Ergebnis einer seit Jahrzehnten verfehlten Bildungspolitik sind gesichtslose Eliten-Klone. 


Spätestens mit den PISA-Bildungsstudien und den Erfolgen chinesischer Kinder und Jugendlicher in allen Fächern hat ein weltweiter Bildungswettbewerb eingesetzt. Folgt man den Beispielen und Expertenkommentaren, die Erwin Wagenhofer (We Feed the World, Let‘s Make Money) in seinem Dokumentarfilm Alphabet versammelt hat, ist er jedoch vollkommen fehlgeleitet. Zu beobachten ist dies vor allem dort, wo die Welle ihren Ursprung genommen hat und der Film bei seiner Beweisführung auch einsteigt: In China beginnen systematischer Drill und Abrichtung von Menschen schon im (Klein-)Kindesalter. Daraus ist im Lande inzwischen ein riesiger Markt für Nachhilfe und Weiterbildung entstanden, mit Unternehmen, die an der US-Börse notiert sind. Chinesische Kinder und Jugendliche haben keine Freizeit mehr und beneiden ihre Eltern darum, dass diese am Wochenende ausschlafen können. „Unsere Kinder gewinnen am Start und verlieren im Ziel“, resümiert der chinesische Bildungsexperte Yang Dongping. War es wirklich das, was die OECD mit ihren weltweiten PISA-Vergleichen bezwecken wollte? 

Hierzulande sieht es inzwischen nicht viel besser aus, wie ein 2011 bei Zeit Online erschienener offener Brief der seinerzeit 15-jährigen Hamburger Gymnasiastin (und sehr guten Schülerin) Yakamoz Karakurt zeigt, der die durch Turbo-Abitur und Bildungsstress verursachte Misere auf den Punkt bringt. Wagenhofer lässt sie den Brief, verteilt auf mehrere Sequenzen, in voller Länge vorlesen. Die ersten Sätze lauten: „Ich gehe in die 9. Klasse eines Hamburger Gymnasiums und habe ein Problem: Ich habe kein Leben mehr. Mit Leben meine ich Hobbys, Freizeit und Spaß.“

Was dabei am Ende herauskommt, sind „Maschinenmenschen“, wie es der Neurobiologe und als Hirnforscher bekannt gewordene Gerald Hüther formuliert. Er spannt in Alphabet den weiten Bogen einer seit langem verfehlten Bildungspolitik, die in einer zunehmend normierten, formatierten Gesellschaft nur noch ab- und zugerichtete Menschen hervorbringt, die vor allem eines sollen: funktionieren. Um Begabung, Kreativität und selbstständiges Denken geht es dabei nicht, obwohl all dies in jedem Menschen steckt. Laut Studien kommen 98 Prozent aller Kinder tatsächlich als kleine Genies zur Welt und gelten bis zum Alter von drei als hochbegabt. Am Ende der Schulzeit sind es noch 2 Prozent.

Maskulin-militärische Marktlogik
Thomas Sattelberger, ehemaliger Personalvorstand der Deutschen Telekom, betrachtet das Problem aus der Erfahrung von 40 Jahren Berufsleben als Manager und Personalchef, in dessen Verlauf er mit wachsendem Unbehagen mehr als eine Generation von Management-Klonen erlebt hat – in Sattelbergers eigenen, bereits Mitte der Neunziger Jahre in einem Zeitungsbeitrag benutzten Worten: „Bubis und Barbie-Puppen im Business-Look“. Er beklagt, dass die Fülle an unterschiedlichen Begabungen, über die Menschen erwiesenermaßen verfügen, immer nur im Sinne von Unternehmen dressiert würden und dadurch letzten Endes verkümmerten. Es herrsche eine maskulin-militärische Marktlogik, in der ausschließlich in Kategorien von Sieg und Niederlage gedacht würde. Sattelberger hält die Strukturen für so verhärtet, dass nur noch eine „Revolution von oben“ sie aufbrechen könnte, wenn man keine Revolution von unten wolle. Doch wie soll das gehen? Es würde denjenigen Macht und Einfluss entziehen, die vom bisherigen Bildungs- und Elitenrekrutrierungssystem profitiert haben – und das Nachrücken von Klonen ihrer selbst, die alles beim Alten lassen, meist durchaus gewollt und begünstigt haben. Kaum anzunehmen, dass Unternehmen und Führungseliten freiwillig bereit wären, auf diese Macht zu verzichten. 

Und wenn man dem Führungskräftenachwuchs zuschaut und vor allem zuhört, den Erwin Wagenhofer hier präsentiert, sollte man sich diesbezüglich erst recht keinen Illusionen hingeben. Die Ausschnitte aus McKinsey-Nachwuchsseminaren und dem Wettbewerb „CEO of the Future“ wirken bisweilen geradezu grotesk. Vor der Ära von neoliberaler Gleichschaltung und PISA wäre als Satire durchgegangen, was die Nachwuchs-„Eliten“ da stellenweise von sich geben. Kostprobe gefällig: „Geld zu verdienen wird in 2030 noch wichtiger sein, als es jetzt schon ist.“ 

Petits Picassos
Immerhin veranschaulicht der Film auch, wie ein Leben abseits des Karrieredenkens aussehen und in Kindesjahren beginnen könnte. Kinder Kinder sein zu lassen, sie spielerisch bei Malen, Musik und Bewegung die Welt und sich selbst erfahren zu lassen, dem haben sich der Pädagoge Arno Stern und seine Frau Michèle seit über 60 Jahren verschrieben, als „Diener der Malbildung“ an ihrem „Malort“ in Paris. Und mit Sohn André gezeigt, dass und wie es gelingen kann, ein Kind ohne Schulbesuch aufwachsen und lernen zu lassen. 

Doch selbst bei den Kleinsten muss die „Marktlogik“ inzwischen wohl Spuren hinterlassen haben. Stern hat die Kinder immer malen lassen, was sie wollten, seit er 1946 mit seinem Malort angefangen hat. Ungefähr seit den 80er-Jahren beobachtet er, dass die kleinen Malerinnen und Maler statt der üblichen kindlichen, gegenständlichen Motive wie Bäume, Blumen, Tiere, Sterne, Häuser und Menschen immer häufiger abstrakte Linien und Figuren zu Papier bringen – anscheinend befördert von ehrgeizigen Eltern, die ihren Nachwuchs frühzeitig auf eine potenziell gewinnträchtige Form von Kunst dressieren wollen. 

Sein(e) Talent(e) erkennen und etwas daraus machen
Alphabet legt nahe, dass der Satz stimmt, den unlängst noch einmal zwei junge Straßenmusiker im Dokumentarfilm Unplugged Leben: Guaia Guaia bekräftigt und vorgelebt hatten: Man muss tun, was man liebt. Nur darin sind Menschen wirklich gut (und fühlen sie sich glücklich), während unbrauchbares Wissen bei der Entwicklung von Hirn und Mensch mehr Schaden anrichtet. Setzte sich diese Erkenntnis durch, könnte es auch wieder mehr Doktoranden geben, bei denen Dissertieren und Sich-interessieren miteinander in Einklang stehen, und es würden weniger wissenschaftlich fragwürdige Doktorarbeiten entstehen, die abgesehen von ihren auf Förderung der eigenen Karrieren bedachten Verfassern kein Mensch braucht. Eine unbedingt sinnvolle universitäre Maßnahme war es dagegen, den in Alphabet ebenfalls vorgestellten Pablo Pineda zu fördern: Der Spanier schaffte als erster Europäer mit Down-Syndrom einen Hochschulabschluss. Pineda ist ein Mann der erfreulich offenen Worte, arbeitet heute als Lehrer und wurde für seine Leistung in dem autobiografisch gefärbten Spielfilm Yó, también (Me Too – Wer will schon normal sein?) beim Filmfestival in San Sebastian 2009 als bester Schauspieler ausgezeichnet. 

Und für alle Zuschauer hierzulande, denen immer noch nicht klar ist, was Hartz IV für die Betroffenen bedeutet, erklärt Patrick Kuhn aus Dortmund es noch einmal, der trotz gutem Hauptschulabschluss keine Chance auf einen Job hatte, von dem er leben konnte. Hier macht Regisseur Erwin Wagenhofer allerdings ein Fass zu viel auf, denn als Nebenaspekt geht das Schicksal der abgehängten Arbeitslosen und die Tatsache, dass die offiziellen Arbeitslosenzahlen in diesem Land eine Fiktion sind, innerhalb des Hauptthemas der verfehlten Bildungspolitik eher unter. Dass hier Potenziale und Begabungen brachliegen beziehungsweise gar nicht erst erkannt werden, und Kinder aus „Hartz IV-Familien“ keine andere Zukunftsperspektive außer „Hartzer“ für sich sehen, ist zudem Skandal genug für eine eigene Dokumentation.

Dessen ungeachtet hat Wagenhofer mit Alphabet einen vorzüglichen Dokumentarfilm vorgelegt. Es gibt da nur ein Problem: Er dürfte bei denen, die ihn sehen, offene Türen einrennen, während all diejenigen, die ihn sich einmal anschauen sollten – also vor allem (Bildungs)-Politiker, Unternehmenschefs und ihr „Führungsnachwuchs“, die McKinsey-Mutanten und Wannabe-CEOs – , gar nicht dazu kommen werden, weil sie in ihrer nicht vorhandenen Freizeit lieber weitere überflüssige Powerpoint-Präsentationen erstellen. 

(29.10.2013, kultur-in-bonn.de)

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Exit Marrakech

Vaterschaftstest

Ein schwieriges Vater-Sohn-Verhältnis steht im Mittelpunkt von Caroline Links „Exit Marrakech“. Zwei gute Hauptdarsteller und exotische Schauplätze tragen die im Kern recht konventionelle Geschichte.


Star-Regisseur Heinrich (Ulrich Tukur) lebt nur für seine Theaterprojekte und hat darüber das Aufwachsen von Sohn Ben (Samuel Schneider) bei seiner geschiedenen Frau Lea (Marie-Lou Sellem) verpasst. Nun aber kommt Internatsschüler Ben in den Ferien – und zur Feier des 17. Geburtstags – zu seinem alten Herrn nach Marrakesch, wo dieser an einem Theaterfestival teilnimmt. In Marokko soll er auch die vierjährige Halbschwester aus der neuen Ehe seines Vaters kennenlernen. Nicht nur dagegen sträubt sich Ben. Sein Verhalten bleibt reserviert bis abweisend. Er macht Heinrich klar, dass er ihn nicht sonderlich leiden kann und ihm die langjährige Vernachlässigung seiner Vaterpflichten übel nimmt. 

Es gibt also einiges an Fremdheit und Animositäten zu überbrücken, aber im Laufe der Zeit auch Gemeinsamkeiten zu entdecken, wie die künstlerisch-literarische Ader und eine gewisse Aufsässigkeit. In Kurzgeschichten hat Ben offensichtlich seine komplizierte familiäre Situation verarbeitet, denn Heinrich erkennt sich darin als arroganter Schnösel mit „Harem“ wieder. Also bietet er dem Sohn an, ihm auch einmal seine Sicht der Dinge darzustellen. 

Eine gemeinsame Gestaltung des Marokko-Aufenthalts erweist sich jedoch zunächst als schwierig: Heinrich will lieber weiter am Hotel-Pool Paul Bowles Himmel über der Wüste lesen, Ben Stadt und Land auf eigene Faust entdecken. So schwankt das Verhältnis zwischen vorsichtiger Annäherung und Abstoßung. Schließlich macht sich Ben mit dem marokkanischen Mädchen Karima, das er in einer Bar kennengelernt hat, auf in die Wüste und die Berge zu deren Heimatdorf, sodass Heinrich ihm nolens volens hinterherfahren muss. Hier kommt es dann nicht nur zum unvermeidlichen culture clash, sondern auch zu den dramatischen Zuspitzungen, die letztlich bewirken, dass Vater und Sohn ihr Verhältnis klären. 

Ulrich Tukur und Samuel Schneider geben ein glaubwürdiges Gespann ab, was nicht zuletzt auf ein tragfähiges Drehbuch zurückzuführen ist, das ihnen selten gekünstelt wirkende Dialoge abverlangt. In der zweiten Hälfte von Exit Marrakech dominieren ohnehin die Bilder das Geschehen, sorgen ausladende Wüstenpanoramen für Kino-Schauwerte. Die Aufnahmen vermitteln etwas von der speziellen Atmosphäre, die dort herrschen muss, und so lässt sich als Zuschauer beispielsweise auch die ausgelassene Freude nachvollziehen, die Ben beim Wüstenskifahren empfindet. Die Dramaturgie kommt weitgehend ohne Zuckerguss aus, nutzt indes die Diabetes einer der Figuren, um eine kritische Situation und Spannung zu erzeugen. Dass die Geschichte im Grunde und am Ende in absehbaren Bahnen verläuft und kaum ausgefallene Wendungen nimmt, fällt angesichts des exotischen Settings nicht weiter unangenehm auf. 

(22.10.2013, kultur-in-bonn.de)

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Alles eine Frage der Zeit (About Time)

Zeitspiel

„Alles eine Frage der Zeit“ ist eine britische Zeitreise-Komödie mit tragischen Momenten, die den Einfluss von Filmen wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ nicht verleugnen kann. Die guten Schauspieler helfen über den einen oder anderen Déjà-vu-Effekt hinweg. 


Tim Lake (Domhnall Gleeson) lebt zusammen mit seiner ganz normal britisch-verschrobenen Familie an der schönen Küste von Cornwall. An seinem 21. Geburtstag verrät ihm sein Vater (Bill Nighy) ein Geheimnis: Alle männlichen Mitglieder der Familie verfügen über die Fähigkeit, innerhalb ihrer bisherigen Lebensspanne in der Zeit zurückzureisen – nicht vor die eigene Geburt und nicht in die Zukunft, aber an jeden beliebigen Tag des eigenen Lebens zu jeder beliebigen Uhrzeit. So hat Tim also die Möglichkeit, die wohl jeder in seinem Leben schon mindestens einmal gern gehabt hätte: eine für ihn selbst peinliche oder unvorteilhafte Situation im wahrsten Sinne des Wortes ungeschehen zu machen und in ihr Gegenteil zu verkehren. 

Wenig überraschend versucht Tim seine Fähigkeit zunächst vor allem auszunutzen, um beim anderen Geschlecht an- und weiterzukommen. Bei Feriengast Charlotte (Margot Robbie) kann er trotz einigem zeitlichen Hin und Her jedoch nicht landen. Nachdem er nach London gezogen ist, um dort als Anwalt zu arbeiten, funkt es dann endlich, als Tim in einem Blind-Date-Restaurant Mary (Rachel McAdams) kennenlernt. Nicht ganz neu, aber gut ausgedacht und umgesetzt von Regie und Drehbuch: Der Zuschauer verfolgt die Gespräche von Tim und Mary (sowie von Tims Freund Jay und Marys Freundin Joanna, die sich praktischerweise auch gleich verpaaren) vor einer nahezu schwarzen Leinwand und ist genauso gespannt wie Tim, wenn nach Ende des Dunkelkammer-Dinners zunächst Joanna und dann Mary die Treppe heraufkommen und im Straßenlicht erstmals zu sehen sind. 

Verrückt nach Mary
Dumm nur, dass Tim Marys Telefonnummer gleich wieder verliert. Denn nachdem er am gleichen Abend noch mal schnell in die Zeit zurückgereist ist, um die Premiere eines Theaterstücks zu retten, das sein mit seinem Vater „befreundeter“ Vermieter Harry geschrieben hat, ist ihre Nummer aus seinem Handy gelöscht – da Tim im Theater war, haben die beiden sich nie getroffen; so sind die Regeln von Parallelwelt-Geschichten. Natürlich muss Tim Mary nun unbedingt wiederfinden, und das geht nicht ohne Umwege und Rückschläge vonstatten. Als er ihr dann tatsächlich endlich wiederbegegnet, springt der Funke nicht gleich über wie beim Blind Date. So lernen sie sich dann also gleich mehrfach kennen, was Raum für einige witzige Dialoge und Szenen schafft. Zu allem Überfluss hat Mary in der Zwischenzeit schon jemand anderen kennengelernt, den Tim mithilfe einer weiteren Zeitreise ausschalten muss. Und natürlich schlägt der Film auch aus den (wiederholten) ersten Intimitäten zwischen Tim und Mary komisches Kapital. 

Alles eine Frage der Zeit (About Time) setzt häufig auf eine Art von Situationskomik, die an den Bauplan von Bill Murrays Murmeltier-Tag erinnert (Und täglich grüßt das Murmeltier / Groundhog Day). Der bestand darin, eine Situation, die man gerade zuvor noch vermasselt hat, mit ebendiesem neu erworbenen „Vorwissen“ zu retten. Abgesehen davon gelingt es Buch und Regie auch streckenweise, bekannten szenischen Konstellationen überraschende Pointen abzugewinnen. So etwa, als Tim Mary seinen Heiratsantrag macht und sie sich erfreut darüber zeigt, dass er dafür keinen melodramatischen Auftritt vor Leuten gewählt hat – was, wie der Zuschauer zum Abschluss der Szene erfahren wird, nicht so ganz zutrifft. 

Zwischen komisch und berührend
Die aus Komödien bekannten Charaktertypen oder stock figures sind mit wenigen Strichen gut gezeichnet und passend besetzt: der stets perfekt gekleidete, dusselige aber gutmütige Onkel Desmond (Richard Cordery), die ebenso taffe wie auf ihre Art herzliche Mutter (Lindsay Duncan), die lebhafte (das im Wörterbuch gefundene und mir bis dahin unbekannte Synonym „springlebendig“ träfe es auch), aber unausgeglichene jüngere Schwester „Kit Kat“ (Lydia Wilson), und der sarkastische, misanthropische Theaterautor Harry, der eine dankbare Rolle mit einigen schönen punchlines für Tom Hollander hergibt. Bill Nighy (G8 auf Wolke 7 (The Girl in the Café), Mord auf Seite Eins (State of Play) etc.) ist großartig wie fast immer, und Rachel McAdams macht überzeugend klar, warum Tim Mary und keine andere will. Auch Domhnall Gleeson schlägt sich gut, ohne mit McAdams und Nighy ganz mithalten zu können. 

Wie der Film es in seinen besten komischen Szenen schafft, zu amüsieren, so gelingt es ihm in seinen traurigen Momenten, zu berühren. Einer der Sympathieträger muss den Weg alles Irdischen gehen. Doch Tim kann den endgültigen Abschied von der ihm nahestehenden Person durch eine weitere Reise in die Vergangenheit noch einmal hinauszögern. Dieses Mal geht es nicht darum, die Vergangenheit zu reparieren, sondern dem ebenso natürlichen wie illusionären Impuls zu folgen, alles Erinnerungswürdige im eigenen Leben festzuhalten und auf Dauer zu stellen – oder es zumindest noch ein letztes Mal zu erleben beziehungsweise zu wiederholen. Augenblick, verweile doch, du bist so schön …

Gegen Ende seiner rund zwei Stunden zieht sich Alles eine Frage der Zeit indes in die Länge. Leider verzichtet der Film am Schluss auch nicht darauf, moralische Fingerzeige zu geben und dem gelegentlich aus dem Off erzählenden Tim noch Botschaften an das Publikum für das bewusste Leben und die Wertschätzung der „little things“ des Alltags in den Mund zu legen. Das hätte es nicht gebraucht. Die eine oder andere Kürzung wäre hingegen nicht schlecht gewesen. 

(16.10.2013, kultur-in-bonn.de)

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Der Schaum der Tage (L'Écume des jours)

Bastelarbeit aus einer Traumfabrik

Michel Gondry hat Boris Vians surreale, tragikomische Liebesfantasie „Der Schaum der Tage“ mithilfe von Ausstattung, Kostümbild und Grafik in eine streckenweise beeindruckende Bildwelt überführt.


Solche Filme macht heutzutage in Europa kaum jemand mehr – außer eben Michel Gondry (La Science des rêves, Eternal Sunshine of the Spotless Mind) und vielleicht noch Jean-Pierre Jeunet (Micmacs à tire-larigot, Delicatessen). Der Schaum der Tage (L’Écume des jours) sieht aus, als ob jede Sekunde Monsieur Hulot um die Ecke kommen oder man Zazie in der Metro treffen könnte. Gondry siedelt die Geschichte von Colin (Romain Duris) und Chloé (Audrey Tautou) ziemlich genau in jener Fantasiewelt an, die Boris Vian 1947 in seinem inzwischen zu den modernen Klassikern zählenden Roman kreiert hatte. Man schaut ein imaginäres Paris der Nachkriegszeit mit Menschen, Mäusen und Maschinen, die nicht von dieser Welt sind und eine Menge retrofuturistischen Charme versprühen.

Gondry und seine Fachleute haben sich einiges einfallen lassen, um die verrückten Apparaturen und technischen Spielereien, die Vian seinerzeit ersonnen hat, in Filmsets umzusetzen. Besonders beeindruckend gelungen ist ihnen das Pianococktail, das beim Anschlag je nach Moll- oder Dur-Akkord eher schwermütig oder fröhlich stimmende Drinks mixt. Ein Fest für die Filmausstatter wie für die Sinne der Zuschauers, die sich in Synästhesie üben und Harmonien schmecken beziehungsweise riechen können. (Nein, ohne Rubbelstreifen, aus denen Gerüche entweichen. Wir sind hier nicht beim Trashfilm.) 

Kreative Inneneinrichtung
Die Szenerien, vor allem die Einrichtung von Colins Wohnung, zeugen von kreativer Fantasie und sorgfältiger Detailarbeit. Es gab im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun für Ausstatter und Kostümbildner. Doch auch die Digitalspezialisten haben ihre Auftritte, etwa wenn es um die Längung und Verrenkung von Gliedmaßen beim „Biglemoi“-Tanz geht. Die betriebsame, sprechende Hausmaus, die zweckentfremdete oder zu Allround-Maschinen umgemodelte Kücheneinrichtung Colins, in der Koch Nicolas (Omar Sy) den Aal für das Fischgericht aus der Wasserleitung holt – es ist alles so, wie man es aus der lange zurückliegenden Lektüre des Romans in Erinnerung hat. Und natürlich tritt auch Filosof „Jean-Sol Partre“ in seinem Stammcafé in Saint-Germain-des-Prés zur Lesung an, nur um sich und seine Werke verhohnepipeln zu lassen. Nebenbei erinnert ein Spruchband im Publikum daran, dass der Begriff essenceneben seiner philosophischen auch noch eine ganz triviale Bedeutung hat. 

Mit derlei Nebensächlichkeiten halten sich Colin und Chloé nicht auf, sie schweben, bisweilen im Wortsinne, über dem Alltag in einer farbigen, surrealen Traumwelt. Die freilich nicht lange hält und mit Chloés fortschreitender Krankheit regelrecht verdorrt und verwittert. Eine Seerose wächst in ihrer Lunge, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Wie so oft liegen Schönes und Schreckliches liegen nah beieinander, erweist sich Glück als vergänglich. 

Nachlassende Sogkraft 
Die Glücksphasen im Schaum der Tage sind von überschäumender Heiterkeit und manchmal arg entrückt strahlenden Gesichtern geprägt. Das ändert sich, wenn die Geschichte kippt und ihre Wendung ins Tragische nimmt. Graue, matte Farben und verdüsterte Mienen bestimmen nun immer mehr die Szenerien, am Ende ist alles schwarzweiß. Colins bester Freund Chick (Gad Elmaleh), ein Jünger des großen Meisters Partre, steckt sein ganzes Geld in Partre-Bücher, Tonbandmitschnitte und sonstige Devotionalien und verliert darüber seine Freundin Alise (Aïssa Maïga). Nachdem Colin sein Vermögen für Chloés Behandlung ausgegeben hat, muss er sich eine Arbeit suchen und heuert in einer seltsamen Fabrik an, die Protonenwaffen herstellt, welche auf menschliche Wärme angewiesen sind. 

Doch die Starbesetzung mit Audrey Tautou, Romain Duris und Omar Sy als redegewandtem Koch, Anwalt, Tanzlehrer und Mann für alle Fälle kommt gegen Michel Gondrys handgemachte Bilderwelten nicht so recht zum Zuge. Nach der furiosen ersten Filmhälfte mit ihren originellen technischen Ideen – neben den schon erwähnten Apparaten sind auch die Fließband-Schreibmaschinen und eine prähistorische Form der Computerauskunft sehr ansehnlich umgesetzt – lässt das Tempo merklich nach. Die Kunstwelt verliert peu à peu ihren Glanz und ihren Zauber, und damit geht dem Film auch seine anfängliche Sogkraft zusehends verloren. Wobei anzumerken bleibt, dass Der Schaum der Tage außerhalb Frankreichs in einer um rund eine halbe Stunde gekürzten Fassung in die Kinos kommt, die auch Gegenstand dieser Rezension ist – und trotz Kürzung zum Ende hin bereits unübersehbare Längen aufweist. 

(02.10.2013, kultur-in-bonn.de)

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2 Guns

Zwei glorreiche Halunken

„2 Guns“ lebt von seiner locker-lässig aufspielenden Star-Paarung Denzel Washington und Mark Wahlberg. Gute Böse gibt’s auch, so dass man über die Untiefen und Ungereimtheiten dieses mit Comedy-Elementen angereicherten Action-Thrillers großzügig hinwegsehen kann. 


Verratene Verräter und betrogene Betrüger, wo man hinschaut: In 2 Guns hat fast jeder Dreck am Stecken, inklusive der Soldaten der US Navy, bei denen offensichtlich nur die Uniformen blütenweiß sind. Bei der Drogenfahndung DEA arbeitet jemand auf eigene Rechnung und möchte etwas vom Dealer-Kuchen abhaben. Die Krone setzt dem Ganzen die CIA auf, die als komplett korrupte Selbstbereicherungsbehörde daherkommt, mit einem sadistischen und von Bill Paxton hinreichend widerwärtig gegebenen Agenten an der Spitze. Ihm kaum nach steht Edward James Olmos als Drogenboss Papi Greco. 

Bad guys everywhere – man verrät nicht zu viel, wenn man offenbart, dass Denzel Washington und Mark Wahlberg die good guys in diesem Spiel sind, auch wenn sie zunächst etwas ganz anderes voneinander annehmen. In diesem Film kann keiner dem anderen vertrauen, ebenso wenig wie der Zuschauer dem Drehbuch. Denn das leistet sich einige haarsträubende Sprünge in der Handlungsentwicklung und -beschleunigung. Plausibilität sollte man hier nicht unbedingt erwarten. 

Partners in crime
Bobby Trench (Denzel Washington) und Michael „Stig“ Stigman (Mark Wahlberg) machen Drogengeschäfte mit dem mexikanischen Drogenboss Papi Greco. Eigentlich wollen sie ihn aber überführen und verhaften – genauer gesagt, will jeder von den beiden Papi Greco hochnehmen, ohne zu wissen, dass der andere das auch vorhat. Klingt kompliziert? Nun, tatsächlich ist Bobby als Drogenfahnder für die DEA und Stig für die US Navy im Undercover-Einsatz, doch keiner kennt die wahre Identität des anderen. Nachdem in den letzten Jahren so einiges über Pannen und Koordinationsmängel in der „Zusammenarbeit“ zwischen Polizei-, Geheim- und Sicherheitsdiensten publik geworden ist, gehört dies sogar noch zu den glaubwürdigeren Prämissen des Films. 

Charaktere und Handlung von 2 Guns basieren auf einem gleichnamigen Comicroman, und in diesem Genre pflegt man meist etwas großzügiger mit Logik und Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Andere, unübersehbare Bezugspunkte liefern die Filme von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez. Insbesondere Desperado kommt einem nicht nur wegen seiner mexikanischen Schauplätze in den Sinn; auch dort versammeln sich alle Beteiligten zum Showdown in der Wüstenfestung des Drogenbosses. 

Buddy, Buddy
Doch der Reihe nach. Als ein Drogendeal fehlschlägt, beschließen Bobby und Stig, die Bank auszurauben, in der Papi Greco sein Geld verwahrt. Dummerweise finden sie in den Tresoren nicht die erwarteten 3, sondern fast 43 Millionen US-Dollar. Denn die Bank dient, wie sich bald herausstellt, als Geldwaschanlage für die CIA, die dort ihre Schweigegeld-Anteile an Drogenhandel und sonstigen kriminellen Geschäften jeder Art bunkert. Damit geht das Jagdspiel über mehrere Banden und Ecken erst richtig los. Und als Bobby und Stig im Bilde sind über ihre jeweiligen Identitäten, heißt das noch lange nicht, dass sie sich nun auch gegenseitig trauen würden. Später wird sich dann freilich schon die Frage der Ehre stellen: Was schuldet ein Buddy dem anderen? 

Washington und Wahlberg tragen diesen Film und lenken mit ihrem lässigen, unangestrengten Zusammenspiel von den zahlreichen Ungereimtheiten der Story ab. Sehr gut gelungen sind zum Beispiel ihre Schnellsprechdialoge, die so gar nicht geschauspielert wirken. Alles in allem können die beiden locker mit einem Duo wie Danny Glover und Mel Gibson (Lethal Weapon) mithalten. 

Wären die Schauspieler hingegen vom Kaliber einiger der Hauptdarsteller, die Oliver Kalkofe und Peter Rütten derzeit in ihrer ebenso verdienstvollen wie vergnüglichen Reihe „Die schlechtesten Filme aller Zeiten“ auf Tele 5 vorführen, müsste man 2 Guns wohl schon einige Zeit vor Ablauf seiner 109 Minuten die Rote Karte zeigen. So aber kann man von Anfang bis Ende seinen Spaß haben an diesem mit reichlich Comedy-Elementen versehenen Action-Thriller. 

(24.09.2013, kultur-in-bonn.de)

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Zwei Leben

Ein geborgtes und gestohlenes Leben

Drama, Psychostudie und Thriller in einem, entblättert Georg Maas‘ „Zwei Leben“ vor dem Hintergrund der Zeitenwende 1989/90 schichtweise die dunkle Vergangenheit seiner Hauptfigur. Eine stark gespielte und inszenierte Geschichtsstunde.


Herbst 1990: Katrine Myrdal (Juliane Köhler) lebt scheinbar glücklich mit ihrer Familie in Bergen/Norwegen. Ehemann Bjarte (Sven Nordin) ist Marinekapitän, Tochter Anne (Julia Bache-Wiig) Jurastudentin und nicht ganz alleinerziehende Mutter, denn neben Katrine springt auch deren Mutter Åse (Liv Ullmann) gerne bei der Versorgung von Baby Turid ein. Doch der Zusammenbruch und die Auflösung der DDR drohen Katrines Identitätskonstrukt zu zerstören. Rund zwanzig Jahre zuvor war sie als Auslandsagentin beziehungsweise „Kundschafterin des Friedens“ von der Staatssicherheit nach Norwegen geschickt worden, wovon ihre Familie natürlich nichts weiß.

Zudem taucht auch noch ein junger deutsch-norwegischer Anwalt (Ken Duken) bei den Myrdals auf, der die in Norwegen und Deutschland begangenen Verbrechen an den „Lebensborn“-Kindern nun vor den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bringen will. In den Lebensborn-Heimen versuchten die Nazis während des Zweiten Weltkriegs, ihren Rassenwahn in die Tat umzusetzen und „arische“ Herrenmenschen heranzuzüchten: Dorthin wurden Kinder gebracht, die aus Beziehungen deutscher Besatzungssoldaten und norwegischer Frauen hervorgegangen waren. Während die Mütter nach dem Krieg in Norwegen ähnlich wie die „Moffengrieten“ in den Niederlanden als „Deutschenflittchen“ diskriminiert wurden, landeten nicht wenige der Kinder, deren Identität oft ungeklärt blieb, in Heimen der DDR. 

Agentenschicksal und Lebenslüge
Der Lebensborn hat auch eine Menge mit Katrines Vorgeschichte zu tun, an deren Enthüllung sie kein Interesse haben kann. Denn das frühere Heimkind lebt und liebt das Zusammensein mit Ehemann und Familie, das von ihren Auftraggebern gar nicht „geplant“ war. Doch obwohl es die Stasi Ende 1990 offiziell nicht mehr gibt, sind die alten Seilschaften wie die um Katrines Führungsoffizier Hugo (Rainer Bock) nach wie vor aktiv – und ihre Agentenregeln gelten weiter. Es gibt eine Reihe teils gemeinsamer Leichen im Keller, über die man leicht stolpern könnte.

Die Entwicklung und Zuspitzung von Katrines persönlichem Drama hat etwas Unaufhaltsames, Schicksalhaftes. Je mehr Einzelheiten man durch die grobkörnigen Rückblenden in ihre Vergangenheit erfährt, desto klarer wird ihre Verstrickung in eine Schuld, der sie nicht entrinnen kann. Gleichzeitig ist Katrine selbst Opfer der lebenslangen Lebenslüge. Als Heimkind war sie eine leichte Beute für die „guten Onkels“ vom Geheimdienst. Erst im Erwachsenenalter kann sie erkennen, was mit ihr gespielt wurde, nachdem sie in ihrer eigenen Familie Geborgenheit und Zuwendung erfahren hat. 

Stimmungs- und spannungsvolle Bilder
Regisseur Georg Maas und Ko-Regisseurin Judith Kaufmann erzählen die Geschichte der Zwei Leben in meist ruhigen, stimmungsvollen Bildern, die von einer zunehmend bedrohlicher werdenden Spannung grundiert werden. Herauszuheben aus dem durchweg sehr ansprechenden Ensemble, zu dem auch Klara Manzel als 25-jährige Katrine zählt, ist die Leistung von Juliane Köhler. Ihr gelingt es, mit sparsamem, aber umso ausdrucksstärkerem Mienenspiel die seelischen Konflikte zu transportieren, die das beziehungsweise die Leben ihrer Figur zerreißen. 

Zwei Leben wird als deutscher Beitrag in den Wettbewerb um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gehen. Gewisse Ähnlichkeiten zum 2007 ausgezeichneten Das Leben der Anderen sind in Stoff, Motiven und Handlung unübersehbar, und es ist fraglich, ob man Zwei Leben mit dieser Nominierung wirklich einen Gefallen getan hat. Irgendwelchen Oscar-Hype hat Georg Maas‘ Film nämlich gar nicht nötig. 

(18.09.2013, kultur-in-bonn.de)

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Riddick: Überleben ist seine Rache (Riddick)

Last man standing

Vin Diesel bekommt es in „Überleben ist seine Rache“, dem dritten Teil der „Riddick“-Saga, mit Verfolgern zu tun, die er nach dem bewährten Allein-gegen-alle-Prinzip erledigen muss. Herausgekommen ist ein durchschnittliches Fantasy-Action-Spektakel mit ein paar blutigen Ausrufezeichen. 


Der galaxienweit gesuchte Sträfling Richard B. Riddick (Vin Diesel) ist verraten und allein auf einem öden, fast ausgetrockneten Planeten zurückgelassen worden. Dort muss er sich gegen die Sonnenstrahlung und allerlei bizarres, computeranimiertes Getier zur Wehr setzen, schafft sich dabei aber auch einen hundeähnlichen besten Freund an. Die Bilder von Riddick: Überleben ist seine Rache (Riddick) sind, wie schon beim in der Erinnerung als beachtlich abgespeicherten ersten Riddick Pitch Black aus dem Jahr 2000, in ein sonnenverbranntes Gelb getaucht, wenn die Action nicht nachts oder in Höhlen spielt. 

Um aus der sandig-bergigen Einöde wieder wegzukommen, setzt Riddick ein Funksignal ab. Zwei Raumschiffe mit bis an die Zähne bewaffneten Besatzungen lassen sich anlocken. Ihre Anführer sind aus unterschiedlichen Gründen hinter dem Space-Outlaw her. Der eine will Riddicks Kopf und das dafür ausgelobte Geld, der andere sucht nach den Erklärungen und Hintergründen für eine private Tragödie, und gegebenenfalls auch Rache. Ersterer entspricht dem Typ sadistisch-psychopathischer Gangster und erinnert an Latino-Schurkenfiguren aus 60er- und 70er-Jahre-Western, letzterer ist eher vom unterkühlt-disziplinierten Schlag. Notgedrungen tut man sich zusammen, doch es herrscht Misstrauen unter den Beteiligten, was dem gejagten Riddick in die Hände spielt. Der kann sich seine Jäger zum nächtlichen Abschuss zurechtlegen.

Visuell ist dieser Fantasy-Actionfilm mit B-Movie-Anmutung stellenweise recht imposant, ein paarmal auch brutal blutig. Auf das Drehbuch hat Autor und Regisseur David Twohy offensichtlich weniger Sorgfalt verwendet. Riddick: Überleben ist seine Rache bietet eine Aneinanderreihung von Action-und Konfliktszenen, die mit der erwartbar mählichen Dezimierung von Riddicks Verfolgern und einem moment of truth einhergehen. Die Handlungslogik ist dabei eher nebensächlich, die Sprache derb-martialisch, und die Charaktere gehören ohne Ausnahme nicht zu der Sorte, mit der man ein Heiß- oder Kaltgetränk zu sich nehmen würde. Fans des Genres und von Vin Diesel, der seinen raubeinigen Antihelden mit der üblichen stoischen Gelassenheit gibt, dürften mithin auf ihre Kosten kommen. 

(18.09.2013, kultur-in-bonn.de)

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Bottled Life

Leitungswasser statt Lifestyle-Wasser

Urs Schnellers Dokumentarfilm „Bottled Life“ nimmt den Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé unter die Lupe, der weltweit Geschäfte mit dem Wasser macht. Film und anschließendes Filmgespräch anlässlich der Vorpremiere in Köln waren ebenso anschaulich wie aufschlussreich. 


Rein ökonomisch betrachtet, ist die Geschichte von Nestlé eine Erfolgsstory. Der Konzern hat es geschafft, seine Getränkemarken mit geschicktem Marketing als gesunde und naturnahe Lifestyle-Produkte zu etablieren, wie insbesondere die Verkaufszahlen von „Pure Life“ zeigen. Wenn Kinder und Jugendliche glauben, sie müssten für den Weg zur Schule unbedingt eine Flasche Mineralwasser mitnehmen, und sogar Erwachsene es für notwendig halten, dass man acht Gläser am Tag davon trinkt, hat die Suggestion der Werber auf der ganzen Linie funktioniert. 

Damit ist der Fundus an Werbestrategien, über die Nestlé verfügt, noch lange nicht ausgeschöpft. Überall dort, wo es Gebiete mit potenziell einträglichen Wasserquellen gibt, versucht der Konzern das Land zu nutzen oder zu kaufen. Besonders in den USA ist man vielerorts fündig geworden, und in einigen Gemeinden im Bundesstaat Maine findet es großen Anklang, wenn der Konzern sich dort als „guter Nachbar“ präsentiert. Diese Floskel fällt mehr als einmal in den Gesprächen der Schweizer Dokumentarfilmer vor Ort. Denn Nestlé saniert Kinderspielplätze und Schulen, lässt Brücken reparieren und unterstützt örtliche Skimannschaften. 

Wasser ist ein Grundrecht 
Aber auch ein Konzernmulti mit seinen ganzen ausgeklügelten Strategien und ausgefuchsten Juristen kann einmal baden gehen. Denn nicht alle Städte und Gemeinden sind von der Nestlé-Nachbarschaft so begeistert. Indem sie per Abstimmung unter der Gemeindebevölkerung das Recht auf Wasser als Grundrecht in ihren jeweiligen Kommunalverfassungen verankerten, verhinderten die Orte Shapleigh und Newfield, dass Nestlé auf ihren Gemeindegebieten weiterbohren konnte. Fryeburg hingegen verlor seinen Rechtsstreit mit dem Multi. Win one, lose one – und doch zeigt der Sieg für die lokale Selbstverwaltung in Shapleigh und Newfield, dass sich der Kampf gegen die kommerzielle Wasserabpumpung lohnen kann. 

Denn die hat Folgen: Durch die großflächige Nutzung von Quellwasser und die tiefen Grundwasserbohrungen gräbt der Lebensmittelkonzern anderen Verbrauchern im Fördergebiet (und auch in angrenzenden Gebieten) im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser ab – um das billig geförderte Nass mit einer Rendite zu verkaufen, von der andere Branchen nur träumen können. In Maine belaufen sich die Gesamtproduktionskosten inklusive Verarbeitung und Verpackung auf rund 10 US-Cent pro Gallone. Verkauft wird die Gallone dann für rund 6 US-Dollar.

In Nigeria und Pakistan hat diese Geschäftspolitik noch eine andere Dimension: Die dortige gehobene Mittel- und Oberschicht labt sich am Lifestyle-Produkt Pure Life, während für den großen Rest nur unsauberes und häufig mit Bakterien verseuchtes Wasser zur Verfügung steht, da die öffentliche Versorgung mit ihren überalterten, maroden Pumpenanlagen und Rohren nicht funktioniert. Wasser ist eine ähnlich kostbare Flüssigkeit wie Öl, und in einem ölreichen Land wie Nigeria, wo Nestlé inzwischen mit seinen Plastikflaschen den Markt dominiert, kommt sauberes Trinkwasser oft teurer als Benzin zu stehen. Da könnte man frei nach den fälschlicherweise Marie-Antoinette zugeschriebenen Worten formulieren: „Sollen sie doch Pure Life trinken, wenn sie kein sauberes Trinkwasser haben!“ 

Gleichwohl ist Nestlé immer um ein grünes Image bemüht und betont gerne und oft die so genannte „Corporate Social Responsibility“. Doch wurde beispielsweise ein Wasserprojekt in Äthiopien, mit dem Nestlé zum Zeitpunkt der Dreharbeiten von Bottled Life 2011 immer noch warb, schon seit 2004 nicht mehr vom Konzern gefördert, wie die Dokumentarfilmer in Gesprächen vor Ort herausfanden.

Das (Leitungs-)Wasser von Köln ist gut
Das Thema Wasserversorgung bietet mithin reichlich Zünd- und Diskussionsstoff, und das Marketing von Getränkekonzernen wie Nestlé jede Menge Angriffsflächen. Im auf die Vorpremiere im Kölner „Odeon“ folgenden Filmgespräch nahmen Regisseur Schneller und zwei Umwelt- und Wasserexperten einige davon aufs Korn: So muss man keineswegs Mineralwasser aus der Flasche trinken, um sich mit Mineralien zu versorgen. Die befinden sich ohnehin in der restlichen (festen) Nahrung, die der Mensch täglich zu sich nimmt. Das gewöhnliche Leitungswasser hat eine höhere Qualität und kostet, hier rechnete der Umweltexperte die Zahlen für Köln vor, nur einen verschwindend geringen Teil dessen, was für die gleiche Menge an abgefülltem Plastikwasser zu bezahlen ist. Nicht zuletzt spricht gegen das Lifestyle-Produkt, dass regelmäßig Probanden bei Blindtests das Original „Kraneberger“ nicht von industriell abgefülltem Flaschenwasser unterscheiden können.

Doch geht es nicht nur um Geschmacksfragen. Die Wasserversorgung ist spätestens seit dem zunächst einmal abgewehrten Versuch der EU-Kommission, auch in Europa Privatunternehmen die Übernahme der bislang überwiegend von Stadtwerken betriebenen öffentlichen Versorgung zu erleichtern, ein Politikum ersten Ranges geworden. Ein abschreckendes Beispiel muss in dieser Hinsicht die Bundeshauptstadt Berlin geliefert haben, die ihre Wasserbetriebe an den französischen Konzern Veolia veräußert hatte und nun ihre Anteile vollständig zurückkaufen wird. Das Filmgespräch bei der Berlin-Premiere am Tag zuvor, so Regisseur Urs Schneller, habe jedenfalls in einer deutlich hitzigeren Atmosphäre stattgefunden als die Diskussion in Köln. Denn eines habe der Fall Berlin klar und exemplarisch vor Augen geführt: Ist die Wasserversorgung erst einmal privatisiert, herrsche in Sachen Transparenz seitens des Unternehmens absolute Fehlanzeige beziehungsweise Funkstille. Dazu passt auch, dass Nestlé den Filmemachern um Regisseur Schneller und Rechercheur Res Gehriger jede Zusammenarbeit verweigerte – und Schneller stattdessen das Angebot machte, einen Imagefilm im Auftrag des Konzerns zu drehen.

Gut, dass er widerstanden hat. Zwar wirkt Bottled Life unter filmästhetischen Gesichtspunkten eher schlicht. Es ist eine Reportage im Langfilmformat, die bisweilen etwas abrupt die Schauplätze und Themenschwerpunkte wechselt und als Zwischenschnitte gerne Naturbilder benutzt, wie etwa von Enten, Kühen oder anderen Tieren im Wasser. Vor-Ort-Rechercheur Gehriger ist mit seinem Apple-Rechner ein bisschen zu oft im Bild, während bei den Inhalten, die der Film abarbeitet, die eine oder andere Detailfrage etwas zu kurz kommt. So streift er nur am Rande das Thema Plastikmüll, das im Grunde auch eine eigene Dokumentation oder Reportage vertragen könnte. Abgesehen davon aber versammelt Bottled Life in anschaulicher und spannender Form wichtige, wissenswerte Informationen zum Einstieg in das komplexe Feld der Wasserwirtschaft. 

Böser Bube, schwarzer Peter 
Dass Fallbeispiel Nestlé dabei nicht gut wegkommt, ist keine Überraschung. Der Konzern, dessen Chef und Verwaltungsratspräsident Peter Brabeck mit seinem ewigen Business-Lächeln und -Sprechen bewusst oft ins Bild gesetzt wird (diese Aufnahmen stammen aus Youtube-Videos oder vom Unternehmen selbst produzierten Filmen), schafft Wasserversorgung für die, die es sich leisten können. Er tut das, wie der Film überzeugend darlegt, auf Kosten derer, die es sich nicht leisten können, etwas wie „Pure Life“ zu kaufen. Indem Konzerne wie Nestlé immer weiter Areale zum Wasserpumpen nutzen oder kaufen, entziehen sie sowohl dem jeweiligen Stück Land als auch den jeweiligen angrenzenden Gebieten immer mehr Flüssigkeit. 

Und doch hat die Geschichte eine Kehrseite. Denn an vielen der gefilmten Schauplätze gab und gibt es kein sauberes, öffentlich zugängliches Trinkwasser. Die Pumpenanlagen waren und sind zum größten Teil marode. Hier setzt Nestles Argumentation an: Durch ihre Investitionen und ihren Wasservertrieb vor Ort bekämen Gebiete eine funktionierende Wasserversorgung, an der die jeweiligen öffentlichen Verwaltungen und Funktionsträger stets gescheitert waren. Wohl wahr, doch von dieser Versorgung durch Nestlé profitieren letztlich nur Besserverdienende. Wenn aber Wasser ein Grundrecht für alle ist, was prinzipiell nicht einmal Peter Brabeck bestreitet, kann Nestlé-Plastikwasser wohl kaum der Weisheit letzter Schluss sein. 

Die öffentlichen Versorgungsbetriebe sind also gefordert zu zeigen, dass sie es besser können. Anders lässt sich den Getränkekonzernen nicht weltweit das Wasser abgraben. Doch es bleibt eine Herkulesaufgabe, das, was hierzulande und in weiten Teilen Europas bislang funktioniert hat, schnell auf unterentwickelte Regionen zu übertragen. Laut UN-Angaben verfügen rund 900 Millionen Menschen über keinen Zugang zu sauberem Wasser, und die haben nicht ewig Zeit.

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In Filmgespräch und Diskussion nach Bottled Life wurde darauf hingewiesen, dass die eigentlich bereits zurückgezogene EU-Richtlinie, die die Privatisierung von öffentlichen Wasserbetrieben und Stadtwerken noch einfacher machen sollte, im Rahmen der laufenden europäisch-US-amerikanischen Freihandelsverhandlungen durch die Hintertür nun doch noch eingeführt werden könnte. Zudem sollen Konzerne wie in den USA die Möglichkeit erhalten, wegen entgangener Profite Staat und Verwaltungen zu verklagen. Wer der EU-Kommission in Sachen Wasser weiter auf die Finger klopfen beziehungsweise auf die Füße treten möchte, kann sich zum Beispiel bei der europaweiten Initiative Right2Water (www.right2water.eu/de/node/37/) informieren und eine entsprechende Petition unterzeichnen. Die in Deutschland gesammelten Unterschriften werden am Freitag 13. September Vertretern der EU überreicht. 

(11.09.2013, kultur-in-bonn.de)

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Da geht noch was

Da wäre mehr drin gewesen

Drei Generationen liegen im Clinch miteinander und suchen familienintern wie extern nach Lösungen. „Da geht noch was“ verbindet Komödie mit Drama, kann aber trotz einiger gelungener Ansätze auf beiden Ebenen nicht überzeugen. Eine verpasste Chance. 


Jungunternehmer Conrad (Florian David Fitz) baut erfolgreich „Flüsterschubladen“, während Gattin Tamara (Thekla Reuten) im Verlagswesen reüssiert. Conrads alter Herr Carl (Henry Hübchen) ist ein ehemaliger Gewerkschaftschef, der mit der Familie seines Sohnes nicht viel anfangen kann – was umgekehrt genau so gilt. Also reduziert man den gesellschaftlichen Verkehr miteinander auf das absolut Notwendige wie Geburtstage und Weihnachten. Conrads Sohn Jonas (Marius Haas) bessert sein Taschengeld auf, indem er sich vom Vater dafür bezahlen lässt, zu diesen Anlässen gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Darauf hat Oma Helene (Leslie Malton) nun jedoch keine Lust mehr: Sie hat Carl nach 40 Jahren Ehe verlassen und eine eigene Wohnung bezogen, wie sie Sohn und Enkel an ihrem Geburtstag vollkommen unvermutet bei Kaffee und Kuchen im Café eröffnet. Als die beiden danach bei Carl auflaufen, hat der das Haus bereits in einen Saustall im Anfangsstadium verwandelt und seinen Bewegungsspielraum auf ein Dreieck zwischen Dosenbier, Selbstmitleid und Gegrantel reduziert. Dann stürzt er auch noch in den leeren Swimmingpool und verletzt sich. 

Also bleibt Conrad und Jonas nichts anderes übrig, als ihren geplanten Kurzaufenthalt zu verlängern, um dem alten Herrn zu helfen, während Tamara bereits in den Urlaub vorausgeflogen ist. Conrad richtet sich in seinem alten Jugendzimmer ein und versucht nun das zu tun, was er glaubt am besten zu können: Situationen und Menschen managen. Wie nicht anders zu erwarten, nehmen die Dinge ihren eigenen Lauf, und am Ende werden alle drei Generationen verändert aus der „Extremsituation“ herauskommen. 

Auf der Suche nach dem Generationenvertrag
Da geht noch was nimmt sich eine Menge vor und will vieles zur gleichen Zeit sein, tragisch und komisch, erhellend und unterhaltsam. Seine Figuren müssen erleben, dass Sich-etwas-fest-vornehmen und Etwas-umsetzen zwei ganz verschiedene Paar Schuhe sein können. Dabei tippt er manches Menschliche und Allzumenschliche an, ohne es zu vertiefen, und setzt im Zweifelsfall darauf, die Waagschale zugunsten der Komik ausschlagen zu lassen – was dem Film nicht gut bekommt. Schade eigentlich für Da geht noch was, da wäre mehr drin gewesen. Doch diesem Dreigenerationenkonflikt fehlen die Balance und der Kompass. An den Schauspielern liegt es im Übrigen nicht, dass Da geht noch was nicht überzeugen kann. Fitz, Hübchen, Malton & Co. kann man als schrecklich nette Problemfamilie durchgehen lassen. 

Der Film hat vereinzelt Szenen voller Wahrhaftigkeit, die sehr treffend zum Ausdruck bringen, wie viel im Umgang zwischen Menschen auf falschen Erwartungen und Projektionen beruht und darauf, den (vermeintlichen) Erwartungen anderer gerecht werden zu wollen. Doch Struktur und Bildsprache wirken häufig sehr konventionell, wenn etwa in einer Parallelmontage Annäherungs- beziehungsweise Wiederannäherungsversuche auf drei Generationsebenen zunächst im synchronen Scheitern kulminieren, oder an anderer Stelle eine einsame Blume auf einem Stück Felsen einen Neuanfang symbolisiert. 

Der Witz lässt zu wünschen übrig
Seine größten Schwächen hat Da geht noch was jedoch in jenen Szenen, in denen ganz auf Komik gesetzt wird. Zu konstruiert und kalkuliert wirkt das, und einmal driftet es bei einer Rauferei am Busbahnhof in handfesten Klamauk ab. Wo an dieser Stelle zu dick aufgetragen wird, fehlt es bei anderen Gags an überraschenden Pointen. Nachdem Conrad den alten Herrn mit den Grundbegriffen des Internets vertraut gemacht hat, um ihm Zugang zu einer seriösen Partnerbörse zu verschaffen (und ihn auf diesem Umweg wieder mit Mutter Helene zu verkuppeln), lernt er schnell und holt sich bald auch Pornöses auf den Schirm. Conrad sieht es, macht peinlich berührt und unbemerkt vom gerade sehr abgelenkten Vater die Tür wieder zu, um ihn dann von draußen durch die geschlossene Tür zum Essen zu rufen. Dreimal dürfen Sie raten, was Carl seinem Sohn antwortet. Und welche Bedeutung die Tastenkombination Alt+Entf in Bezug auf Senioren hat, dürfte sich mittlerweile auch schon herumgesprochen haben. 

Yuppies, die dritte Generation
Immerhin scheint der Film in Person von Conrad und Tamara ein recht getreues Abbild jener aktuellen Generation von Yuppies zu liefern, die sich strebsam und leistungsorientiert gibt, auf bestimmte Statussymbole und Accessoires Wert legt, Essen und Getränke im Restaurant gewohnheitsmäßig zurückgehen lässt und in einer Welt des eitlen Scheins lebt. Dieses Streben nach Perfektion in jeder Lebenslage, Flüsterschubladen inklusive, muss wohl eine Folge der in Unternehmen herrschenden „Best Practices“ sein. Die Best Practices aus Komödie und Drama hingegen haben in Da geht noch was nicht genug Spuren hinterlassen, um eine Empfehlung für den Film auszusprechen. 

(12.09.2013, kultur-in-bonn.de)

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White House Down

Der Feind im Innern 

Streckenweise atemberaubend unglaubwürdig, aber äußerst unterhaltsam kommt Roland Emmerichs Action-Thriller „White House Down“ daher. Der US-Präsident und (s)ein Personenschützer müssen im wahrsten Sinne des Wortes im eigenen Haus aufräumen.


Roland Emmerich setzt sein Zerstörungswerk fort. Wie schon in Independence Day – auf dessen durchschlagende Wirkung in White House Down während einer Touristenführung augenzwinkernd hingewiesen wird – legt der Regisseur das Weiße Haus in Schutt und Asche. Dieses Mal allerdings nicht auf einen Schlag, die Demolierung verteilt sich über den ganzen Film. Die Bösewichte kommen auch nicht from outer space, sondern aus den eigenen Reihen, und kennen sich bestens aus im Gebäudekomplex an der Pennsylvania Avenue 1600. Angeführt werden die Verschwörer vom scheidenden Secret-Service-Chef Martin Walker (James Woods). Ex-Elitesoldaten, ein ehemaliger NSA-Computerhackermeister, ein rechtsradikaler Paramilitär nebst Gefolgsleuten und angeworbene Söldner sind mit von der Partie. Sie stürmen das Weiße Haus, nachdem zuvor Mitverschwörer im Kapitol, dem Sitz des Repräsentantenhauses, als Ablenkungsmanöver eine Bombe gezündet haben. 

Mit dabei sind an diesem Tag aber auch Afghanistan-Veteran John Cale (Channing Tatum) und seine Tochter Emily (Joey King). Cale, aktuell für die Sicherheit des Repräsentantenhaus-Sprechers Eli Raphelson (Richard Jenkins) zuständig, hat ein – erfolgloses – Bewerbungsgespräch bei der neuen Secret-Service-Chefin Carol Finnerty (Maggie Gyllenhaal). Tochter Emily ist eine altkluge 11-Jährige, die alles über das Weiße Haus gelesen hat und bei der anschließenden Touristen-Führung auch den Guide Donnie (Nicholas Wright) mit ihrem detaillierten Faktenwissen beeindruckt. Drehbuchautor James Vanderbilt nutzt hierbei gleich die Gelegenheit, die Kinozuschauer mit der Topographie des Weißen Hauses und seinen Räumlichkeiten und Geheimgängen, die bei den anschließenden Verfolgungsjagden eine wichtige Rolle spielen werden, vertraut zu machen. Was allerdings auch nicht verhindern kann, dass spätestens zum Showdown hin der Überblick im Hauskampf verloren geht.

Zwei gegen den Dritten Weltkrieg
Erst einmal geht allerdings Emily während eines Toilettengangs verloren, denn genau in diesem Augenblick starten die Terroristen ihre Attacke. Cale kann ihnen entkommen und muss nun versuchen, sowohl seine Tochter, die sich im Untergeschoss versteckt hält, als auch Präsident James Sawyer (Jamie Foxx) zu finden und zu retten. Es stellt sich heraus, dass die Verschwörer es auf die präsidentiellen Atomcodes abgesehen haben und einen Dritten Weltkrieg anzetteln wollen. Denn der Präsident hatte zuvor einen spektakulären Vorschlag verkündet, der den Rückzug aller fremden Truppen aus dem Nahen Osten und einen Friedensschluss mit dem Iran vorsieht. Das wollen die selbsternannten Ultra-Patrioten verhindern, und entsprechend schweres Geschütz fahren Militär, FBI und gesammelte Sicherheitsdienste draußen vor dem Weißen Haus auf. Think big, darunter macht Emmerich es nicht. So bleibt Cale und Sawyer, den er inzwischen befreit hat, nicht viel Zeit – sie müssen die Sache drinnen selbst in die Hand nehmen. 

Channing Tatum verrichtet solide und effizient seine Tochter-, Präsidenten- und Weltrettungsarbeit, wobei erwartungsgemäß einiges zu Bruch geht und einige Bösewichte auf der Strecke bleiben. Die Chemie zwischen Tatum und Foxx stimmt; das ungleiche Figurenpaar aus Präsident und Personenschützer schwingt sich notgedrungen schnell ein und lässt bisweilen Buddy-Movie-Atmosphäre aufkommen. Als Väter heranwachsender Töchter finden die beiden problemlos Gesprächsstoff, und wenn Sicherheitsmann Cale den durch einen Schuss am Bauch verletzten ersten Mann im Staate behandelt und verbindet, liegt eine Unterhaltung über Nabelpiercings ja auch nahe, gell. Das Drehbuch nutzt auch sonst gerne die Gelegenheit, mit Entsetzen Scherz zu treiben und inmitten der wilden Hatz komische Einlagen einzubauen. Etwa wenn Guide Donnie, der mit den Teilnehmern der Führung und einigen Regierungsmitgliedern als Geiseln gehalten wird, die Terroristen darüber belehrt, welche unersetzlichen Kunstschätze sie mit ihrer Ballerei bereits vernichtet haben. 

Blockbuster mit Botschaft
Mit zunehmender Dauer häufen sich Unwahrscheinlichkeiten und seltsame Plotwendungen. Besonders die finale Drehung der Schraube, die Entlarvung des Oberbösewichts hinter dem Bösewicht, wirkt recht konstruiert. Auch den in Hollywood-Thrillern obligatorischen Schuss Patriotismus- und Familienkitsch erspart Emmerich dem Publikum nicht. Was allerdings nichts daran ändert, dass White House Down trotz seines etwas zu lang ausgewalzten Showdowns über zwei Stunden spannendes und angesichts des an den Haaren herbei gezogenen Plots geradezu unverschämt unterhaltsames Action-Kino bietet. 

Wie häufig in seinen Filmen, etwa The Day After Tomorrow, hat Emmerich auch in diesem Blockbuster eine Botschaft untergebracht, die gleichwohl Mühe haben dürfte, unter den geballten Schauwerten nicht unterzugehen: Es ist die einst von Eisenhower formulierte und immer noch gültige Warnung vor dem „militärisch-industriellen Komplex“, die er hier seinem Filmpräsidenten Sawyer in den Mund legt. Mit anderen Worten, die Warnung vor jenen Kräften in den USA, die überhaupt kein Interesse an Rüstungskontrolle und der Beendigung von Konflikten und Kriegen haben, weil sich damit prächtig Geld verdienen lässt. Der Feind muss nicht immer ein böser Islamist aus der „Dritten Welt“ sein, es gibt auch einen ebenso mächtigen wie üblen enemy within. Ob das dem aktuellen Präsidenten, der bei der Zeichnung der Jamie-Foxx-Figur eindeutig Pate stand, auch so klar ist, darf man bezweifeln. 

(03.09.2013, kultur-in-bonn.de)

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Where's the Beer and when do we get paid?

Der Trommler von Zappa 

Jimmy Carl Black gehörte von 1964 bis 1969 zur Urbesetzung der Mothers of Invention. Von den 90er-Jahren an lebte er in einem bayrischen Dorf. Der Dokumentarfilm „Where‘s the Beer and when do we get paid?” begleitet den in Ehren gealterten Rock’n Roller zuhause und bei der Arbeit on tour. 


Niemand ist heutzutage mehr davor gefeit, von Medien zur „Legende“ erklärt zu werden. Im Sport und in der Musik laufen mittlerweile ganze Legionen von Legenden durch den Blätterwald. Grundsätzlich scheint jeder, der irgendwann mal Pelé den Ball aufgepumpt oder Jimi Hendrix den Gitarrenkoffer getragen hat, das Zeug zur Legende zu haben. Jimmy Carl Black hingegen ist tatsächlich eine, denn er war „The Indian of the Group“. The Group, das sind die – na, was wohl? legendären! – Mothers of Invention von Frank Zappa, für die der Abkömmling amerikanischer Ureinwohner zwischen 1964 und 1969 Schlagzeug spielte. „I am a legend“, sagt er mehrfach im Film, und es klingt verwundert bis belustigt. 

Nachdem Zappa die Gründungsformation der Mothers 1969 aufgelöst hatte, spielte Black mit diversen anderen Bands und Musikern und tourte später mit ehemaligen Mothers-Kollegen als The Grandmothers oder The Muffin Men. Nach dem Tod seiner ersten Frau lernte er in den 90er-Jahren während einer Deutschlandtournee in der bayrischen Provinz die Einheimische Moni kennen, heiratete sie und lebte fortan mit ihr zusammen im kleinen Siegsdorf. „Ein Indianer in Bayern“ – da denkt man unwillkürlich, das könnte ein passender Stoff für Herbert Achternbusch sein, doch gemacht haben Where‘s the Beer and when do we get paid? die beiden Dokumentarfilmerinnen Sigrun Köhler und Wiltrud Bayer (Schotter wie Heu, Alarm am Hauptbahnhof). 

Rock’n Roll hat in Bayern einfach keine Tradition
Siegsdorf ist nicht Wacken, und die einheimische Blaskapelle kann man sich im Gegensatz zur Wackener Feuerwehr kaum als „Einheizer“ zum Auftakt eines Festivals im Full Metal Village oder irgendeines anderen Rock’n Roll-Konzerts vorstellen. Die zwischendurch eingeschnittenen Kommentare mancher Eingeborenen offenbaren ein, höflich ausgedrückt, althergebrachtes Verständnis von Musik. Immerhin findet sich aber auch ein Musikus in Tracht und Lederhose, der Zappa kennt („Ich war ja auch mal jung“). Da hätten Köhler und Bayer allerdings direkt nachfragen sollen, warum er diese Musik nun im „höheren“ Alter offensichtlich nicht mehr hören mag. Rock’n Roll in all seinen Spielarten eine jugendliche Verirrung oder „Jugendsünde“? Diese seltsame Auffassung hatte man längst überwunden geglaubt. Doch selbst der Schlagzeuger einer ortsansässigen Sixties-Coverband – der andere vor Ort Befragte, der zugibt, Zappa zu kennen – erklärt, dass er das Vulgäre und Provokative an dessen Songtexten abstoßend findet. 

Der Fairness halber soll darauf hingewiesen sein, dass auch der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten knapp siebzigjährige Jimmy Carl Black gelegentlich Ansichten vertritt, die sich nicht unbedingt als „progressiv“ bezeichnen lassen. Das Schlagzeug sei ein Begleitinstrument, und deswegen möge er auch keine Fusion-Jazz-Drummer, denn die spielen „zu viele Noten“ (was übrigens im Wortlaut der gleiche Vorwurf ist, den in Amadeus Kaiser Joseph II. Mozart nach der Aufführung eines seiner Werke macht). Mit den beiden Zappa-Filmen Uncle Meat und 200 Motels kann Black auch nicht viel anfangen: Der eine habe weder Plot noch Skript und sei Mist, der andere trotz Vorhandenseins eines Drehbuchs nicht viel besser geworden. Es scheint etwas dran zu sein an dem Befund, dass Menschen mit zunehmendem Alter zwar nicht zwangsläufig rückwärtsgewandter, aber immer weniger empfänglich für Neues werden. 

Davon abgesehen macht Jimmy Carl Black als flachsender und in Ehren gealterter Rock’n Roller eine gute Figur, streckenweise assistiert von seinem langjährigen Duopartner Eugene Chadbourne (Gitarre, Banjo, Gesang), mit dem er in Europa und den USA auf Tour geht. So gleich zu Beginn, als die beiden in ihrem Gespräch über Filme im Allgemeinen und Kill Bill im Speziellen launige Bemerkungen fallen lassen. Black bestätigt auch den alten Musikerspruch „Wer übt, kann nix!“, als er auf die Frage der Filmemacherinnen, ob er denn nicht gerne üben würde, antwortet: „What for?“ Zappa-Musik, dies sei noch vermerkt, gibt es im Film nicht zu hören. Da ist Witwe Gail davor, die auf das Werk ihres 1993 verstorbenen Mannes aufpasst wie ein Schießhund. Die zu diesem Punkt befragten Ex-Mothers Don Preston und Bunk Gardner wünschen den beiden Filmemacherinnen denn auch „Good Luck!“ für ihre Versuche, die Erlaubnis für die Verwendung von Original-Musikbeispielen zu bekommen. Jimmy Carl Black hatte im Übrigen selbst einen langen Rechtsstreit mit der Zappa-Witwe auszufechten. 

Für Künstler ohne Rentenanspruch ist Musik Erwerbsarbeit
Nicht alles ist Sigrun Köhler und Wiltrud Bayer bei der Organisation des Stoffes von Where‘s the Beer and when do we get paid? gelungen. Die eine oder andere Passage hätte eine Kürzung vertragen, manches wiederholt sich – oder Jimmy Carl Black wiederholt sich, der im Übrigen auch ein paarmal genervt von der Kamerabeobachtung scheint. Einige Interviewfragen wirken recht naiv, etwa die nach dem „Ursprung von Hits“. Gleichwohl bemüht sich der alte Black-Kumpel Arthur Brown, auch darauf eine fundierte Antwort zu geben, indem er Béla Bartók zitiert. 

Bei allen komischen und skurrilen Situationen macht der Film sehr deutlich, dass das Rock’n Roller-Leben unterhalb der Ebene von Berühmtheiten und Bandleadern bei den sidemen beziehungsweise „einfachen“ Bandmitgliedern kein Zuckerschlecken ist. „It‘s just a job“, wie Jimmy Carl Black einmal im Film sagt, und kein besonders gut bezahlter. Auch nicht für Legenden – in deren Reich er endgültig Einzug gehalten hat. Wenige Monate nach Ende der Dreharbeiten verstarb Jimmy Carl Black im Alter von siebzig Jahren. 


Kino-Termine in der Bonner Brotfabrik:
2.9. 19 Uhr, 3.9. 19 Uhr, 4.9. 21 Uhr, 6.9. 19 Uhr, 7.9. 19 Uhr 

(27.08.2013, kultur-in-bonn.de)

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Portugal, mon amour (La cage dorée)

Heim-Suchung 

„Portugal, mon amour“ spielt auf dem Terrain der Culture-Clash-Komödie; die sich anziehenden Gegensätze sind französischer und portugiesischer Couleur. Bisweilen amüsant, doch alles in allem zu betulich und zu stark auf Wohlfühlatmosphäre bedacht. 


Maria und José Ribeiro (Rita Blanco, Joaquim de Almeida) leben seit Jahrzehnten in Paris, die Kinder Paula und Pedro sind dort geboren und aufgewachsen. Maria ist Concierge des Hauses, in dem die Familie wohnt, José Vorarbeiter im Bauunternehmen von Francis Caillaux (Roland Giraud). Sowohl unter den französischen Nachbarn als auch unter den Landsleuten aus der portugiesischen Migranten-Community sind die Ribeiros sehr beliebt, und Chef Caillaux hält große Stücke auf seinen Polier. 

Integration perfekt, alles prima – aber dann gäbe es keinen Film. Also erhält José eines Tages die Nachricht, dass sein Bruder ihm sein Haus samt Weingut in Portugal vererbt hat. Gehen oder bleiben, jetzt heißt es sich entscheiden, doch das Meinungsbild innerhalb der Familie ist zunächst gar nicht einheitlich. Die Kinder bevorzugen Paris, den Vater lockt die alte Heimat. Außerdem bekommt die liebe, ebenfalls in Paris ansässige Verwandtschaft in Gestalt von Marias Schwester Lourdes Wind von der Sache, und es dauert nicht lange, bis auch Josés Chef davon erfährt. Und dann ist auch noch dessen Sohn Charles (Lannick Gautry) mit Paula (Barbara Cabrita), der Tochter der Ribeiros, liiert …

Damit sind die diversen Konflikte und Verwicklungen angelegt, die Portugal, mon amour (Originaltitel: La cage dorée) ausspielen und auflösen wird. Regisseur und Autor Ruben Alves benutzt dabei bekannte Elemente der Komödie wie die Verwechslung, das double entendre, bei dem der Zuschauer einen Informationsvorsprung gegenüber den Figuren hat und ihren Dialog entsprechend anders versteht, und Standard-Figurentypen wie die resolute und neugierige Concierge (Maria Vieira), deren Rolle zum Chargieren geradezu auffordert. 

Filme wie Portugal, mon amour bauen auf die komische Wirkung von landestypischen Klischees, indem sie mit ihnen auf entlarvende Weise spielen. Wobei bisweilen der Eindruck aufkommen kann, hier würden Klischees eher reproduziert als entlarvt: Französisches Essen wird mit zeremoniösem, pompösem Getue serviert, ist aber nix zum Sattwerden, und im luxuriösen Grandhotel kann man sich nicht wohlfühlen, wenn man aus „einfachen“ Verhältnissen stammt wie die Ribeiros. Die sind im Übrigen wahre Muster-Portugiesen, nämlich bienenfleißig und immer hilfsbereit, bescheiden und katholisch (Maria, Josef, Peter und Paula, Lourdes, da könnte man in der Tat von einer heiligen Familie sprechen). 

Landeskunde per Wikipedia
Als glattes Gegenteil erscheinen zunächst die Franzosen: heuchlerisch, tricksend und nie ganz frei von Dünkel. Da das Unternehmen der Caillaux in finanzielle Schieflage geraten ist und Patron Francis seinen besten Mann José unbedingt halten will, bemüht er sich gemeinsam mit Gattin Solange (Chantal Lauby), die Interesse an portugiesischer Geschichte vorgibt, um Volksnähe. Allerdings verwechselt Solange beim Ranschmeißen während des gemeinsamen Essens in der Wohnung der Ribeiros Tulpen mit Nelken (Revolution) und Alcazar mit Salazar (Diktator), obwohl sie sich vorher extra noch bei Wikipedia schlau gemacht hatte. 

Vor Klischees im Kopf und den daraus resultierenden falschen Erwartungen sind auch die Ribeiros nicht gefeit. Ein Abendessen mit Gästen in Frankreich, da muss man doch die Etikette einhalten und festliche Robe anlegen, oder? Tja, mit dem Dresscode ist es eben so eine Sache, wenn die französischen Gäste partout nicht protzig erscheinen wollen und daher in legerer Freizeitkleidung erscheinen. 

Dass zum typisch Portugiesischen ein melancholischer Fado gehört, der hier gleichzeitig als Entscheidungshilfe für Tochter Paula fungiert, versteht sich von selbst. Ein Cameo des ehemaligen Fußballstars Pauleta, der bei PSG in Paris seine Karriere beendete, darf ebenfalls nicht fehlen. Fado und Fußball, Hand aufs Herz, ist das nicht auch das Erste, was Ihnen zum Thema Portugal einfällt, wenn Sie nicht gerade zufällig Lusitanist sind?

Schluss mit lustig!
Als José und Maria dann endlich aus den portugiesischen Klischees ausbrechen, nicht mehr für umsonst allzeit bereit sein wollen, um das ewige Sich-verstellen, Dinge-nicht-aussprechen und Lieber-nicht- drüber-reden hinter sich zu lassen, fährt Regisseur Ruben Alves gleich schweres Geschütz auf und überzeichnet kräftig. Unter anderem baut José, sonst die Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit in Person, für einen Kunden von Caillaux eine Mauer, die offensichtlich nach dem Vorbild des schiefen Turms von Pisa modelliert ist. Breaking Bad à la portugaise?

Das alles ist zwar stellenweise amüsant, insgesamt jedoch zu betulich und feel-good-orientiert, um wahr zu sein. Vieles kennt man aus dem Fundus der dramatischen und komödiantischen Entwicklungen und Zuspitzungen, vieles ist absehbar – im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch Bildgestaltung, Kameraführung und Inszenierung sind zu schablonenhaft und konventionell geraten. 

Am Ende wirkt Portugal, mon amour auf den auswärtigen Betrachter mehr wie ein modernes Märchen. Da Regisseur und Autor Ruben Alves jedoch selbst aus einer portugiesischen Familie stammt, die sich in Frankreich niedergelassen hat, darf man annehmen, dass er mit dem Stoff bestens vertraut ist, den er hier verarbeitet. In Frankreich war La cage dorée im Übrigen ein Kassenschlager. Schließlich leben auf der anderen Rheinseite mehr als eine Million Portugiesen plus Portugiesischstämmige (auch Wikipedia-Wissen, klar doch), was erheblich zum großen kommerziellen Erfolg des Films beigetragen haben dürfte. 

(27.08.2013, kultur-in-bonn.de)

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Das ist das Ende (This Is the End)

Wir sind alle kleine Sünderlein

Ein Haufen jüngerer, Comedy-erprobter Hollywoodstars nimmt Weltuntergangsfilme, das Kino-Business und vor allem sich selbst und die eigenen Images auf die Schippe. „Das ist das Ende“ ist oft deftig und drastisch, aber nur hin und wieder treffsicher in seinen Gags.


Die Komik-Anordnung, auf der Das ist das Ende (This Is the End) basiert, ähnelt der Grundidee der zu Recht mehrfach preisgekrönten Comedy-Serie Pastewka: Da spielt Bastian Pastewka sich selbst als Kunstfigur in erfundenen Geschichten mit erfundenen Figuren, die regelmäßig von Gastauftritten Prominenter aus dem Schauspiel- und Showgeschäft flankiert werden, die fiktionale Abbilder ihrer realen Personen verkörpern. In Das ist das Ende gehen gleich eine ganze Horde Schauspieler „als sie selbst“ an den Start, um die herum eine Handlung gesponnen wird. Die Hauptfiguren sind Seth Rogen (der zudem gemeinsam mit Evan Goldberg für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnet), James Franco, Jonah Hill, Craig Robinson, Jay Baruchel und Danny McBride. 

Alles fängt damit an, dass Jay Baruchel zu Besuch bei Seth Rogen ist. Man raucht guten Stoff miteinander und fährt anschließend auf Seths Vorschlag zu einer großen Party, die in James Francos mondänem neuen Haus in Los Angeles steigt. Jay mag die Hollywood-Bagage eigentlich nicht sonderlich – insbesondere Mr. Nice Guy Jonah Hill geht ihm auf die Nerven – aber er willigt ein. Auf der Party herrschen loses Mundwerk, offensichtlich mithilfe von Psychostimulanzien befeuerte gute Stimmung und lockere Sitten. Also in etwa Sex & Drugs & Rock 'n' Roll, wie man sich halt so eine „verkommene“ Hollywood-Partygesellschaft vorstellt. Zu den Gästen gehören unter anderem Popstar Rihanna und Potter-Star Emma Watson; Michael Cera zeigt seinen blanken Hintern und Jason Segel erzählt einen Witz. 

Da kommt es draußen zu einem Erdbeben – und nicht nur das: Schlünde tun sich auf, die Menschen verschlingen, andere werden in einer Art Lichtbahnen gen Himmel gezogen. Alles sucht in Panik das Weite – oder wird eben verschluckt beziehungsweise hochgesaugt. Übrig bleiben in Francos unversehrtem Haus nur der Gastgeber, Jay, Seth und Jonah sowie Craig Robinson. Später stößt der nicht eingeladene Danny McBride überraschend hinzu, und auch Partygast Emma Watson ist noch einmal kurzzeitig mit von der Partie. 

Mittendrin in der Metaebene
Im Angesicht der Katastrophe geht zunächst einmal alles seinen üblichen, spätpubertierende-Mittdreißiger-Gang. Beim Verteilen der Dope- und Essensrationen ist jeder sich selbst der nächste (und Emma Watson kennt als Britin ja eh nur minderwertigen Fraß). Da man irgendwie die Zeit totschlagen muss, dreht man in Francos Haus eine „Fortsetzung“ von Ananas Express (Pineapple Express) im No-Budget-Stil. Auch wird gerne und viel gelästert, so bekommt etwa der nicht anwesende Kollege Woody Harrelson sein Fett weg. 

Sich selbst verschonen die Stars im Meta-Modus keineswegs und nehmen eigene Rollen, Images und Manierismen kräftig auf die Schippe – besonders krass fällt der Kontrast zum gewohnten Rollenbild bei Channing Tatums Kurzauftritt gegen Ende des Films aus. James Franco gibt ein paarmal heftigst emotionales overacting zum Besten, und einige Insider- und Schauspielerwitze dürften nur für eine kleine Gruppe von Eingeweihten – beziehungsweise Betroffenen – verständlich sein. Die Sprache ist häufig derb, deftig und unter der Gürtellinie, darin erinnert Das ist das Ende an 21 Jump Street aus dem letzten Jahr, in dem ebenfalls Jonah Hill die Hauptrolle (neben Channing Tatum) spielte. Zum wüsten Humor gesellt sich ein wüster Genre-Mix, Katastrophen-, Fantasy- und Apokalypsenfilmen wird ebenso Reverenz erwiesen wie Der Exorzist. Denn Mr. Nice Guy mutiert zum bösen Dämon und bekommt deswegen einen kurzen Film im Film spendiert: The Exorcism of Jonah Hill. 

Apokalypse … echt jetzt?
Jay erinnert das Geschehen ohnehin immer mehr an die Offenbarung des Johannes. Er liest den anderen entsprechende Bibelstellen vor und mahnt, dass man sich vorbereiten müsse. Offensichtlich sei es notwendig, seine Verfehlungen zu bekennen und wenigstens einmal etwas Uneigennütziges, Selbstloses zu tun, sonst gebe es statt Himmelfahrt nur Höllenglühen. (Oder man riskiert, wie sich noch zeigen wird, vom erst aus dem Haus geworfenen und später zum Kannibalen mutierten Danny McBride und seinen „Jüngern“ gefressen zu werden.) Ausgerechnet Schauspieler, bei denen das Tricksen und Vortäuschen von Gefühlen zum Geschäft gehört, sollen sich also ehrlich machen und gegenseitig die Beichte abnehmen. Bei aller vorher ausgestellten Drastik und (Selbst-)Respektlosigkeit lässt dies den Film gegenüber Fragen von Glauben und Religion doch ziemlich handzahm erscheinen. Eine ironische Brechung wird man an dieser Stelle ebenso vergeblich suchen wie im abschließenden allgemeinen Wohlgefallen mit Backstreet-Boys-Gastauftritt: Christliche Himmelfahrt, ergänzt um die Vorstellung, dass es auch droben Drogen, Alkohol und Partys gibt. 

Viel bleibt nicht hängen von diesem Film. Er wirkt, als ob seine Macher mindestens ebenso viel Dope konsumiert hatten, wie es die Figuren im Film tun, als ihnen die Idee kam, sich selbst zu spielen, die Witze und Insider-Gags von Mittdreißiger-Buddies auf Filmlänge auszudehnen und mit einer Weltuntergangs-Rahmenhandlung zu versehen. Bei dieser Art von Komikerzeugung fallen durchaus Treffer ab, aber eben auch mindestens genauso viele Missgriffe.

(06.08.2013, kultur-in-bonn.de)

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Conjuring – Die Heimsuchung (The Conjuring)

Schwerstarbeit für Geisterjäger

„Conjuring – Die Heimsuchung“ reizt die traditionellen Mittel der Spannungs- und Gruselerzeugung bis zum Anschlag aus. Ein äußerst effektvoller und unterhaltsamer Horrorfilm, der auf der wahren Geschichte eines Dämonologen-Ehepaares beruht.


Es ist offenbar gar nicht so schwer, einen guten Horrorfilm zu drehen. Man muss nur alle, wirklich alle bekannten Gruselzutaten nutzen, auf die richtige Reihenfolge ihres Einsatzes und die sorgsame, stetige Erhöhung der Intensität achten, und es funktioniert. Conjuring – Die Heimsuchung (The Conjuring) liefert dafür geradezu ein Lehrbeispiel, verfügt indes über den Startvorteil, auf einem dokumentierten Fall aus der Karriere der Dämonologen Ed und Lorraine Warren zu beruhen, der sich 1971 ereignete. 

Roger und Carolyn Perron (Ron Livingston und Lili Taylor) ziehen mit ihren fünf Töchtern in ein altes, allein stehendes Haus am See – da haben wir gleich schon einmal den Klassiker „sympathische, unbescholtene Familie, die sich in einer potenziell unheilsschwangeren Umgebung niederlässt“. Im Gebäude selbst gibt es, wie sich schnell herausstellt, einen versteckten Keller. Später werden sich noch weitere verborgene Räume finden. Vor dem Haus kommen auf unerklärliche Weise an derselben Stelle Tiere zu Tode (was im weiteren Verlauf noch zu einer kurzen Hommage an einen der Horrorfilme schlechthin, Alfred Hitchcocks Die Vögel genutzt wird).

Ghost in the Machine
Innerhalb des Hauses geht es mit dem vollen Programm weiter: Uhren bleiben zur gleichen Zeit stehen, Türen öffnen und schließen sich von selbst, immer wieder sind Klopfgeräusche und Schreie zu hören, die sich niemandem zuordnen lassen. Des Nachts bewegen sich Betten scheinbar von selbst, und Mutter Carolyn wacht mit seltsamen Beulen und Schrammen auf. Die jüngste Tochter April findet eine alte Spielzeugdose mit Musik und einem Spiegel, in dem sie immer wieder einen kleinen Jungen auftauchen sieht. 

Höchste Zeit für den Auftritt der Retter. Ed und Lorraine Warren (Patrick Wilson und Vera Farmiga), Experten für unerklärliche, übernatürliche Phänomene und auch kirchlicherseits als Dämonologen anerkannt, nehmen sich der Sache an. Erste Recherchen ergeben, dass sich an dem großen Baum vorm Haus der Perrons vor langer Zeit eine Frau erhängte, die der Hexerei bezichtigt wurde, und ein kleiner Junge, der einmal im Haus wohnte, unter nie geklärten Umständen für immer verschwand. Wie es heißt, hat die Hexe vor ihrem Abgang das Gebäude und alle, die darin jemals leben würden, noch schnell verflucht. Und offenbar treibt sie als böser Geist immer noch ihr Unwesen und versucht nun, von den Perrons Besitz zu ergreifen. 

Damit ist das Tableau bereitet für eine Dämonenjagd nach allen Regeln der Kunst. Ausgerüstet mit Kameras, Kassettenrekordern, UV-Lampen, weiteren Hilfsmitteln und einigen Helfern im Schlepptau, versuchen die Warrens den Dämon zu orten. Münden wird die Geisterjagd in ein gruseliges Finale mit Teufelsaustreibung, um ein vom Dämon bereits besessenes, grässlich entstelltes Opfer daran zu hindern, jemanden zu töten. 

Um Filme wie Conjuring – Die Heimsuchung genießen zu können, gilt es die Prämisse des Paranormalen, nicht rational Fass- und Erklärbaren zu akzeptieren. Das sollte nicht weiter schwerfallen. Auch das Spektakel der Teufelsaustreibung ist spätestens seit Der Exorzist ein gängiges Element von Horrorfilmen. Wenn man nur Geschichten und Phänomene aus der uns bekannten, erklärbaren Welt gelten ließe, müsste man Filme wie etwa den Conjuring-Verwandten Poltergeist, Stanley Kubricks Horrorklassiker Shining oder auch das immer noch imposante Fantasy-Märchen E.T. – Der Außerirdische auslassen, und würde sich so um jede Menge unterhaltsame und bisweilen gar magische Kinomomente bringen. 

Der Schreck sitzt
Im Übrigen spart Conjuring – Die Heimsuchung bei der Wahl seiner filmischen Mittel nicht mit weiteren wohldosierten Standardzutaten aus dem Handwerkskoffer. Da schwillt die Filmmusik einige Male bedrohlich an, oder es folgen auf vorherige Stille plötzlich laute, schaurige Geräusche, die den Zuschauer im Sessel zusammenfahren lassen. Den gleichen Effekt verursachen Gesichter und andere Körperteile, die plötzlich wie aus dem Nichts (beziehungsweise aus der Dunkelheit) im Bild auftauchen oder verschwommen im Hintergrund zu sehen sind. Auch das Ensemble trägt seinen Teil zum Gelingen bei. Die Kinderdarstellerinnen vermitteln den Schrecken glaubhaft, und Lili Taylor macht als Muttertier und Scream-Queen keine schlechte Figur. 

Man muss also nicht an Dämonen, Hexen und die heilige Inquis…, Pardon, die römisch-katholische Kirche glauben, um an diesem sehr effektiven Genre-Film seinen höllisch-schaurigen Spaß zu haben. Der zudem beweist, dass sich mit vergleichsweise einfachen, herkömmlichen Techniken und ohne großen digitalen Aufwand nach wie vor wirksam Spannung und Grusel erzeugen lässt. „It scared the shit out of me”, wie der US-Amerikaner in solchen Fällen so treffend zu sagen pflegt. 

(30.07.2013, kultur-in-bonn.de)

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La grande bellezza – Die große Schönheit

Glanz und Elend der Urbanen

Porträt des Künstlers als alter Mann und der ewigen Stadt Rom in einem, hält Paolo Sorrentinos „La grande bellezza“ in jeder Sekunde und in jeder Hinsicht, was sein Titel verspricht. Eine meisterhafte Abhandlung über Schönheit und Vergänglichkeit, in berauschenden Cinemascope-Bildern. 


Auch Rom ist offenbar eine Stadt der Illusionen. Denn „es ist alles nur ein Trick“, so das ernüchterte Resümee des gealterten Schriftstellers, Journalisten und Kapitalen-Platzhirschen Guiseppe „Jep“ Gambardella. Sein mal melancholischer, häufig sarkastisch-zynischer und letztlich auch bitter-wehmütiger Blick gilt dem eigenen Leben und Werk ebenso wie einer Gesellschaft, die sich zu Tode amüsiert respektive in ihrem Amüsement, hochprozentigen Getränken und Drogen längst erstarrt ist – in einer Stadt, die urbi et orbi als Metapher für alle Metropolen von kulturellem und künstlerischem Rang stehen kann. La grande bellezza – Die große Schönheit wirkt nicht nur wie ein Kommentar über das zeitgenössische Italien und seine Hauptstadt-Society, sondern wie ein Abgesang auf eine ganze Epoche.

Eingekleidet hat Regisseur Paolo Sorrentino sein Sittengemälde in erlesene Bildkompositionen und Kamerafahrten von altem wie neuem Rom. Szenenbild und Fotografie haben eine Meisterleistung in Cinemascope vollbracht. Flankiert werden die streckenweise berauschenden Bilder von einer traumwandlerisch stilsicheren Musikauswahl, die zeitgenössische Vokal- und Instrumental-Kunstmusik inklusive geistlicher Choräle ebenso umfasst wie diverse Spielarten elektronischer Tanzmusik, die immer dann einsetzt, wenn die party animals der römischen High Society loslegen. 

Große Bildkunst
Nahezu jede Einstellung ist ein Kunstwerk für sich. Licht, Farben, Schatten und die Bewegungen der Figuren im Raum sind fein ausgemessen und abgezirkelt. Man müsste Sorrentino schon übel gesonnen sein, um ihm hier Kunstgewerblerei zu unterstellen oder einen der gängigen Vorwürfe wie „Kunstwillen“ zu machen. La grande bellezza zeigt vielmehr, dass visuelle Ästhetik und inhaltlicher Anspruch möglich sind, ohne film- und kunsthistorisch wie landeskundlich weniger vorgebildeten Zuschauern den Zugang zu erschweren. 

Ihren Teil dazu bei tragen die Dialoge, die Sorrentino zusammen mit Ko-Drehbuchautor Umberto Contarello schrieb, und das großartige Schauspielerensemble, allen voran Toni Servillo in der Rolle des Jep Gambardella, der als Flaneur, Salonlöwe und Sinnsucher das Zentrum dieses Films bildet. Eine perfekt (selbst)-inszenierte Figur, die in fast jeder Szene einen anderen lässig-eleganten Anzug trägt, ob als Partygastgeber und Zeremonienmeister in Personalunion, oder als durch Roms Tages- wie Nachtleben streifender Dandy. Ein Zyniker zwar, der an seinem 65. Geburtstag beschlossen hat, keine Zeit mehr mit Unwesentlichem zu verschwenden, aber geerdet ist durch die Gespräche mit seiner schlagfertigen Haushälterin, seiner kleinwüchsigen Chefredakteurin Dadina, deren ungebrochene Neugier nach eigener Aussage auch damit zu tun hat, dass sie die Welt „seit sechzig Jahren aus der Perspektive des Kindes“ betrachtet, und seinem guten Freund und Theaterautor Romano, der schließlich Rom nach fast vierzig Jahren enttäuscht den Rücken kehren wird. 

Zwischen Komödie und Drama
So unterschiedlich die Figuren und Szenerien, so unterschiedlich die jeweiligen Tonlagen. Auf schrille Party-Szenen folgen gnadenlos offene Worte oder verletzendes Desinteresse, beißend komischer Witz wechselt mit sanfter Ironie. Einer Performance-Künstlerin, deren Performance als herausragende Merkmale Nacktheit und Selbstverletzung eigen sind, wirft Jep im anschließenden Interview vor, zu „labern“ und nichts als Blabla von sich zu geben. Um die Kunst scheint es wirklich nicht gut bestellt zu sein: Höhepunkt einer Party ist ein „Event“, bei dem ein Kind unter lautem Weinen und Stöhnen im Action-Painting-Stil Farben auf eine Leinwand und sich selbst wirft, um sie dann später zu künstlerischen Formen zu verschmieren (und, wie Jep seiner verstörten Freundin Ramona erklärt, damit „Millionen zu verdienen“). Einen besonderen Thrill verschafft es der Partygesellschaft auch, wenn eine ihrer Salonlöwinnen sich einem Zirkus-Messerwerfer als Ziel zur Verfügung stellt. Für einige komische Höhepunkte sorgt zudem die Figur des Kardinal Belluci, der zwar nicht viel Spiritualität im Angebot hat, es mit seinen Rezepttipps aber in jede TV-Kochshow schaffen würde. 

Mit der 42-jährigen Ramona, die im Nachtklub ihres Vaters – der wiederum ein alter Freund von Jep und „mit fünfzig von Kokain auf Heroin“ umgestiegen ist – als Stripperin arbeitet, erlebt Jep immerhin noch einmal so etwas wie glücksbringende Nähe. Und schließlich wird ein Illusionist, der eine Giraffe verschwinden lässt, ihm den entscheidenden Hinweis geben: „Es ist alles nur ein Trick.“ So erhält Jep, der mit knapp dreißig ein Meisterwerk namens „Apparat Mensch“ und danach nie wieder ein Buch geschrieben hat, die Idee für einen neuen Roman, der ihm helfen könnte, seine ernüchternden Erkenntnisse über das Leben und die Vergänglichkeit aller Schönheit auszuhalten. Denn seine Reflexionen und Sinnsuchen haben Jep inzwischen an den Anfang, und damit den Verlust der primären „grande bellezza“ zurückgeführt: zu seiner ersten, kürzlich verstorbenen Jugendliebe Elisabetta und jenem Moment, an dem sie zum ersten Male ihre Brüste vor ihm entblößte. 

Bestes Autorenkino in der Tradition Fellinis
Flaubert hat sein ambitioniertes Vorhaben, einen „Roman über das Nichts“ zu schreiben, das Jep im Film zitiert, nie in die Tat umgesetzt. Sorrentino ist es mit La grande bellezza gelungen, einen nahezu perfekten, ungeheuer bilderreichen Film über die Leere einer seelisch entkernten Kunst- und Kultur-Society zu schaffen. Das Thema des scheiternden Intellektuellen, der scheinbaren Vergeblichkeit aller künstlerischen Anstrengung, der Dekadenz und des ennui mag nicht neu und schon in diversen Ausprägungen künstlerisch verarbeitet worden sein, doch ist es selten mit solcher Brillanz verfilmt und auf den Punkt gebracht worden wie in La grande bellezza. Wahrheit und bitterer Witz liegen in den Gesprächen der gealterten „Helden“, wenn sie Bilanz ihrer beschädigten Leben ziehen und Jep zu der Erkenntnis gelangt, dass man sich die kurze zur Verfügung stehende Lebensspanne mit möglichst wenig überflüssigem Blabla zuschütten lassen sollte.

La grande bellezza steht in der besten Tradition des europäischen und italienischen Autorenkinos, und bietet dabei viel mehr als eine bloße Fortschreibung von Fellinis La Dolce Vita und Roma, deren prägenden Einfluss der Fellini-Verehrer Sorrentino gleichwohl kaum abstreiten würde. Nach den bereits äußerst sehenswerten II Divo und Cheyenne – This Must Be The Place ist Sorrentino nun ein großer Wurf gelungen, der noch lange nach Verlassen des Kinos nachhallt und einem das Gefühl gibt, etwas Außergewöhnliches gesehen zu haben. Unter all den mehr oder weniger gelungenen Komödien, Krimis, actioners und sonstigen Genre-Filmen dieses Jahrgangs ist das Kunstwerk La grande bellezza geradezu eine Wohltat.

(23.07.2013, kultur-in-bonn.de)

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The Company You Keep – Die Akte Grant
 
A blast from the past - Vergangenheitsbewältigung

Im Zentrum von Robert Redfords „The Company You Keep – Die Akte Grant“ steht ein seit mehr als 30 Jahren unschuldig verdächtigter politischer Aktivist der 70er-Jahre. Solides Spannungskino im Stil eines 70er-Jahre-Thrillers, dessen Auflösung allerdings nicht recht überzeugen kann. 


Verfolgungsjagden auf Unschuldige lenken die Sympathien des Zuschauers ganz automatisch in Richtung des Opfers. So kann sich auch der verwitwete Anwalt Jim Grant alias Nick Sloan (Robert Redford) unserer Anteilnahme sicher sein, als die Verhaftung seiner früheren politischen Weggefährtin Sharon Solarz (Susan Sarandon) ihn zwingt, mit seiner 11-jährigen Tochter Isabel zu flüchten. Zwar hat Sharon kein Wort über Jim alias Nick verlauten lassen, doch der auf den Fall angesetzte junge Reporter Ben Shepard (Shia LaBeouf) hat im Zuge seiner Recherchen die wahre Identität des Anwalts herausgefunden und die Neuigkeit veröffentlicht. Darauf bläst das FBI zur landesweiten Jagd, denn Nick Sloan wird seit 1980 wegen Mordes an einem Wachmann gesucht, der bei einem Banküberfall der militanten Untergrundorganisation „Weather Underground“ erschossen wurde. Auch der Jungreporter heftet sich an die Fersen von Jim / Nick, denn er wittert eine noch größere Story. 

Die einzige Person, die mit ihrer Aussage dafür sorgen könnte, dass alle Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden, ist Nicks damalige Kampfgefährtin und Geliebte Mimi Lurie (Julie Christie), über deren Verbleib ihm jedoch keine Informationen vorliegen. Der Zuschauer erfährt derweil, dass Mimi ebenfalls seit mehr als 30 Jahren untergetaucht ist, inzwischen das halbe Dutzend an Alias-Identitäten voll hat und mit dem Drogenschmuggler Mac zusammenlebt. Über ein Netz diverser ehemaliger „Weathermen“ versucht Nick, an Mimi heranzukommen, nachdem er vorher seine Tochter in die Obhut seines nicht vorbelasteten Bruders Daniel übergeben hat. 

Verfolgungsjagd quer durch die Staaten
Wie auf einer Schnitzeljagd geht es nun kreuz und quer durch die USA, und auch das ist trotz oder gerade wegen Redfords dem Stil der 70er verhafteter Inszenierung immer noch recht abwechslungsreich und spannend. Denn unter den alten Kampfgefährten befinden sich erwartungsgemäß unterschiedliche Typen mit auseinander driftenden Post-Aktivismus-Lebensläufen. Nicks damaliger bester Freund Donal (Nick Nolte) ist mittlerweile ein eher rustikaler Sägewerksbesitzer. Er hat zwar keine Informationen über Mimi, weiß aber, wer weiterhelfen könnte: Der inzwischen zum Universitätsprofessor für Geschichte arrivierte frühere Mitkämpfer der "Students for a Democratic Society" (SDS) Jed Lewis (Richard Jenkins). Jed und Nick können sich zwar nicht sonderlich leiden, doch schließlich stellt Jed den Kontakt zu Mimis Lebensgefährten Mac her. Der übermittelt Nick telefonisch eine verschlüsselte Nachricht, aus der er Mimis Aufenthaltsort schließen kann. Und damit steuert die Jagd auf ihr Finale zu. 

So weit, so gut; nebenbei haben auch ein paar ironische Seitenhiebe auf den Zustand von Presse und Journalismus und eine Portion (Galgen-)Humor in den Gesprächen der alten Kämpen für zwischenzeitlichen comic relief gesorgt. Und zu dem ohnehin schon imposanten Staraufgebot in den Haupt- und Nebenrollen gesellen sich weitere Schwergewichte wie Chris Cooper, Sam Elliott, Brendan Gleeson und Stanley Tucci. 

Politischer Hintergrund kommt zu kurz
Dass The Company You Keep am Ende dennoch keinen überzeugenden Eindruck hinterlässt, liegt zum einen an seiner Schlussauflösung. Da müssen zwei Figuren Entscheidungen treffen, die für sie selbst und für andere Beteiligte von existenzieller Bedeutung sind. Und so, wie man sie vorher kennengelernt hat, wirken weder Bens noch Mimis Wahl hinreichend motiviert oder nachvollziehbar. 

Ebenso gravierend ist zum anderen, dass der Film in Bezug auf die politischen Hintergründe vage bleibt. Man erfährt zu wenig über die 70er-Jahre und die Aktivitäten von SDS und Weather Underground, der im Zuge der Antivietnamkriegsbewegung entstand und bis heute kontroverse Einschätzungen zwischen ‚linksradikal‘ und ‚terroristisch‘ hervorruft. Eindeutig Position beziehen im Film nur Mimi und Sharon. Beide betonen unabhängig voneinander, dass sich an den Gründen, die damals zu ihrer Radikalisierung führten, nichts geändert habe. Nur in ihrer Haltung zur direkten Beteiligung an Aktionen macht Sharon eine klare Einschränkung: Wenn sie keine Kinder hätte oder alte Eltern, um die sie sich kümmern wolle, dann würde sie genauso handeln wie damals, nur klüger, durchdachter und besser (soll wohl heißen, ohne dass Unschuldige zu Tode kommen könnten). 

Persönliches Drama steht im Vordergrund 
Das unterscheidet sich zwar grundsätzlich nicht von der Sicht, die Nick bei seinem Wiedersehen mit Mimi vertritt, wohl aber im Tonfall. Denn es wirkt auf seltsame Weise distanziert und für Redford-Verhältnisse befremdlich nahe am konservativen Mainstream, wie Nick erklärt, dass Mimi und er damals alles falsch gemacht und sich nicht um das eigentlich Wesentliche gekümmert hätten, nämlich ihre inzwischen über 30-jährige gemeinsame Tochter, die sie wegen ihrer politischen Aktivitäten zu Pflegeeltern gaben. 

So bleibt The Company You Keep letztlich eine zwiespältige Angelegenheit. Von Robert Redford hätte man eine differenziertere filmische Betrachtung politischer und geschichtlicher Zusammenhänge erwartet. Für die Regie eines – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendwann kommenden – Films über Edward Snowden hat er sich damit jedenfalls nicht unbedingt qualifiziert. 

(24.07.2013, kultur-in-bonn.de)

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Unplugged: Leben Guaia Guaia

Das Lied der Straße 

Für seinen Dokumentarfilm „Unplugged: Leben Guaia Guaia“ hat Regisseur Sobo Swobodnik das junge Straßenmusiker-Duo Guaia Guaia monatelang on the road begleitet. Der sehenswerte Film lebt vom Witz seiner ebenso unverstellten wie konsequenten Protagonisten. 


Davon, dass man seinen Traum leben solle, erzählt gerne und oft die Werbung. Allerdings ist die Verwirklichung dieser Art von Träumen in der Regel an den Erwerb von Produkten gebunden. Den passenden Gegenentwurf dazu liefert eine englische Redewendung: The best things in life are free. Diese Freiheit meinen und nehmen sich Elias Gottstein und Carl Luis Zielke alias Guaia Guaia, wenn sie singen: „Ich tue, was ich liebe, der Rest kommt von alleine“. In ihrem Fall heißt tun, was man liebt, gemeinsam Musik zu machen – als Straßenmusiker, die ohne festen Wohnsitz mit Rucksäcken und Equipment-Koffern per Bahn von Ort zu Ort ziehen und in Fußgängerzonen auftreten. Das Rhythmusbett kommt aus dem Laptop, dazu gesellen sich Verstärker, Gitarre, Posaune und Gesang. Und gelegentlich kommt auch mal die Staatsmacht vorbei und beendet Konzerte, wenn um Punkt 22 Uhr vorschriftsgemäß die Bürgersteige hochgeklappt werden müssen. 

So etwas kann die Protagonisten von Unplugged: Leben Guaia Guaia natürlich nicht erschüttern. Elias und Luis, beide 1989 geboren und in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, lernten sich in der Schule in Neubrandenburg kennen und fanden bald heraus, dass sie gemeinsam Musik machen wollen. Seit Abschluss ihres Zivildienstes sind die zwei als Guaia Guaia unterwegs, mit teils radikalen, politischen und gegen den allgegenwärtigen Konsumismus gerichteten Liedtexten. Ihren alternativen Lebensstil leben sie auf entwaffnend unverstellte und konsequente Weise vor. Hier haben zwei anscheinend einen Weg gefunden, das Konzept vom „guten Leben“ in die Tat umzusetzen. 

Living on the edge
Regisseur Sobo Swobodnik hat Elias und Luis über Monate begleitet und jede Menge erinnerungswürdige wie komische Szenen eingefangen. In Oberammergau etwa sind ihm besonders schöne Bilder von verschreckten bis neugierigen Eingeborenen gelungen. Im Freien übernachten müssen die beiden trotzdem nicht, denn es finden sich auch in der Passionsspielstadt ein paar jüngere, musikbegeisterte Gastgeber. An anderer Stelle lernen Guaia Guaia einen ehemaligen Deutschland-sucht-den-Superstar-Kandidaten kennen, der eine Kostprobe seiner Gesangskünste gibt und über die DSDS-Jury lästert – und zum Schluss fragt, ob er noch jemanden grüßen kann. 

Als Luis und Elias nach einem weiteren Konzert einen Schlafplatz in einer Studenten-WG gefunden haben, vermittelt eine der Gastgeberinnen per Telefon gleich die nächste Übernachtungsgelegenheit bei ihren Eltern in Düsseldorf. Das liefert die Steilvorlage für einen erheiternden Schnitt: In der auf das Telefonat in der engen WG folgenden Einstellung sieht man das prächtige Haus der Eltern mit Garten und Whirlpool, in dem die beiden unermüdlichen Straßenmusikanten es sich denn auch mal gut gehen lassen dürfen. In der Regel gehört fließendes Wasser allerdings eher zu den Luxusgütern des Lebens, das Guaia Guaia führen. Immerhin verfügen sie aber auch über eine Art Stütz- und Ruhepunkt bei einem gemeinsamen guten Freund aus Schulzeiten, mit dem sie bei jedem Zwischenstopp einen Berg Post durchgehen müssen. Von den gesammelten Rechnungen und Mahnungen lässt man sich dabei als Obdachloser ohne Krankenversicherung und Bankkonto selbstredend nicht aus der Ruhe bringen. 

Unplugged: Leben Guaia Guaia gibt bei alledem keine romantisierte oder ästhetisierte Darstellung des Straßenmusikerlebens. Improvisieren heißt es für die beiden nicht nur in musikalischen Kontexten. Da muss auch mal in dem still gelegten Bahnhof, in dem sie ein Gebäude zum vorübergehenden Arbeits- und Wohnraum umfunktioniert haben, Strom abgezapft werden, damit Rechner und Heizkörper laufen. (Und in einer Szene erweist sich ein Presseausweis wenigstens noch als nützlicher Türoffner, wenn schon überall Presserabatte gestrichen werden.) Zur Nahrungsbeschaffung ist das seit Taste the Waste geläufige „Containern“ (auch als „Mülltauchen“ bekannt) unverzichtbar. Lohn der Mühen: Bananen-Milchshake bis zum Abwinken. 

Gejammer oder Frust über mangelnden Komfort und fehlende Sicherheit ist an keiner Stelle des Films zu hören oder zu sehen – und, wie Regisseur Sobo Swobodnik im Publikumsgespräch nach der Premierenvorführung im Kölner Cinenova erklärte, auch nicht unterschlagen worden. Beide Protagonisten zeichne vielmehr eine bewundernswerte Haltung aus, selbst als Elias sich während der Dreharbeiten eine Lungenentzündung eingefangen habe. 

It’s revolution, baby
Ohnehin schält sich im Laufe des Films der Eindruck heraus, dass Guaia Guaia bei allem Spaß an ihrem anarchischen Lebensstil und dem Flirt mit dem „Penner-Chic“ die Tonkunst sehr ernst nehmen. Die Szenen, in denen sie am Rechner neue Stücke komponieren, zeigen zwei konzentriert arbeitende Musiker. Die konnte man nach der Premiere ebenfalls live erleben und feststellen, dass sie in Publikumsgespräch und Konzert ebenso unverstellt und wahrhaftig wirken wie zuvor im Film. So wurde das Foyer des Cinenova kurzerhand zur Bühne für den treibenden, wuchtigen Elektro-Pop/-Punk von Guaia Guaia. Und man bekam Gelegenheit, eines der am meisten unterschätzten Instrumente in der Popmusik näher kennenzulernen: Die Posaune, die mehr als nur Ersatz für einen mächtigen, dröhnenden Bass ist. 

Guaia Guaia verfügen zweifellos über Ausstrahlung und Star-Potenzial, und sie wären perfekte Kandidaten für eine fortgesetzte Langzeitdokumentation. Den Publikumspreis des Internationalen Filmfests München 2012 hat Unplugged: Leben Guaia Guaia bereits gewonnen. Stellt sich nur die Frage, die auch im Publikumsgespräch in Köln aufkam: Wie lange können sie so weitermachen? Und wie lange lässt der Vertrag mit einem Major-Label, den sie inzwischen abgeschlossen haben, sie weiter so gewähren? Werden sie nun zwangsläufig zu Popstars und im Mainstream ankommen? 

Abwarten. Erst einmal erscheint dieser Tage ihre CD Eine Revolution ist viel zu wenig. Darunter machen sie’s nicht. 

Termine:
www.kinotermine.unpluggedleben.wfilm.de/

(12.07.2013, kultur-in-bonn.de)

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Man of Steel

Die Rückkehr des Stahlträgers

Zack Snyders „Man of Steel“ erzählt die “Superman”-Geschichte anders und in 3D – recht spannend zwar, aber auch superlang. Ein in technischer Hinsicht rasantes Update, das den bekannten Motiven und Figurentypen des Superheldengenres nichts Neues hinzufügt. 


Fangen wir mit dem nicht so Guten an: Man of Steel ist, wie viele Superhelden-Filme (siehe The Avengers, The Dark Knight Rises), zu lang. 20-30 Minuten weniger als 140 hätten es auch getan. Insbesondere beim finalen Kampf zwischen Gut und Böse haben Techniker und Effektspezialisten an den Rechnern offenbar so großen Gefallen daran gefunden, Kampfsequenzen zu gestalten, dass sie gar nicht mehr damit aufhören konnten. Auch nicht unbedingt auf der Habenseite zu verbuchen ist die häufig viel zu stark heroisch dröhnende Filmmusik von Hans Zimmer. Und dass Superheldengeschichten sich im Kern alle ähneln und den ewigen Konflikt zwischen hellen und dunklen Mächten mit immer geringeren Variationen abbilden, ist angesichts der Häufung entsprechender Filme in den letzten Jahren unübersehbar geworden. Aus diesem more of the same ragt auch Man of Steel nicht heraus. 

Es hilft nicht viel, dass der Held sich durch spezielle, außergewöhnliche Fähigkeiten und unverwechselbare Charakterzüge von den Kollegen unterscheiden soll – sei es ein grüblerischer Zweifler wie Batman, ein Ironiker mit leichtem bis mittelschwerem Hang zum Größenwahn wie Iron Man oder eben der Man of Steel alias Kal-El alias Clark Kent alias Superman, der auf der Suche nach der eigenen Herkunft, dem Ursprung seiner Superkräfte und seiner eigentlichen Bestimmung ist. (Zum Start von Man of Steel ist übrigens im Guardian eine lesenswerte Polemik über das Superheldengenre als solches erschienen.)

Gut und Böse gut gecastet
Zu einem zünftigen Konflikt gehört natürlich auch ein Superschurke mit einem gewissen Format. Hier ist es General Zod, Militärchef des untergegangenen Planten Krypton, der zwecks Überlebens seines Volkes aus der Erde ein neues Krypton machen möchte, Auslöschung der Erdlinge inbegriffen. Eine passende Aufgabe für Michael Shannon, dessen schon leicht zerfurchtes, kantiges Gesicht auf eins neunzig Höhe ihn für solche Rollen zu prädestinieren scheint. Shannon ist sich der Wirkung durchaus bewusst: „Well, there seems to be something inherently intense about my face - I guess my bone structure.” (So zitiert bei www.imdb.com.) 

Auch bei der weiteren Besetzung sind keine Missgriffe unterlaufen. Amy Adams als Reporterin Lois Lane und Henry Cavill als Clark Kent Superman machen nichts falsch – wobei Cavill gewöhnungsbedürftiger ist, was mit dem langen Schatten des verstorbenen Christopher Reeve und der weitaus mehr zur Identifikation einladenden Anlage seines damaligen Superman-Charakters zu tun hat. Weshalb Clarke und Lois sich zueinander hingezogen fühlen, wird in Zack Snyders reboot allerdings nicht so recht klar. Dass Clarkes Entwicklungsgeschichte um die Entdeckung und Verbergung seiner Superkräfte teils in Form von Rückblenden und mit Auslassungen erzählt wird, wirkt wie ein Versuch, dem Film in Sachen Storytelling ein irgendwie hippes Gewand zu verpassen und ihn künstlerisch ambitionierter erscheinen zu lassen. Das hätte man sich auch schenken können. 

Russell Crowe hat als Superman-Vater und kryptonischer Chef-Wissenschaftler Jor-El zwar nur einige Auftritte – zunächst als Lebend-Charakter, dann als visualisiertes Bewusstsein, das er vor dem Krypton-Untergang noch schnell auf einem Datenträger konserviert hatte, was bei seinem finalen Disput mit Zod für eine der wenigen Szenen mit komischem Einschlag sorgt. Doch Crowes Präsenz ist ebenfalls sehr intensiv, und er verfügt wie Shannon über eine dunkle, sehr markante Stimme, weshalb der Besuch von Original oder OmU eine Überlegung wert sein könnte. Weitere Stars in Nebenrollen umrahmen den Man of Steel: Diane Lane und Kevin Costner als Eltern Kent sowie Laurence Fishburne in der Rolle des „Daily Planet“-Chefredakteurs Perry White. 

Hard- und Software harmonieren
Doch in einen Film mit 3D-Zuschlag gehen Zuschauer vermutlich nicht primär wegen der Schauspieler. Sie wollen Schauwerte, production values geboten bekommen. Dafür haben die Macher von Man of Steel denn auch mit Alex McDowell (Fear and Loathing in Las Vegas, Fight Club, Minority Report, Charlie and the Chocolate Factory, The Watchmen) einen der profiliertesten und renommiertesten seines Fachs production design engagiert, der die Sets und somit die „Hardware“ gestaltet. Die ist in diesem Fall mit der Software und den von den Computeranimations-Experten geschaffenen Bilderwelten eine über weite Strecken imposante Verbindung eingegangen. Eindrucksvoll sind beispielsweise zu Beginn die an Avatar erinnernden Einlagen mit Flugtieren und -objekten. Bei den Schlachtszenen und Zerstörungsorgien in, um und über Metropolis geht genreüblich so einiges mit Tempo zu Bruch. Gleichwohl lässt sich weiterhin darüber streiten, ob 3D nun tatsächlich neue Ausdrucksformen oder doch eher nur zusätzliche Einnahmequellen via 3€-Zuschlag erschließt.

Die Sets und sein Look sind das größte Pfund, mit dem Man of Steel wuchern kann. Gelegenheit zum comic relief bietet Zack Synders Comic-Interpretation indes nur wenig. Der Regisseur ist ein routinierter Hollywood-Handwerker; Charme und Humor der Superman-Verfilmung von Richard Donner (1978) gehen seinem reboot ab. Immerhin lässt er Superman einmal eine teure Drohne verschrotten und eine klare Ansage an die erbosten US-Militärs richten: Ich bin nicht gegen euch, aber ich spiele das Weltretter-Spiel auf meine Weise. 

(19.06.2013, kultur-in-bonn.de)

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Die Monster Uni (Monsters University)

Ausbildung zum Schreckgespenst

„Die Monster Uni“ liefert die Vorgeschichte zur „Monster AG“. Bevor die Monster Mike und Sulley Freunde werden können, müssen sie erst einmal ihre gründliche gegenseitige Abneigung überwinden. Die Story mit disneytypischen Handlungsmustern und Figuren, die computeranimierten Szenerien in gewohnter Pixar-Qualität. 


Warum sich über ein Sequel den Kopf zerbrechen, wenn auch ein Prequel geht? Wie schon einige andere populäre und an den Kassen erfolgreiche Filmstoffe (Star Trek, Planet der Affen) hat nun auch die Monster AG (2001) eine Vorgeschichte bekommen. Deren Hauptfiguren sind wiederum Mike und Sulley, dieses Mal in jüngeren Jahren. Beide besuchen die Monsters University (MU) und wollen dort zu „Schreckern“ ausgebildet werden, die des Nachts kleine Kinder im Schlaf mit grauslichen Fratzen und Grimassen erschrecken, damit aus deren markerschütternden, durchdringenden Schreien Energie zur Stromerzeugung von Monstropolis gewonnen werden kann. Soweit die Grundidee, auf der bereits Monster AG fußte. 

In Die Monster Uni (Monsters University) geh es nun darum zu zeigen, wie die so unterschiedlichen Mike Glotzkowski und James P. „Sulley“ Sullivan sich kennenlernen – in einer nicht gerade unbekannten Konstellation: Die beiden können sich nämlich zunächst überhaupt nicht leiden. Auch äußerlich bilden sie ein Paar der Gegensätze, das winzige wandelnde Glubschauge Mike und das riesige Zottelviech Sulley (dessen Anblick den schönen Nebeneffekt zeitigt, einen der lustigsten Hits aus der Sesamstraße ins Gedächtnis zurückzurufen: Pelzig und blau).

Together we stand, divided we fall
Beide sind sie mehr als nur ein bisschen neurotisch. Sulley versucht mit seiner Großspurigkeit Versagensängste zu überdecken, Mike mit riesigem und leicht größenwahnsinnigem Ehrgeiz, etwas ganz Besonderes zu schaffen und zu sein. Selbstredend läuft es an der Uni nicht so wie gewünscht, und es dauert nicht lange, bis sie, zunächst jeder für sich und später gemeinsam, neben einer Menge Ärger auch Hohn und Spott auf sich ziehen. Im wahrsten Sinne des Wortes nassgemacht werden sie in einer – offensichtlich Brian de Palmas Carrie zitierenden – Szene von den arroganten, sich einer Elite zugehörig wähnenden Doofmonstern der Studentenverbindung „Roh Omega Roh“ (ROR). Dem Gespött preisgegeben und erniedrigt, droht Sulley und Mike zu allem Übel gar der Verweis von der Uni. Erst durch die Teilnahme an den jährlichen studentischen „Schrecker-Spielen“, für die sie sich mit ein paar anderen vermeintlichen Losern der Verbindung „Omega Kreischma“ (OK) zusammentun, merken die beiden, dass sie Abneigungen überwinden müssen, um gemeinsam etwas erreichen zu können. Und in den OK-Underdogs schlummern natürlich einige verborgene Talente, die der Truppe beim Wettbewerb noch zupass kommen werden. 

Es ist also eigentlich alles wie immer bei Disney. Die Botschaft („Gemeinsam sind wir stark“) muss stimmen und fürs Kinder- und Jugendpublikum verständlich und verdaulich verabreicht werden, ohne durch allzu viele Flachheiten und moralisch erhobene Zeigefinger die Erwachsenen zu langweilen. Das gelingt im Großen und Ganzen, zumal gelegentlich auch etwas Witz und Anspielungen für die Älteren durchschimmern. Etwa wenn am Beispiel der studentischen Verbindungen innerhalb der MU und der Rivalität zwischen MU und „Schreck-Tech“, inklusive ihrer jeweiligen Symbole und Maskottchen, der Konkurrenzkampf an und zwischen Elite-Universitäten der ivy league aufs Korn genommen wird. 

Die Action kommt nicht zu kurz, schließlich sind diese Monster zum Erschrecken da. Was Sulley und Mike in einer Szene auf vergnügliche Weise unter Beweis stellen, als sie improvisieren müssen, um einen Haufen Erwachsene in Angst und Panik zu versetzen. Wie üblich bei Filmen mit Pixar-Beteiligung sorgen letztlich vor allem die fantasievollen computeranimierten Szenerien und Figuren dafür, den Zuschauer bei der Stange zu halten – trotz einiger etwas bemüht wirkender Ent- und Verwicklungen der Handlung. 
 
(19.06.2013, kultur-in-bonn.de)

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Trainer!

Lizenz zum Trainieren 

Nach dem Fußballer-Porträt „Tom Meets Zizou“ hat sich Aljoscha Pause in einer weiteren Dokumentation nun die Protagonisten an der Seitenlinie vorgenommen. Eine gekürzte Fassung von „Trainer!“ lief bereits vor dem Kinostart im WDR-Fernsehen und macht Appetit auf mehr. 


Der Kurzinhalt von Trainer! würde in Anlehnung an den ZDF-Experten und vormaligen Torhüter Oliver Kahn (nein, der ist im Film nicht dabei) ungefähr wie folgt lauten: Druck, Druck, du hast immer Druck. Die ganze Bundesliga ein Druckkessel, der Fußball ein Druck-Erzeugnis. Und die Dompteure am Spielfeldrand stehen unter besonders mächtigem Druck, weil unter nahezu permanenter Beobachtung, wie es der für den Film befragte Thomas Schaaf ausspricht und in dieser Saison selbst leidvoll erlebt hat: „Wo gibt es das denn sonst, dass ein Angestellter jeden Tag öffentliche Leistungsbeurteilungen aushalten muss?“ 

Aljoscha Pauses Dokumentation Trainer! dauert in der Fernsehfassung 90 Minuten und ist weitaus spannender und unterhaltsamer als so manches Ligaspiel. Der Film kommt ohne voice over-Kommentar aus und verhandelt sein Thema anhand von Stimmen der Beteiligten, mit „sprechenden Köpfen“ im Interview sowie Szenen aus Kabinen, Trainingseinheiten, Spielen und Pressekonferenzen. Auf diese Weise meistert der Regisseur und Autor souverän den Spagat zwischen Anteilnahme am fußballerischen Geschehen und der gebotenen professionellen Distanz und Sorgfalt des Dokumentaristen.

Im Kino wird es 45 Minuten Nachspielzeit obendrauf geben, und es ist kaum anzunehmen, dass der ebenso aufschlussreiche wie amüsante Film auf dieser längeren Strecke irgendetwas von seiner Wirkung einbüßt. Vielleicht kommt ja darin Hans Meyer noch öfter zu Wort, der schon in der Fernsehfassung mit einigen treffenden Bemerkungen glänzt. Ein Trainer, so zitiert Meyer seinen früheren Lehrmeister und DDR-Auswahltrainer Georg Buschner (ja genau, der wo 1974 mit Sparwasser 1-0), habe entweder eine natürliche Autorität oder gar keine. Mit irgendwelchen „Zusatzmitteln“ kriege man sie jedenfalls nicht. Eine Aussage, die unmittelbar einleuchtet, ebenso wie Meyers Ausführungen über das Rausschmiss-Ritual: Die unwürdigen wochenlangen Spielchen vor einer Trainerentlassung ließen sich problemlos abkürzen – aber dann hätten die Medien weniger zu berichten.

Die drei von der Druckstelle
Zwei der drei in Trainer! über die gesamte Saison 2012/2013 einer Langzeitbeobachtung unterzogenen Übungsleiter können dies vermutlich bestätigen. André Schubert (FC St. Pauli) und Stephan Schmidt (SC Paderborn) wurden vor Saisonende ihren Job los, der eine schon zu Beginn der Spielzeit, der andere zwei Spieltage vor Schluss. Auch Nummer drei „klebte das Pech am Stiefel“ (Reporterjargon): Frank Schmidt verpasste mit dem 1. FC Heidenheim am letzten Spieltag das Relegationsspiel um den Aufstieg in die Zweite Liga. Drei unter Druck – die typische und tägliche Trainersituation.

Dass die Druckschraube im Fußballgeschäft in absehbarer Zeit einmal überdreht werden könnte, spricht immerhin der ebenfalls interviewte DFB-Trainerlehrgangsleiter Frank Wormuth an; über die Auswirkungen des beschleunigten Lebens und der übertourenden und immer weniger reflektierenden Nachrichtenmedien sagt Michael Oenning einige bemerkenswerte Sätze. Was all das aus Menschen und ihrer Psyche macht, wird bei der Langzeitbeobachtung der drei Protagonisten Frank Schmidt, Stephan Schmidt und André Schubert allmählich klar: Eine totale Erfolgsfixierung (Stephan Schmidt: „Ich werde einmal Erste Liga trainieren, das ist Fakt“), die Auswirkungen bis ins Privatleben hat. Frank Schmidt kann nicht einmal seine Kinder beim Mau-Mau gewinnen lassen. Kein Witz, er gibt das im Film so zu Protokoll. Nicht nur aufgrund solcher Aussagen hinterlässt keiner der drei einen rundum sympathischen Eindruck. Es könnte allerdings auch sein, dass es in dieser Branche als geschäftsschädigend aufgefasst werden würde, für sympathisch gehalten zu werden. 

Das gelegentliche Erschrecken über sich selbst und die eigenen verzerrten Grimassen auf den Pressefotos kennt auch ein Jürgen Klopp. Aber sie werden alle, ob erste oder dritte Liga, weitermachen wie bisher und auch künftig das beziehungsweise am Rad drehen. Dass irgendein Trainer einmal Nein zu einem Verein sagt, weil er sich an den Fingern einer Hand ausrechnen kann, dass die mit einem Engagement verbundenen Erwartungen und Ziele nicht zu realisieren sind, schließt Eintracht-Frankfurt-Coach Armin Veh jedenfalls aus. 

Nur Brüllaffe und Rumpelstilzchen geht nicht mehr
Dazu steckt auch viel zu viel Geld in diesem Spiel. Fußball ist ein Produkt geworden, das auch die Trainer zu bewerben haben. Also verkaufen sie sich nach außen heute anders als früher. Wer nur Brüllaffe und Rumpelstilzchen an der Seitenlinie kann, wird in diesem Geschäft nichts mehr. Dafür sorgen nicht zuletzt auch die zunehmende Verwissenschaftlichung, Lehrgänge, Videoanalysen, elektronische Taktiktafel et cetera, und die nahezu ständige Kamerabeobachtung. So entwickeln die meisten Trainer anforderungsgemäß einen Doppelcharakter: Sie sollen auf der einen Seite smart und eloquent wirken, gleichzeitig aber auch Kampfgeist und „Leidenschaft“ verkörpern. Leidenschaft war nie ein Doofwort, doch angesichts seines permanenten Ge- und Missbrauchs im Fußball mag man inzwischen gar nicht mehr von ihr sprechen. Immerhin lässt sich den in Trainer! befragten Trainern, Spielern und sonstigen Funktionsträgern bescheinigen, dass sie hier durchweg artikulierter und reflektierter erscheinen als üblicherweise im Rahmen von TV-Interviews. 

Eines gilt es jedoch auch festzuhalten: Mag die Ansprache der Trainer heute flexibler und rhetorisch ausgefeilter sein, an der Kernbotschaft „Geht raus und fresst Gras“ hat sich im Großen und Ganzen nicht viel geändert. Gezielte gelegentliche Brülleinlagen bleiben ebenfalls obligatorisch. Und Autorität, siehe Hans Meyer, muss ein Trainer ohnehin haben beziehungsweise sich gleich nach Dienstantritt verschaffen. Also rühren die meisten eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche an, hart aber herzlich, was auf den außenstehenden Betrachter allerdings bald aufgesetzt und stereotyp wirkt. Doch wie sagt DFB-Trainerausbilder Wormuth so schön: „Emotional ist grundsätzlich gut.“ Das stimmt zumindest insofern, als man ein Rumpelstilzchen an der Seitenlinie in Kauf nimmt, solange man nicht elf Rumpelfüßlern auf dem Spielfeld zugucken muss. 

Es mag nicht die Absicht hinter diesem Film gewesen sein, aber ganz nebenbei wird während des Schauens von Trainer! auch klar, auf welch groteske Weise der Fußballsport in der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung mittlerweile aufgebläht und überbewertet ist. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Wenden wir uns lieber der Frage zu, welch anderes Thema Aljoscha Pause in einer weiteren Fußball-Dokumentation abhandeln könnte. Nach Spielern und Trainern böten sich ja nun die Spielerfrauen an. Schließlich hat die inzwischen in den Rang eines Meilensteins der unfreiwilligen Komik aufgestiegene Fernsehdoku Spielerfrauen – in der unter anderem Grasfressertrainer-Legende Rolf Schafstall zu Wort kommt – auch schon fast 30 Jahre auf dem Buckel. 

Termine:

So. 16.06.2013 - Bonn - Rex Lichtspieltheater
u.a. mit Aljoscha Pause

So. 07.07.2013 - Köln - Odeon
u.a. mit Frank Wormuth, Frank Schmidt

(12.06.2013, kultur-in-bonn.de)

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Before Midnight

Gut, dass wir darüber gesprochen haben

Julie Delpy und Ethan Hawke haben wieder einmal alles richtig gemacht – während ihre Figuren Céline und Jesse fürchten, dass bei ihnen einiges schief gelaufen sein könnte. „Before Midnight“, die wiederum von Richard Linklater inszenierte Fortsetzung von „Before Sunset“ und „Before Midnight“, ist ebenso berührend wie komisch.


In diesem Film wird sehr, sehr viel geredet. Nahezu ununterbrochen, fast wie in einem klassischen Theaterstück. Dass das funktioniert, liegt an den beiden Hauptfiguren und den sie verkörpernden Darstellern. Zum nunmehr dritten Mal treten Julie Delpy als Céline und Ethan Hawke als Jesse an. Schauspieler und Figuren haben inzwischen die Vierzig überschritten, jeweils neun Jahre liegen zwischen Before Sunrise, Before Sunset und Before Midnight. Der dritte und dem Vernehmen nach letzte Teil der Geschichte weist zwar einige leichte Schwächen und Hänger auf, verfügt aber im Gegenzug auch über alle Qualitäten der Vorgänger. Das Spiel von Delpy und Hawke, die gemeinsam mit Regisseur Richard Linklater das Drehbuch erarbeiteten, wirkt nach wie vor leichtfüßig, inspiriert, ganz und gar unangestrengt und frei von Manieriertheiten. 

Nach dem Wiedersehen in Before Sunset haben Jesse und Céline ihre jeweiligen Partner verlassen und leben mittlerweile mit den gemeinsamen Zwillingstöchtern in Paris. Der Filmhandlung setzt ein, wenn Jesse sich von seinem 14-jährigen Sohn aus seiner geschiedenen Ehe, mit dem er, Céline und die Zwillinge den Sommer in Griechenland verbracht haben, auf einem Provinzflughafen in der Peloponnes verabschiedet. Lange Urlaube bieten Anlass, (Zwischen-)Bilanz zu ziehen, und so folgt auf der Rückfahrt zum Ferienquartier das erste von mehreren ausführlichen Gesprächen zwischen Jesse und Céline. Wenn der Spruch von der stimmenden Chemie zutrifft, dann auf die Konstellation Delpy-Hawke. Sie schaffen es spielend, lange, statische Einstellungen wie während dieser Autofahrt auszufüllen, weil ihre Figuren sich etwas zu sagen haben. 

Demgegenüber fallen die Konversationen mit ihren Feriengastgebern ab, insbesondere beim gemeinsamen Essen zu acht an der großen Tafel. Hier wirkt manches deklamiert, einige Sätze könnten tatsächlich direkt aus einem klassischen Theaterstück stammen, mindestens einer (ein kenntlich gemachtes Shakespeare-Zitat) tut es. Die Betrachtung der Welt aus dem Blickwinkel der Mittelschicht irgendwo zwischen Boheme und Bildungsbürgertum gehört zu den wenigen schwächeren Passagen des Films. In diesem Tischgespräch steckt zu viel wohl formulierte Schulbuchweisheit; da wirkt die Anekdote der griechischen Hauswirtin darüber, was männliche und weibliche Komapatienten jeweils als erstes nach dem Erwachen sagen beziehungsweise tun, noch am amüsantesten. 

Szenen einer Ehe
Spannender wird es dann wieder, wenn Céline und Jesse unter vier Augen ihr eigenes Verhältnis sezieren: das volle Programm, von Gefühlshaushalt und Libido über Kindererziehung bis berufliche und persönliche Selbstverwirklichung. Wie alles unter einen Hut bekommen und die Pflichten fair verteilen, ohne dass es einseitig zulasten von ihr oder ihm geht? Das ist mal komisch und mal bitter, mal Szenen einer Ehe Loriot, mal Szenen einer Ehe Ingmar Bergman. Es wird gestritten und gelacht, mit Trennung gedroht und sich wieder zusammengerauft – bis auf Weiteres, der nächste Konflikt kommt bestimmt. Nach all den Jahren kostet es Céline und Jesse nun doch schon erhebliche Anstrengung, das Gefühl füreinander am Leben zu erhalten beziehungsweise neu zu erfinden. 

Wie heißt es in jenem Satz aus Jack & Diane von John Mellencamp, dem Built to Spill später bescheinigten You were right: “Life goes on long after the thrill of living is gone”. Jesse und Céline versuchen das Beste daraus zu machen, und Hawke und Delpy dabei zuzusehen und zuzuhören, ist nach wie vor ein großes Vergnügen. 
 
(05.06.2013, kultur-in-bonn.de)

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Die wilde Zeit (Après mai)

Ästhetik und Widerstand 

Nach seinem Terroristen-Epos „Carlos – der Schakal“ beschäftigt sich Olivier Assayas weiter mit den bewegten 70er Jahren. Generationsporträt und autobiografisch gefärbte Geschichte zugleich, bietet „Die wilde Zeit“ nun einen facettenreichen Bilderbogen rund um Politik, Liebe, Kunst und Musik. 


Die wilde Zeit ist ein zu reißerischer Verleihtitel für Olivier Assayas‘ neuen Film. Im französischen Original heißt er schlicht Après mai, und zusammen mit dem alternativen englischen Titel Something In the Airkommt man der Sache schon näher, um die es hier geht. Anfang 1971 erscheint die französische Jugend weiterhin stark politisiert, die in Paris drei Jahre zuvor erweckte Mai-Aufbruchsstimmung liegt noch immer in der Luft und ist noch nicht im langen Marsch durch Institutionen versickert. Demonstrationen sind ebenso an der Tagesordnung wie Diskussionen unter der bereits in zahlreiche Fraktionen aufgesplitterten politischen Linken. Sie drehen sich nicht zuletzt um das Verhältnis zur Gewalt: Wie weit darf man gehen in der Auseinandersetzung mit einem als brutal repressiv erlebten Staatsapparat?

In diesem aufgeladenen Klima bewegt sich der junge Gilles (Clément Métayer), in dessen Charakter und Entwicklungsgeschichte Regisseur und Drehbuchautor Assayas Züge des eigenen jüngeren Ichs hat einfließen lassen. Kurz nach einer nächtlichen Spray-Aktion an einem großen Pariser Gymnasium, in deren Gefolge ein Wachmann schwer verletzt wird, reist Gilles mit anderen Mitgliedern seiner Polit-Gruppe nach Italien, um dort den Sommer zu verbringen und Gleichgesinnte zu treffen. Mit von der Partie ist die engagierte Aktivistin Christine (Lola Créton). Sie wird Gilles zunächst auch von den Gedanken an seine überhöhte große Liebe und Inspiration Laure (Carole Combes) ablenken, die ihn verlassen hatte. 

Die großen Fragen des Lebens klären
Italienreisen sind literaturgeschichtlich vorbelastet, und also dient auch diese hier der Initiation und Bildung sowie der Erörterung grundsätzlicher Fragen. Auf der Fahrt – im damals üblichen Kollektivmobil, dem VW-Bus – kommt es zu Debatten darüber, inwieweit der und die Einzelne sich Gruppen unterordnen müssen. Der künstlerisch begabte Gilles misstraut in diesem Punkt allzu einfachen Festlegungen und beharrt auf individuellen kreativen und gedanklichen Freiräumen. Auch die italienischen Genossinnen und Genossen sind auf der Suche nach dem richtigen Grad an Radikalität, der zum Umbau der Verhältnisse nötig wäre. Bei der gemeinsamen Diskussion eines Propagandafilms prallen die unterschiedlichen Meinungen aufeinander: Kann man überhaupt Revolution machen mit Filmen, die im herkömmlichen Stil gedreht werden, bräuchte es nicht vielmehr eine eigene, revolutionäre Filmsprache beziehungsweise „Syntax“? Oder würde das genau die „einfachen“ Arbeiter und Angestellten, die man ansprechen und überzeugen will, nur überfordern und abschrecken?

Après mai lässt sich als eine Art Gegenstück zu Carlos verstehen. Während Assayas in seinem rund fünfeinhalbstündigen Epos die Geschichte des Terrorismus der 70er-Jahre anhand seiner schillerndsten Figur mit einer Mischung aus facts and fiction nachzeichnete, geht es ihm hier um einen durch eigene Erfahrungen grundierten Rückblick auf eine bewegte Zeit und eine Lebensphase, in der existenzielle Weichenstellungen vorgenommen werden. Die Figuren um Gilles, der das Zentrum des Films bildet, stehen dabei für unterschiedliche Typen und Lebensentwürfe. Da gibt es den überzeugten Revolutionär Jean-Pierre (Hugo Conzelmann), der den eigenen Idealen kompromisslos zu folgen bereit ist, und Gilles‘ eher impulsiven Malerfreund Alain (Félix Armand), der auf der Reise die hippieske US-Amerikanerin Leslie (India Salvor Menuez) kennen und lieben lernt. Leslie studiert „sakralen Tanz“ und wird später nach einer folgenschweren Entscheidung den Rückweg in die USA antreten. 

So gerät der italienische Sommer zu einem Entwicklungs- und Reifeprozess, an dessen Ende sich alle verändert haben. Gilles fasst den Entschluss, in London bei einer Filmproduktion anzuheuern, um seine künstlerischen und filmischen Neigungen auszuleben (und den Erinnerungen an Laure nachzuhängen). Das erste Projekt, bei dem er als Praktikant mitwirken darf, ist ein Fantasy-Monster-Streifen mit Nazi-Schurken. Was Assayas die offensichtlich gerne genutzte Gelegenheit gibt, ein paar spaßige Bilder und Dialoge aus der Filmwelt hinter den Kulissen einzustreuen. 

Ausdrucksstarke Bilder, atmosphärische Musik
Après mai ist ein manchmal etwas wüster, ausfransender Bilderbogen, der indes mit hinreichend atmosphärischen, teils poetischen Einstellungen und filmischen Metaphern aufwartet, um über seine rund zwei Stunden Laufzeit keine Langeweile aufkommen zu lassen. Abgerundet wird der Film durch eine Auswahl von teils in voller Länge abgespielten Originalmusiken, die den zur jeweiligen Szenerie passenden Sound liefern und das Zeitalter von freier Liebe, Drogen, Partys, Happenings und Diskussionen adäquat widerspiegeln. Das Spektrum reicht vom beschwingten Soul/R&B-Instrumentalhit Green Onions von Booker T. & the MGs über Phil Ochs‘ Folk-Protestsong William Worthy – stilecht von einem Ami mit Klampfe in einem Park zum Besten gegeben – und schrägen Blues von Captain Beefheart bis hin zu Exkursionen in Psychedelic-, Art- und Prog-Rock-Gefilde Marke Syd Barrett, Kevin Ayers und Soft Machine. 

Mit Sorgfalt und Liebe zum Detail ausgestattet, bisweilen melancholisch im Ton, aber frei von Sentimentalität, vermittelt Olivier Assayas‘ eindrucksvoll bebildertes Zeit-Panorama stimmig die Atmosphäre einer Epoche. In des Regisseurs und Autors eigenen Worten: „Eigentlich habe ich mit Après mai die Umrisse eines kollektiven Porträts skizziert. Diesen Ansatz finde ich wahrhaftiger, als wenn ich mich strikt auf die Reminiszenz meiner eigenen Jugend beschränkt hätte.“ 

(27.05.2013, kultur-in-bonn.de)

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Star Trek: Into Darkness

Möge die Macht ... ups, falscher Film 

Captain Kirk & Co. sind wieder an Bord. JJ Abrams legt mit „Star Trek: Into Darkness“ den zweiten Teil der Vorgeschichte zu „Raumschiff Enterprise“ vor. Schauwerte, Action, Tempo und Pointen stimmen, der Geist des TV-Originals hat sich hingegen verflüchtigt. 


Als JJ Abrams 2009 mit Star Trek ein Prequel zur 60er-Jahre-Fernsehserie gedreht hatte, löste das unter den Fans des von Gene Roddenberry erschaffenen Raumschiff-Enterprise-Universums zwiespältige Reaktionen aus. Dass Abrams die Regie der für 2015 angesetzten Episode VII des Star Wars-Universums übernehmen wird, dürfte eingefleischte Trekkies nicht unbedingt freundlicher stimmen. Als weder der Wars- noch der Trek-Fraktion Angehöriger wird man an Star Trek: Into Darkness indes wenig auszusetzen finden. Es sind zwei kurzweilige Stunden Unterhaltung geworden.

Abgesehen davon, dass Chris Pine noch etwas zu jung für einen Käpt’n wie Kirk wirkt, sind die Rollen der legendären Crew-Mitglieder sorgfältig und adäquat besetzt. Es gab keine Veränderung gegenüber dem 2009er-Cast. Wer die Nachfolger von William Shatner & Co. in der Originalfassung sehen und hören möchte, muss sich allerdings auf einen ziemlich derben schottischen Akzent bei Simon Pegg („Scotty“, klar) und ein stark russisch gefärbtes Englisch bei Anton Yelchin („Mr. Chekov“) einstellen. Mr. Spock wirkt nicht nur durch die Maske, sondern auch durch Zachary Quintos Darstellung fast wie eine Kopie von Leonard Nimoy. Jedoch betont der Film mit fortschreitendem Verlauf weitaus stärker die menschlichen Züge der Figur, als man es aus der Fernsehserie in Erinnerung hat, obwohl Spock hier in einer Szene ausführlich erklärt, warum er als Halb-Vulkanier-halb-Mensch seine Emotionsskala auf null zu stellen gelernt hat. 

Spock in love
Gleichwohl dichtet ihm das Drehbuch weiterhin eine Romanze mit Lieutenant Uhura (Zoë Saldaña) an – wobei sich darüber streiten ließe, inwieweit Spock der ebenso schönen wie sprachbegabten Kollegin tatsächlich zugetan ist, oder ob ihr Kuss bei ihm nicht eher eine rein sensorische Reaktion wie einst bei Dustin Hoffmans Rain Man auslöst. (Schon in der TV-Serie musste die Vulkanier-Gefühlskälte regelmäßig für Scherze herhalten, etwa wenn Kirk eine Diskussion mit Spock über eine Affäre an Bord der „Enterprise“ mit den Worten beendete: „Was verstehen Sie schon davon, Spock – Sie Sexmuffel!“) Und natürlich wird mit diesem Filmkuss auch auf den seinerzeit einen Skandal auslösenden Lippenkontakt zwischen Kirk und Uhura aus einer Star Trek-Episode von 1968 angespielt. 

Wesentlich für die Aufrechterhaltung des Spannungsbogens ist immer die Qualität des Antagonisten sowie das Ausmaß an Monstrosität, welches von ihm abstrahlt. Dass Benedict Cumberbatch als „John Harrison“ einen in jeder Hinsicht effektiven und exzellenten Schurken abgibt und das Figurentableau ideal abrundet, kommt für einen Zuschauer der zu Recht gepriesenen Sherlock-Serie nicht überraschend. Dass in die Handlung noch ein weiterer Gegenspieler eingebaut wird, schon eher. 

Logik vs. Bauchgefühl
Thematisch bietet Star Trek: Into Darkness die bekannten Versatzstücke auf. Es geht um den ewigen Gegensatz zwischen Logik und Bauchgefühl, zwischen Prinzipientreue (“Vulkanier können nicht lügen!“) und Fünfe-gerade-sein-Lassen. Ob Regeln befolgt oder gebrochen werden müssen, ist indes auch eine Frage von Moral und Verantwortung. Ihr haben sich sowohl Kirk als auch Spock – und Bösewicht Harrison, auf seine Weise – zu stellen, wenn es um das Schicksal ihrer jeweiligen Crew geht. Dabei nutzt Star Trek: Into Darkness auch die Gelegenheit, in veränderter personeller Konstellation auf eine Opfersituation aus einem der früheren Filme anzuspielen. 

Es ist nichts wirklich neu in diesem Prequel. Das aber tut dem Unterhaltungswert keinen Abbruch. Im Vergleich mit Abrams‘ geballten 3D- und CGI-Schauwerten und rasanten Action-Einlagen wirken die Phaserstrahlen, Beam-Effekte und aufwändigen Masken der Fernsehserie(n) und früheren Trek-Filme inzwischen eher niedlich. Weniger gelungen ist es JJ Abrams indes, die von Zeitkritik und einer menschen- oder besser gesagt kreaturenfreundlichen Utopie getragene Grundstimmung zu übertragen beziehungsweise zu aktualisieren, mit der Gene Roddenberry die von ihm kreierte Star Trek-Welt unterlegt hatte. 

Zwar wird keine Gelegenheit zur Ironisierung oder zur Pointe ausgelassen, insbesondere in Kirks Dialogen mit Spock, Scotty und Dr. „Pille“ McCoy (Karl Urban). Von den mitunter gehaltvollen und manchmal ausschweifenden ernsthaften Gesprächen, die vor allem Spock und Kirk in der Originalserie oft führten, bleibt jedoch wenig übrig. In Star Trek: Into Darkness kreist alles um Pflichten, Loyalität und einen recht einfach gestrickten Begriff von Humanität, dem sich letztendlich auch ein Mr. Spock unterordnet. Den Aufbruch in ferne Welten und neue Zeitalter haben sich JJ Abrams & Co. dann hoffentlich für den nächsten Teil des Star Trek-Prequels aufgehoben. 

(08.05.2013, kultur-in-bonn.de)

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Frohes Schaffen

Einigkeit und Recht auf Freizeit

Konstantin Faigle hat mit „Frohes Schaffen“ einen, so der Untertitel, „Film zur Senkung der Arbeitsmoral“ gemacht. In freundlich-subversivem Tonfall fordert seine gelungene Mischung aus Dokumentation, Thesenfilm und (Real-)Satire die Menschheit auf, der „Arbeitsreligion“ abzuschwören. 


Dass Konstantin Faigle sich mit hiesigen Befindlichkeiten auskennt, hat er bereits mit der satirischen Dokumentation Die große Depression (2005) unter Beweis gestellt. Frohes Schaffen schließt daran insofern nahtlos an, als seine damalige Diagnose unverändert gültig ist: Glückliche Menschen finde man hierzulande selten. Einen der Hauptgründe für diese freudlose Gesellschaft sieht Faigle in ihrer nahezu totalen Fixierung auf die Arbeit als d e n bestimmenden Lebensinhalt. Die einen leisten ohne innere Anteilnahme eine fremdbestimmte Tätigkeit als Angestellte ab, die anderen beuten sich als Selbstständige und Freiberufler selbst aus. Alle eint, dass sie hauptsächlich von Angst getrieben werden. Angst, keine Erwerbsarbeit mehr zu haben.

Die Arbeit ist zu einer Religion, einem säkularen Götzen geworden. Konsequent unterlegt Faigle zu Beginn seines Films die Bilder mit geistlicher Musik und zeigt ein Gebäude der „Bundesagentur für Arbeit“ aus der Untersicht, als ob es sich um eine Kathedrale handeln würde – eine vielleicht etwas einfach gestrickte filmische Metapher für den Götzen Arbeit. Flankiert wird er vom ebenfalls nicht mehr hinterfragten und als quasi gottgegeben hingenommenen Dogma des quantitativen Wirtschaftswachstums. Es bildet, so die Verheißung der neoliberalen Marktgläubigen, die unerlässliche Voraussetzung für den ewigen Wohlstand. 

Von wegen „ora et labora“
Also macht Faigle sich zunächst daran, die Ursprünge dieser für die kapitalistische Wirtschaftsordnung so nützlichen Arbeitsreligion aufzuspüren. Fündig wird er bei den protestantischen Reformatoren wie Luther und vor allem Calvin, auf dessen Lehren sich die US-amerikanischen Evangelikalen berufen, die den wirtschaftlichen Erfolg im Leben über alles stellen und andernorts Verwandte wie die europäischen Pietisten haben, welche besonders im Ländle der frohen Schaffer und Häuslebauer nach wie vor stark vertreten sind. Doch, oh Wunder, Faigle hat bei den Recherchereisen für seinen Film auch in Stuttgart politische Aktivisten gefunden, die der Arbeitsreligion abgeschworen haben und sich für das bedingungslose Grundeinkommen einsetzen. Einer von ihnen, ein ehemaliger Prokurist und nunmehriger Rentner, sagt doch glatt vor der Kamera, dass er in seinem Arbeitsleben nie fleißig gewesen sei! Ketzerei!! 

Dabei sind die Deutschen doch sonst, so der von Faigle befragte Autor und Arbeitskritiker Norbert Trenkle, die „obersten Verrückten“, wenn es um die Befolgung der Arbeitsreligion geht. Der Blick über den Tellerrand nach New York zeigt allerdings, in Interviews mit Wall Street-Bankern und -Aktienhändlern, dass auch und gerade dort allen Krisen zum Trotz der Glaube an das bisherige Wirtschafts- und Finanzsystem und sein Fortbestehen bis in alle Ewigkeit nahezu unerschütterlich ist. 

„Das Ende der Arbeit“
Mit Frohes Schaffen ist Konstantin Faigle eine ebenso unterhaltsame wie erkenntnisgesättigte Mischung aus Dokumentation, Essay, Thesenfilm und Satire gelungen. Angereichert hat er sie mit Spielszenen, in denen Schauspieler und Laien auftreten, die verschiedene Lebensentwürfe und verschiedene Ausmaße von Arbeitsreligiösität repräsentieren, vom komplett überarbeiteten Ingenieur-Workaholic mit Burn-out-Syndrom über die verzweifelt um Aufträge baggernde Medienschaffende bis zum Matratzenverkäufer in 3-Tage-Teilzeit, der nur so viel arbeitet und verdient wie unbedingt nötig. Getreu der Linie und Botschaft des Films kreuzen sich die Wege der verschiedenen Charaktere im Laufe des Films, natürlich nur zu ihrem gegenseitigen Besten. Frohes Schaffen tritt Figuren wie Zuschauer nicht in den Allerwertesten, sondern fordert sie auf freundlich-subversive Weise auf, selbigen hochzubekommen – um sich dann entspannt auf ihn zu setzen oder legen und den lieben (Arbeits-)Gott einen guten Mann sein zu lassen. 

Die Spielszenen wechseln mit kommentierten Bildern sowie Interview-Passagen mit Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten und Autoren, deren Analysen und Kommentare das Fundament für die von Faigle betriebene „Senkung der Arbeitsmoral“ legen. Experten wie der bekannte US-Ökonom und Soziologe Jeremy Rifkin (Autor von Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft (The End of Work)), der Historiker Benjamin Hunnicutt (der sich am „Department of Leisure Studies“ der University of Iowa hauptberuflich mit Freizeit beschäftigt), die Evolutionspsychologin Susan Blackmore und die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer fassen prägnant den Zustand einer völlig aus den Fugen geratenden Gesellschaft zusammen, der der soziale Kitt abhanden kommt, weil die meisten nur noch von purer Verlust- und Abstiegsangst getriebene, seelenlose Insel-Existenzen führen. Zu Wort kommen auch unmittelbar „Betroffene“, die Faigle morgens auf dem Weg zur Arbeit am Bahnhof befragt, und unmittelbar vom bestehenden Arbeits- und Wirtschaftssystem Profitierende, wie Aktienhändler und Analysten in Frankfurt. In Paris interviewt der Regisseur einen gefeuerten ehemaligen Ingenieur von France Télécom Orange, jenem Unternehmen, das 2011 durch eine Reihe von Suizidfällen für Schlagzeilen gesorgt hatte. 

Ist Besserung in Sicht?
Der Film belässt es nicht dabei, der kranken Arbeitswelt ihre Diagnose auszustellen. Faigle zeigt auch Beispiele von Menschen, die andere Wege eingeschlagen haben und mit ihrer Tätigkeit in einer Käserei beziehungsweise beim Gemüseanbau sowohl ein Auskommen als auch eine bessere, sinnstiftende „Work-Life-Balance“ gefunden haben. Beim britischen Autor Tom Hodgkinson und seiner „Akademie für Müßiggang“ lernt man, einfach mal nur in den Himmel zu gucken und Gras statt mit lauten Rasenmähern mit der Sense zu mähen (wobei einem unwillkürlich Monty Pythons Der Sinn des Lebens (The Meaning of Life) in den Sinn kommt). Und mit der Figur des Teilzeit-Matratzenverkäufers Jochen erfindet Faigle geradezu ein neues „role model“ für diesen Beruf, frei nach dem Motto „Probier’s mal mit Gemütlichkeit (und Ukulele)“. Jochen bildet einen denkbar großen Kontrast zum hierzulande wohl bekanntesten fiktiven Bettenverkäufer, dem beflissenen Herrn Hallmackenreuther aus den Loriot-Sketchen, und ist auch weit entfernt vom an sich selbst und seinem geschäftlichen Misserfolg verzweifelnden Matratzenhändler aus Lichter, mit dem Devid Striesow seinerzeit auf sich aufmerksam machte. (In diesem Zusammenhang: Hallo Studierende, Ihr sucht doch für eure Seminar- oder Abschlussarbeiten immer Themen, die noch nicht abgegrast sind. Wie wäre es mit „Die Darstellung von Betten- und Matratzenverkäufern in fiktionalen, semi-fiktionalen und nicht-fiktionalen Film- und Fernsehformaten“? Gerne, nichts zu danken.) 

Vermutlich werden manche Kapitalismuskritiker und insbesondere situationistische Veteranen den Tonfall von Faigles Absage an die Arbeit nicht radikal und subversiv genug finden. Dabei liefert ein Vertreter der „Gegenseite“, ein Aktienhändler, sogar einen Zeithorizont für kommende große Veränderungen: Aus seiner Sicht wird das jetzige Wirtschafts-, Arbeits- und Finanzsystem in rund zehn Jahren am Ende sein. Für die Zeit danach hält Frohes Schaffen, fast schon ein Propagandafilm für das „gute Leben“, bereits jetzt ein paar nützliche Vorschläge und Anregungen bereit. 

Film läuft hier: www.kinotermine.frohesschaffen.wfilm.de

(05.05.2013, kultur-in-bonn.de)

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Iron Man 3

Superheld mit beschädigtem Leben

Die „Iron Man“-Serie verfügt über den Vorteil, neben den üblichen Tricks und 3D-Effekten Robert Downey Jr. als Titelhelden auf die Leinwand zu bringen. Zusammen mit der illustren weiteren Besetzung sorgt er in „Iron Man 3“ für ein kurzweiliges Action-Spektakel. 


Tony „Iron Man“ Stark ist, im Guten wie im Schlechten, der menschlichste und verletzlichste aller Marvel-Helden. Seine Außergewöhnlichkeit beruht nicht auf Experimenten, die zu körperlichen Mutationen führen wie bei den Kollegen Hulk/Bruce Banner und Steve Rogers/Captain America, sondern auf technischem Einfallsreichtum, der ihn einerseits Milliarden scheffeln und andererseits seine flugfähige High-Tech- und High-Speed-Superhelden-Rüstung schaffen ließ. 

Zwar hatte der exzentrische Multimilliardär schon in Teil 1 angefangen Kreide zu fressen und zugänglicher zu werden, doch deswegen wird aus ihm noch lange kein leutseliger Menschenfreund. Seit neuestem – genauer gesagt, seit Iron Man 2 und The Avengers, die ihn dazu zwangen, sich mit der Möglichkeit des eigenen Ablebens zu beschäftigen – nehmen die neurotischen Züge in Starks Charakter noch zu. In bestimmten Situationen erleidet er Panikattacken, nachts schreckt er aus Alpträumen hoch. Was ihn allerdings nicht daran hindert, sich weiterhin gelegentlich herablassend oder auch wie ein ausgemachter Stinkstiefel aufzuführen. 

Für den Film hat das nur Vorteile. Selten gerät die Beziehung zu seiner aparten Lebensgefährtin Pepper Pots (Gwyneth Paltrow) in Süßholz-Gefilde. Die Frage lautet eher: Wer rettet da eigentlich wen? Und der 10-jährige Harley (Ty Simkins), dessen Hilfe Stark nach einer Attacke des Terrorfürsten „Mandarin“ benötigt, läuft nicht Gefahr, auf einmal von einem gerade die wesentlichen Dinge des Lebens entdeckenden Super-Duperhelden bevatert zu werden.

Iron Man mit Mechaniker-Fähigkeiten 
Diese Szenen, in denen Stark weitab von der vertrauten Umgebung und abgeschnitten von seinen High-Tech-Laboratorien in Los Angeles auf dem platten Land in Tennessee versucht, wieder auf die Beine zu kommen, ironisieren den Film und das Genre auf hübsch effektvolle Weise. Da Stark sein metallenes Exoskelett nicht nutzen kann, muss er ähnlich wie die Apollo-13-Besatzung aus einer Handvoll technischen Krimskrams und Kinderspielzeug eine effektive Überlebensstrategie zusammenbasteln, zusätzlich herausgefordert durch die Frage des nerdigen Harley: „You’re a mechanic, aren’t you?“ Und natürlich wird es für Stark dann fast zum Kinderspiel, mit seiner in Handarbeit hergestellten „Ausrüstung“ die Wachen des Hauses zu überwältigen, in denen er zuvor den Mandarin (Ben Kingsley) lokalisiert hatte. Womit die Jagd auf den beziehungsweise die Terroristen allerdings noch lange nicht vorbei ist, sondern gerade erst anfängt. 

Iron Man 3 würde trotz imposanter „virtual crime reconstruction“ und anderer dreidimensionaler Spielereien auch gänzlich ohne 3D-Effekte funktionieren. Die Macher des Films (Marvel-Hausproduzent Kevin Feige sowie Regisseur Shane Black, der zusammen mit Drew Pearce auch das Drehbuch schrieb) haben sich alle Mühe gegeben, eine tragfähige Geschichte mit der einen oder anderen überraschenden Volte zu konstruieren, und sie haben ihre Haupt- und Neben-Charaktere mit genügend Eigenheiten ausgestattet, um den sie verkörpernden Stars Raum zur Entfaltung zu geben. Robert Downey Jr. nutzt ihn weidlich aus, dito Ben Kingsley, der sich lustvoll auf die Rolle eines Terroristen stürzt, der ebenso an Bin Laden erinnert wie an eine Karikatur desselben – und daran, dass Terror immer auch einer medialen Inszenierung bedarf. Nicht ganz überraschend wächst in diesem Spiel Gut gegen Böse die Erkenntnis, dass man sich selbst seine Dämonen schafft. In diesem Fall in Person eines Wissenschaftlers mit körperlicher Behinderung (Guy Pearce), den Tony Stark einst auf arrogante Weise versetzt hatte, als jener von ihm Unterstützung für seine Forschungen erbitten wollte. 

Spaß und Spektakel
Die Balance zwischen Action und Amüsement hält Iron Man 3 recht gut. Ironische Schlenker durchziehen die Dialoge zwischen Tony und Pepper und in noch stärkerem Maße die keineswegs nur auf technische Fragen beschränkten Diskussionen mit der von ihm geschaffenen, durchaus humorfähigen künstlichen Intelligenz „Jarvis“. Einige Gags gehen auf Kosten des übereifrigen Sicherheitsbeamten Happy Hogan, der von Jon Favreau gespielt wird. (Favreau wirkt hier außerdem als ausführender Produzent und war Regisseur der ersten beiden Iron Man-Teile.) Die (Star-)Besetzung, zu der auch Don Cheadle in der Rolle von Starks „Waffenbruder“ James Rhodes gehört, überzeugt bis in die Nebenrollen hinein und kann bei Genre-Filmen wie diesem schon einen entscheidenden Unterschied ausmachen. Dass Rhodes Alter Ego „War Machine“ inzwischen zum „Iron Patriot“ befördert wurde, ist ebenso überflüssig wie unvermeidlich – offenbar muss eine gewisse patriotische Schlagseite gewahrt bleiben.

So bleibt denn alles im Rahmen des Genres und der Erwartungen: Iron Man 3 ist zugleich Hommage an die Marvel-Comicwelt, selbstironisches Spiel und Plattform für Schauwerte, die mit neuesten filmtechnischen Möglichkeiten geschaffen wurden. Das reicht allemal für zwei Stunden kurzweilige Unterhaltung. 

(30.04.2013, kultur-in-bonn.de)

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Die Jagd (Jagten)

Missbrauch ist kein Kinderspiel

Ein Mann gerät fälschlicherweise in den Verdacht, ein Kind missbraucht zu haben. Es folgt die soziale Ächtung und der Ausschluss aus der lokalen Gemeinschaft. Thomas Vinterberg hat mit „Die Jagd“ eine fesselnde, wenngleich ziemlich holzschnittartige Studie über Fehlverhalten und Hysterie gedreht.


Lucas (Mads Mikkelsen) arbeitet als Erzieher im örtlichen Kindergarten. Zu seinen Schutzbefohlenen zählt Klara (eindrucksvoll: Annika Wedderkopp), die Tochter seines besten und ältesten Freundes Theo (Thomas Bo Larsen). Da Lucas ein umgänglicher und einnehmender Kinderbändiger ist und bei Klara zuhause gelegentlich Stunk herrscht, entwickelt sie eine kindliche Schwärmerei für ihn. Und so schenkt sie ihm ein gebasteltes Herz, Schmatz auf den Mund inklusive. Lucas erklärt ihr freundlich, aber bestimmt, dass Küsschen dieser Art für Familienmitglieder reserviert seien und sie das Herz einem gleichaltrigen Jungen verehren solle. Gekränkt durch die Zurückweisung, erzählt Klara später der Kindergartenleiterin Grethe (Susse Wold), Lucas habe ihr seinen „Pipimann“ gezeigt, in erigiertem Zustand. Sie drückt es natürlich etwas anders aus, nämlich ungefähr so wie ihr pubertierender Bruder, der ihr zusammen mit einem Schulkumpan kurz zuvor ein Pornobild gezeigt hatte. 

Von nun an rollt eine Kettenreaktion wie aus dem Lehrbuch ab. Aus dem vagen Verdacht wird für Erzieherinnen, Eltern und den Rest des Ortes bald eine feststehende Tatsache. Und natürlich muss der vermeintliche Päderast auch noch andere Kinder angefasst oder bedrängt haben. Nachdem der psychologische Gutachter den besorgten Eltern typische Symptome von Missbrauchsopfern geschildert hat, dauert es nicht lange, bis die ersten Kinder sie aufweisen. Parallel dazu verliert Lucas in seinem privaten Umfeld immer mehr den Boden unter den Füßen. Sohn Marcus (Lasse Fogelstrøm), der bei der geschiedenen Mutter lebt, darf gegen seinen erklärten Willen vorerst nicht zum Vater ziehen. Lucas‘ neue Freundin Nadja (Alexandra Rapaport) scheint ihm nicht mehr zu trauen, auch sein Freundeskreis wendet sich gegen ihn – mit Ausnahme von Marcus Patenonkel Bruun (Lars Ranthe), der mit grimmigem Humor für die eine oder andere komische Erleichterung sorgt und neben Marcus als einziger an Lucas' Unschuld glaubt.

Kampf um die eigene Existenz
Der unschuldig Verdächtigte und Verfolgte ist ein klassisches Filmthema; Alfred Hitchcock hat es in seiner Karriere in zahlreichen Thrillern immer wieder durchgespielt und variiert (siehe The 39 Steps, The Wrong Man, Frenzy etc.). Gelegentlich hat es den Anschein, als könne auch aus Die Jagd (Jagten) eine blutige Kriminal- oder Selbstjustiz-Geschichte werden, doch Regisseur Thomas Vinterberg belässt es bei einigen wenigen, sorgsam dosierten Schock- und Knalleffekten (im wahrsten Sinne des Wortes) und erzählt ansonsten im Stil eines Sozial- und Familiendramas. 

Gleichwohl sind analog zum klassischen Thriller Rollen und Sympathien eindeutig verteilt: Hier der unbescholtene Mann, der um seine Ehre gebracht und gedemütigt wird, bis er anfängt sich zu wehren, da das kleine Kind, das zwar bald merkt, dass es etwas „sehr Dummes“ gesagt hat, aber der entfesselten Eigendynamik der Ereignisse nichts entgegensetzen kann, und schließlich die Eltern und die örtliche Gemeinschaft, die schnell die hässliche Fratze eines Lynchmobs zu tragen scheinen. Die wirklich schwierigen Fragen um Vertrauen und Glaubwürdigkeit tippt Die Jagd dabei allerdings nur an: Traut man seinem besten Freund ein solches Verhalten zu? Hat das Kind möglicherweise nur zu viel Fantasie? Rein statistisch gesehen ist Theos verlorenes Vertrauen in Lucas nachvollziehbar, denn die Missetäter sind tatsächlich oft im engsten Freundes- oder Verwandtenkreis der Opfer zu finden. Das hatte Thomas Vinterberg in seinem bekanntesten Film Das Fest (Festen) 1998 schon einmal auf eindringliche Weise vorexerziert. In Die Jagd handelt er das Glaubwürdigkeitsproblem auf letztendlich unbefriedigende Weise ab, indem er suggeriert, dass ein langer, unverwandter Blick in die Augen eines vertrauten Menschen klären könne, ob sich dahinter ein Abgrund oder eine reine Seele verbirgt. 

Dem Zuschauer bleibt angesichts der Sachlage und seines Wissensvorsprungs gegenüber den anderen Filmfiguren ohnehin nur, sich ganz auf Lucas‘ Seite zu schlagen. So ist man trotz der holzschnittartigen Anordnung über weite Strecken gefesselt und drückt dem unschuldig Verdächtigten die Daumen. Nicht ganz überzeugend und vergleichsweise ungelenk wirkt dann allerdings die Schlussauflösung, die Vinterberg und sein Drehbuch-Koautor Tobias Lindholm entwickelt haben. Immerhin setzt Die Jagd hier noch einen letzten Treffer: Etwas bleibt von Missbrauchsvorwürfen immer hängen. Es ist nie vorbei. 

(27.03.2013, kultur-in-bonn.de)

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Paradies: Glaube

Ein Kreuz für jeden 

Ulrich Seidl ist zusammen mit seinen großartigen Schauspielern ein ebenso komischer wie schmerzhafter zweiter Teil seiner „Paradies“-Trilogie gelungen. Wer den Glauben an das deutschsprachige Kino verloren hat, kann ihn mit „Paradies: Glaube“ wiederfinden. 


Strenggläubige Christen werden Paradies: Glaube nicht mögen, Muslime auch nicht unbedingt. Was in keiner Weise gegen den Film spricht. Die Geschichte der erzkatholischen 50-jährigen Wiener Krankenschwester Anna Maria (Maria Hofstätter), die sich damit auseinandersetzen muss, dass ihr aufgrund eines Unfalls querschnittgelähmter muslimischer Ehemann Nabil (Nabil Saleh) nach zwei Jahren wieder zuhause auftaucht und das Eheleben mit allem, was dazu gehört, wieder aufnehmen will, spart nicht mit Drastik. 

Dass die Charaktere dabei nicht zu klischierten Abziehbildern geraten, ist auch dem erstklassigen schauspielerischen Personal geschuldet. Maria Hofstätter gelingt es, aus der im Hinblick auf die Sympathiewerte weiß Gott nicht dankbaren Rolle der Hardcore-Katholikin einen Menschen zu machen und keine komplette Witzfigur – trotz des ungeheuren komischen und satirischen Potenzials, das aus ihrer religiösen Inbrunst und Strenge entsteht. Bei aller Komik ist Paradies: Glaube keine Komödie, dafür sorgen einige lange, schmerzhafte Auseinandersetzungen verbaler und körperlicher Art zwischen den Protagonisten. 

Schmerz fügt Anna Maria sich indes auch gerne selbst zu. Sie rutscht beim Beten auf den Knien durch ihr Haus, sie schlägt sich mit einer mehrschwänzigen Ledergeißel. Ihr Leben ist in jeder Hinsicht religiös geprägt, inklusive geistlicher Gesänge am Heim-Keyboard mit Kirchenorgel-Sound. Fernsehen gibt es nicht, weil zu schmutzig und zu sündig, dafür aber den religiösen Radiosender „Radio Maria“. Ihrem zurückgekehrten Mann versucht sie seinen Unfall allen Ernstes als Gottesgeschenk schmackhaft zu machen. Sie selbst sei jedenfalls „froh“ darüber. 

Der Sturmtrupp des Heilands
Und da zum Glauben eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten gehört, hält Anna Maria regelmäßige Zusammenkünfte mit den Mitgliedern ihrer „Legio Cordis Jesu“ ab. Spätestens an dieser Stelle wird Ulrich Seidls Film beißend schwarzhumorig, wenn die Herz-Jesu-Legionäre sich als „Sturmtruppe“ ihres Heilands bezeichnen und ihm „Treue bis in den Tod“ geloben. Zum Abschluss ihrer „spirituellen“ Treffen schwören sie feierlich, „dass Österreich wieder katholisch wird“. Assoziationen zu faschistischen Führerkulten und deren Treue-Ritualen dürften durchaus beabsichtigt sein. 

Ihren Sommerurlaub opfert Anna Maria außerdem dem Missionieren. Mit so genannten Wandermuttergottes-Statuen im Gepäck klingelt sie an Wohnungstüren. Lohn der Mühen sind zwei unglaubliche, wahrlich Ehrfurcht gebietende Comedy-Szenen: Veritable Sketche, streckenweise improvisiert, die auch losgelöst vom Filmkontext als komische Nummern glänzend funktionieren würden und einerseits an kanonisierte Humor-Klassik wie Loriot und Monty Python, andererseits an Austria’s best wie Josef Hader, Wolf Haas oder Willkommen Österreich mit Grissemann & Stermann denken lassen. Im ersten dieser beiden Hausbesuche hält Anna Maria einem schon etwas älteren Ehepaar (Trude und Dieter Masur) in deren Wohnzimmer vor, dass sie in Sünde und Ehebruch leben würden, weil sie vorher mit anderen Partnern verheiratet waren. Die Eheleute sind indes nicht auf den Mund gefallen und geben ihr kräftig Kontra. 

Ein King of Comedy 
Den komischen Höhepunkt bildet der Besuch bei „Herrn Rupnik“, „gespielt“ von dem grandiosen René Rupnik. Herr Rupnik ist ungefähr sechzig, hat lange graue Haare und läuft nur in Unterhose bekleidet in seiner ziemlich gschlamperten Wohnung herum. Mit anderen Worten: Er ist ein Messie vor dem Herrn. Mit ihm zusammen will Anna Maria nun zur Wandermuttergottes-Figur beten, die zu diesem Zweck auf dem Bett von Herrn Rupniks verstorbener Mutter aufgestellt wird. Bei seinen Ausführungen und Repliken auf Anna Marias religiöse Phrasen landet Herr Rupnik eine Pointe nach der anderen, so spricht er etwa mit ihr das Vaterunser und analysiert es gleich noch nebenbei. Dass das Vorpremieren-Publikum inklusive Rezensent sich bei dieser knapp zehnminütigen Szene vor Vergnügen kaum mehr einbekam, hat nicht nur etwas mit dem Wiener Dialekt und dessen unvergleichlicher Nonchalance zu tun.

Intensiv und wahrhaftig, dramatisch und komisch
Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Paradies: Glaube ist auf der Skala von Komik bis Tragik fein austariert und bildet das Leben und den Glaubens- und Ehekrieg seiner Protagonisten in allen Facetten ab. Schwarzer Humor und Sarkasmus bis zum Abwinken wechseln mit bis an die Schmerzgrenze ausgespielten Konflikten; dramatische Szenen kommen mit der gleichen Intensität und Wahrhaftigkeit über die Leinwand wie komische. Ulrich Seidls Vorgehensweise, Laiendarsteller wie Nurib Saleh (erste Filmrolle, und im wirklichen Leben nicht querschnittgelähmt) und das Ehepaar Masur (ebenfalls zum ersten Mal vor der Kamera) mit den Profis Maria Hofstätter und Natalija Baranova (die ein „gefallenes Mädchen“ spielt) zu besetzen und als i-Tüpfelchen den Lebenskünstler René Rupnik zu engagieren, ist aufgegangen. Der Film wirkt wie aus einem Guss. 

Paradies: Glaube ist so ziemlich bestes Kino. Aber vielleicht belehrt einen Seidl ja schon bald eines noch Besseren: Mitte Mai kommt mit Paradies: Hoffnung der Schlussfilm seiner an den Titel von Ödön von Horváths bekanntem Theaterstück und ein Bibelzitat angelehnten Trilogie ins Kino. 

(20.03.2013, kultur-in-bonn.de)

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Sofia's Last Ambulance (Poslednata lineika na Sofia)

Drei Sisyphusse in Sofia

Der Dokumentarfilm „Sofia's Last Ambulance“ schildert den Arbeitsalltag einer überlasteten Notarztwagen-Besatzung in der bulgarischen Hauptstadt. Ohne Bilder von offenen Knochenbrüchen oder blutenden Wunden, und dennoch eindrucksvoll. 


Nimmt man die Äußerungen mancher Politiker und die Berichterstattung einiger Medien für bare Münze, dann wird ab dem 1. Januar 2014 im EU-Mitgliedsland Bulgarien ein Massenexodus der Bevölkerung gen Deutschland einsetzen. Denn von diesem Zeitpunkt an können bulgarische Staatsbürger den EU-Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch hierzulande geltend machen. Auf dem Boulevard (und nicht nur dort) gilt „der Bulgare“ jedoch als potenzieller Armutsflüchtling, der nur darauf wartet, über die Sozialfleischtöpfe in Deutschland herzufallen und Kriminalität und Verderben ins reiche EU-Vorzeigeland zu bringen. Ilian Metevs Dokumentation Sofia’s Last Ambulance (Poslednata lineika na Sofia) zeigt hingegen, dass es in Bulgarien durchaus Menschen gibt, die trotz widriger Bedingungen dort leben, arbeiten und bleiben. Weil so viel zu tun ist – genauer gesagt mehr, als Notarzt Dr. Krassimir „Krassi“ Yordanov, Krankenschwester/Rettungsassistentin Mila Mikhailova und ihr Fahrer Plamen Slavkov praktisch bewältigen können. 

Überfüllte Krankenhäuser, mehr schlecht als recht funktionierende Funkverbindungen zu den Einsatzzentralen und marode Straßen in einer vielerorts baufällig und heruntergekommen wirkenden Stadt bilden den wenig anheimelnden äußeren Rahmen ihrer Arbeit. Und das Elend setzt sich an den Unfallstellen oder in den Häusern, zu denen sie gerufen werden, häufig fort. Da kann es schon mal zu enervierenden Verhandlungen mit Angehörigen kommen, ob der Kranke nun ins Spital gebracht wird oder nicht („Nur bei Schlaganfall. Und das war keiner!“). Bei einem anderen Einsatz finden Mila und Krassi schnell heraus, dass der junge Mann, dessen Mutter ihn halb besinnungslos gefunden hat, drogenabhängig ist und regelmäßig schlecht verschnittenen Stoff konsumiert. Manchmal treffen die Retter auch zu spät ein, sei es aufgrund eines Unfalls, den ein vor ihnen ausscherender Taxifahrer verursacht, oder weil Gevatter Tod und die Würmer in den Außenbezirken Sofias schneller waren. 

Nichtsdestoweniger gehen die drei ihrem Job mit professioneller Sorgfalt nach und machen ihn so gut, wie es die äußeren Umstände zulassen. Mila ist dabei diejenige, die den Laden zusammenhält und die Patienten während des Transports versorgt. Dies wird in einer intensiven „Action“-Passage des Films besonders deutlich: Die Ambulanz transportiert einen betrunkenen Schwerverletzten mit gebrochenem Bein über von Schlaglöchern übersäte Straßen Richtung Hospital – und die Kamera verfolgt ruckelnd, wackelnd, jedes Geräusch und jeden Stoß registrierend mehrere Minuten ohne Schnitt, wie der Verletzte immer wieder jammert, was für Schmerzen er hat, und ständig versucht aufzustehen, während Mila ihm ein ums andere Mal – und bisweilen zupackend – begreiflich machen muss, dass er gefälligst liegenzubleiben hat. Bei einem anderen holprigen Transport zeigt sie ihre Qualitäten als Seelentrösterin für ein kleines Mädchen, das sie durch Reden und Fragen abzulenken versucht, um ihr die Angst zu nehmen. 

Direct Cinema aus der kranken Großstadt 
Die Kamera ist immer unmittelbar dabei und konzentriert sich auf die drei Protagonisten, meist auf Höhe der Frontscheibe in der Fahrerzelle oder im Innenraum des klapprigen Ambulanzwagens. Patienten und ihre Angehörigen an den Einsatzorten bleiben außerhalb des Bildes. Zu Beginn überwiegen lange, statische Einstellungen. Mit einer Reihe von Großaufnahmen auf ihre Gesichter werden Krassi, Mila und Plamen eingeführt. Regisseur Ilian Metev, der selbst die Kamera führt, greift nicht mit Fragen ein und verzichtet auch auf jegliche voice over-Kommentare. Die sind auch gar nicht nötig. Der müde Blick von Krassi und die Ringe unter seinen Augen sprechen Bände. Und man erhält auch ohne „Schockbilder“ von Blut, Erbrochenem oder gebrochenen Knochen einen hinreichenden Eindruck von der Aufgabe der drei, die nur mit einer Grundausstattung an Gelassenheit und Humor zu meistern ist.

Sofia’s Last Ambulance hat mit der glitzernden High-Tech-Medizinwelt hiesiger Arzt- und Krankenhaus-Serien nichts zu tun. Der Film zeigt den Alltag einer schlecht bezahlten Rettungs-Crew, die versucht, über die Runden zu kommen und sich bei Laune zu halten – in aller Freundschaft, versteht sich. Und es versteht sich auch fast von selbst, dass Krassi, Mila und Plamen immer wieder Extraschichten schieben und/oder Nebenjobs nachgehen (müssen). Das monatliche Grundgehalt von Notarzt Dr. Yordanov beträgt laut Verleih-Presseinfo umgerechnet 350 Euro, Fahrer Plamen Slavkov ist zusätzlich noch als Taxichauffeur und Friseur tätig. Grund genug, der Armut und den Arbeitsbedingungen in ihrem Land zu entfliehen, hätten die drei tapferen Sisyphusse von Sofia also allemal. 

(14.03.2013, kultur-in-bonn.de)

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Zero Dark Thirty

Pragmatisches Foltern 

Kathryn Bigelows Action-Drama „Zero Dark Thirty“ über die fast zehn Jahre dauernde Jagd auf Osama bin Laden hinterlässt mit seiner vermeintlich wertneutralen Darstellung von Foltermethoden einen zwiespältigen Eindruck. 


Am Anfang ist die Leinwand schwarz. Man hört kurze Ausschnitte aus Telefongesprächen, die Eingeschlossene in den Türmen des World Trade Center am 11. September 2001 führen. Diese Eröffnung bildet sozusagen die Legimitationsgrundlage für alles, was danach passiert ist und im Film gezeigt wird. Auf Blockbuster-Bildformat und -Bildsprache hat Kathryn Bigelow dabei verzichtet. Betont nüchtern und sachlich ist der visuelle Stil gehalten. Die finale Aktion, in deren Verlauf Bin Laden sowie einige seiner Verwandten und Gefolgsleute in Abbottabad/Pakistan getötet werden, wird streckenweise in monochrom grünen Bildern wiedergegeben, die den Zuschauern die Perspektive der mit Nachtsichtgeräten ausgestatteten Spezialkräfte nahebringen soll. Kurze Zwischentitel informieren über wechselnde Schauplätze und die zeitliche Einordnung des jeweiligen Geschehens.

Sachlich-kühl und kontrolliert erscheinen auch die Charaktere. Emotionale Ausbrüche sind bei ihnen die Ausnahme, Identifikationsangebote für die Zuschauer bieten sie kaum. Hauptfigur Maya (Jessica Chastain) definiert sich ausschließlich über ihren Auftrag, das Versteck des Terroristenchefs zu finden. Als Person ist die junge Frau, die direkt nach der High School ihren Dienst bei der CIA angetreten hat, nicht greifbar. Nachdem einige ihrer Weggefährt/inn/en während der knapp zehn Jahre dauernden Jagd auf der Strecke geblieben sind, macht sie die Fahndung nach Bin Laden zu ihrer persönlichen Mission: Anscheinend sei sie verschont worden (sprich, auserkoren), um die Sache zu Ende zu bringen. 

Lebensinhalt Terroristenjagd
Und so verfolgen Maya und ihre Kollegen hartnäckig eine scheinbar bereits im Sande verlaufene Spur, über die sie schließlich mithilfe von abgehörten Telefonaten Abu Ahmad al-Kuwaiti aufspüren können, einen Kurier und engen Vertrauten Bin Ladens. Bei der Beschattung Abu Ahmads stoßen sie auf ein festungsähnlich ausgebautes Anwesen in Abbottabad. Versuche, mehr über dessen Bewohner in Erfahrung zu bringen, erhärten die Vermutung, dass das Gebäude auch ein hohes kriminelles Tier mitsamt Familie und Verwandtschaft beherbergen muss. Für Maya steht von Anfang an fest, dass es sich bei diesem geheimnisvollen Unbekannten nur um Bin Laden handeln kann, während die meisten CIA-Analytiker von einer maximal 60-prozentigen Wahrscheinlichkeit ausgehen. Also kämpft sie Tag und Nacht dafür, das Anwesen in Abbottabad anzugreifen. US-Amerikaner lieben solche Geschichten von unbeugsamen, nie aufgebenden (Einzel-)Kämpfern, die sich am Ende gegen alle Widerstände und Zweifel durchsetzen. 

Erst nachdem die Jägerin das Wild zur Strecke gebracht hat, erlaubt sie sich eine Träne – die jedoch eher der eigenen inneren Leere geschuldet sein dürfte. Denn mit dem getöteten Gegner ist ihr auch der bisherige Lebensinhalt abhanden gekommen. Als Maya allein in dem Flugzeug sitzt, dass sie nach der erfolgreich abgeschlossenen Operation aus Afghanistan ausfliegt, weiß sie keine Antwort auf die Frage des Piloten, wo er sie hinbringen soll. 

Der Alltag des Folterers
Zero Dark Thirty lässt einen bei aller formalen und inszenatorischen Sorgfalt auf seltsame Weise unbeteiligt. Dass seine Figuren dem Zuschauer fremd bleiben, liegt nicht ausschließlich daran, dass sie aktiv foltern oder das Foltern befürworten – was eine ebenso erstaunliche wie bedenkliche „Leistung“ dieses Films darstellt: Folterungen werden mit einer Beiläufigkeit inszeniert und gezeigt, als ob sie etwas Alltägliches und Unvermeidliches wären und auch jedermanns Nachbar von nebenan dazu fähig sein könnte. 

Das markanteste Beispiel liefert Mayas in Jeans und T-Shirt folternder CIA-Kollege und Akademiker mit Doktorgrad Dan (Jason Clarke), dessen Aufgabe es ist, den saudischen Terrorverdächtigen Ammar (Reda Kateb) zu brechen. Er spielt mit seinem Gefangenen das Zuckerbrot-und-Peitsche-Spiel und erledigt anscheinend einfach nur „professionell“ einen Job. So etwas wie eine Gemütsregung zeigt sich bei Dan, nachdem die Äffchen im Gefangenenlager getötet worden sind, die er so gerne gefüttert hat. Zurück vom Feld- und Foltereinsatz, geht er wieder im Anzug der täglichen Analysearbeit im CIA-Hauptquartier in Langley/USA nach. War da was?

Dieser kühle Pragmatismus des Peinigens wird an keiner Stelle des Films hinterfragt. So erweckt Zero Dark Thirty tatsächlich den Eindruck, Folter als etwas „Normales“ erscheinen zu lassen, was Kathryn Bigelow auch in den USA teilweise heftige Kritik eingetragen hat. Bigelows Argumentation, etwas zu zeigen sei nicht damit gleichzusetzen, es zu befürworten oder zu unterstützen („depiction is not endorsment“), wirkt nach Ansicht des Films nicht mehr überzeugend. Denn es geht gar nicht so sehr darum, ob er Munition für die Befürworter und Unterstützer des Einsatzes von Foltermethoden liefert. Schwerer wiegt, dass Zero Dark Thirty die ohnehin verbreitete Haltung des achselzuckenden Hinnehmens und Wegguckens wenn nicht befördert, so doch auch nicht in Frage stellt: Folter? Na ja, hat‘s halt irgendwie schon immer gegeben, und manchmal ist sie eben unumgänglich. Tut uns ja auch leid, irgendwie … Und natürlich halten sich moralische Bauchschmerzen dieser Art bei islamistischen Terroristen, die Attentate, Entführungen und Ermordungen auf dem Kerbholz haben, oder Ähnliches noch tun werden oder planen oder zumindest davon wissen, ohnehin in überschaubaren Grenzen. 

Heiligt der Zweck die Mittel?
Es ist umstritten, ob die Misshandlungen von Terrorverdächtigen überhaupt entscheidend zum Fahndungserfolg und zur Eliminierung Bin Ladens beigetragen haben. Unabhängig davon suggeriert die bewusst „wertfreie“ Darstellung der Gewalt gegenüber Gefangenen in Zero Dark Thirty sehr wohl, dass sie als Mittel zum Zweck der Terroristenjagd nützlich sein könnte. Beendet ist der „War on terror“ (oder, in den Worten von Sacha Baron Cohens Borat: „War of terror“) ja keineswegs, den die USA unter Bush junior ausgerufen haben. Es sieht eher danach aus, als ob dieser Krieg auf Dauer gestellt würde. Und er sieht ein bisschen weniger hässlich aus, seitdem CIA-Geheimgefängnisse unter anderem in Osteuropa offiziell für geschlossen erklärt wurden. 

Der streitbare und kinokundige Philosoph Slavoj Žižek hat dieser Tage im britischen Guardian unter der Überschrift „Zero Dark Thirty: Hollywood's gift to American power“ eine scharfe Kritik am Film und an Kathryn Bigelows Verteidigung ihres künstlerischen Vorgehens veröffentlicht. Darin weist Žižek unter anderem darauf hin, dass die Darstellung von Folterungen in einer Weise, wie sie in Zero Dark Thirtygeschieht, noch vor 20 Jahren in einem „major Hollywood film“ undenkbar gewesen wäre. 

Geht man ein bisschen weiter in die 1980er-Jahre zurück, trifft man dagegen schon auf eine ganze Reihe von major movies, die Folterungen zeigen – allerdings foltern da immer nur die anderen und vor allem die bösen Sowjets, wie etwa in den unsäglichen Teilen 2 und 3 der Rambo-Saga. Dass nun auch in Hollywood-Filmen US-amerikanische Folterknechte bei der Arbeit zu sehen sind, mag man nicht wirklich als Fortschritt betrachten. Žižeks polemisch zugespitzter Vorwurf, Zero Dark Thirty sei ein „Geschenk“ für die US-amerikanische Machtpolitik, lässt sich nicht so einfach vom Tisch wischen, ebenso wie seine Diagnose: „Die Normalität der Folter in Zero Dark Thirty ist Zeichen eines moralischen Vakuums, dem wir uns Schritt für Schritt annähern.“

Zu den in diesem Zusammenhang zu klärenden moralischen und juristischen Aspekten gehört auch eine Frage, mit der sich der Film gar nicht erst aufhält: Stand die Militäraktion der Navy Seals-Spezialkräfte in Abbottabad im Einklang mit Völker- und Kriegsrecht, oder war es staatlich beauftragter Mord? Und wie glaubwürdig ist generell die westliche Menschenrechtsrhetorik, wenn doch in der Praxis längst – oder schon immer – mit zweierlei Maß gemessen wird? Um diese und andere Punkte eingehend zu beleuchten, wäre vermutlich eine TV-Serie oder eine Dokumentation besser geeignet. Anlass dazu böte der Bin-Laden-Stoff mit seinen vielen Namen, Daten, Orten und Details ohnehin. Im Rahmen solcher Formate können Themen eher angesprochen und vertieft werden, die im Kinofilm Zero Dark Thirty auf zwiespältige und fragwürdige Weise verhandelt werden. 

(31.01.2013, kultur-in-bonn.de)

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Gangster Squad

Eine Frage der Ehre 

Los Angeles 1949: Sechs verdeckt operierende Polizisten sollen Gangsterboss Mickey Cohen das Handwerk legen. „Gangster Squad“ ist ein harter Kriminalfilm, der Look und Stil der 50er-Jahre zitiert. 


Zunächst einmal sieht Gangster Squad wirklich gut aus. Es ist erlesenes Ausstattungskino, das die Atmosphäre der späten 1940er und frühen 1950er Jahre wiederbelebt, wie man sie aus Filmen aus dieser Zeit in Erinnerung hat. Das Licht wirkt gedämpft, die Farben sind matt, die Klamotten schick, die Frauen schön und die Kerle knochenhart. Diese Retro-Anmutung wird perfekt bis in das Design von Titeln und Abspann durchgehalten. Allerdings fügt Gangster Squad den bekannten Handlungsmustern und Typen des hardboiled Gangsterfilms nichts wirklich Neues hinzu. Sein Drehbuch basiert auf der realen Geschichte des Gangsters Mickey Cohen und einer verdeckt operierenden Gruppe von Polizisten des Los Angeles Police Department (LAPD), verfährt aber mit Daten und Fakten recht freizügig. 

Während Cohens Bösartigkeit immerhin einen gewissen Facettenreichtum aufweist, sind seine LAPD-Gegenspieler ziemlich holzschnittartig und eindimensional gezeichnet. Ihr Tonfall wirkt an der einen oder anderen Stelle unbeabsichtigt komisch und stammt aus einer anderen Zeit. Fragen von Moral, Ehrgefühl und Stolz werden noch in aller Ernsthaftigkeit diskutiert: Warum ist jemand Polizist, was bedeutet die Dienstmarke (badge) für ihn, und wie macht er ihr Ehre? Dürfen Polizisten, wenn sie gegen brutale Gangster – und korrupte Richter und Polizeikollegen – vorgehen, den Gegner mit dessen eigenen Waffen bekämpfen und Methoden anwenden, die von keinem Gesetz gedeckt werden? Worin unterscheiden sich die Guten dann noch von den Bösen? 

Gut ist gut, und Böse ist böse
Allzu lange halten sich die Geheim-Cops mit solchen Fragen und eventuellen Zweifeln freilich nicht auf. Denn es gibt viel zu tun, und was muss, das muss. Die Trennung in Gute und Böse ist hier so eindeutig, wie sie im (post-)modernen Kriminalfilm schon lange nicht mehr anzutreffen ist, der das Gut-Böse-Schema zugunsten einer großen Grauzone aufgelöst hat. Gangster Squad fällt indes noch hinter den film noir und die „Schwarze Serie“ der frühen 40er Jahre zurück und ähnelt streckenweise mehr einem klassischen Krimi-Comic wie Dick Tracy. 

Trotzdem funktioniert der Film recht gut, was nicht zuletzt an der ebenfalls erlesenen Schauspielerschar liegt, die hier versammelt ist. Sean Penn als skrupelloser Mickey Cohen, der sich als Botschafter des „Fortschritts“ versteht und seine Macht bis nach Chicago und New York ausdehnen will, ist hinreichend böse und abstoßend. Josh Brolins Kantengesicht passt perfekt für die Rolle des hartgesottenen Sergeant John O’Mara, der im Krieg mit zwei „Purple Hearts“ dekoriert wurde und nun in L.A. einen anderen, geheimen Krieg gegen Cohens brutale Gangsterherrschaft führt, für den ihn Polizeichef Bill Parker (Nick Nolte) als Anführer auserkoren hat. 

Mithilfe seiner schwangeren Frau Connie (ebenfalls überzeugend: Mireille Enos) stellt O‘Mara nun die „Gangster Squad“ zusammen. Wie Connie im Gespräch mit Johns LAPD-Kompagnon Sergeant Jerry Wooters (Ryan Gosling) anmerkt, hat ihr Ehemann neben seinen vielen guten Eigenschaften – so redet er zum Beispiel nicht zu viel! – auch einige Schwachpunkte. Das „abstrakte Denken“ gehört nicht zu seinen Stärken, er ist vielmehr der Mann der – gerechten – Tat, weshalb Connie Jerry auch bittet, im Einsatz ein bisschen auf ihn aufzupassen. 

Wooters ist der etwas komplexere Charakter, der sich schon auf halbem Wege zum achselzuckenden Zynismus befunden und O‘Maras Anfrage zunächst abgelehnt hatte, es sich aber nach dem tragischen Tod eines unbeteiligten Jungen bei einer Schießerei zwischen Cohens Leuten und rivalisierenden Gangstern anders überlegt. Glatt verschenkt wird indes das Potenzial von Emma Stone in der Rolle von Cohens „Gangsterbraut“ Grace, die sich dann in Jerry verliebt. Es gehört noch zu ihren prägnantesten Dialogen und Auftritten, wenn sie den groben Mobster Cohen beim Essen im Nobelrestaurant diskret darauf hinweist, welche Gabel er zu welchem Gang nehmen muss. Ansonsten beschränkt sich der Film bei Emma Stones Szenen weitgehend darauf, sie perfekt auszuleuchten und toll aussehen zu lassen. Zu bemängeln sind neben der fehlenden Tiefenschärfe vieler Charaktere auch einige Action-Szenen, die nicht sorgfältig ausgearbeitet wurden. So eine Auto-Verfolgungsjagd und die finale Schießerei, bei denen fehlende Kohärenz durch hohes Tempo und viel Bewegung übertüncht werden sollen.

Unerbittliche Kämpfer auf beiden Seiten
Den Regeln des Genres entsprechend gibt es eine ganze Reihe brutale Kämpfe mit viel Blut und vielen Beulen; den wohl grässlichsten, von Cohen angeordneten Mord bekommt das Publikum gleich zu Beginn serviert. Auch ein archaisches Faustkampf-Duell Mann-gegen-Mann darf nicht fehlen, und selbst wenn man solche Boxkämpfe schon x-mal gesehen hat, muss man den beiden Kombattanten hier attestieren, einen höchst intensiven Fight abgeliefert zu haben. 

Das ist unter dem Strich alles nicht schlecht, spannend und mit ein paar Abstrichen sehenswert, wenngleich Regisseur Ruben Fleischer mit Gangster Squad nicht an die Raffinesse und Virtuosität von Curtis Hansons thematisch vergleichbarem Meisterwerk L.A. Confidential (1997) heranreicht. Zu den offensichtlichen Vorläufern von Gangster Squad zählt auch der 1996 von Lee Tamahori gedrehte Nach eigenen Regeln (Mulholland Falls), in dem Nick Nolte die Hauptrolle eines harten Polizisten spielt, der mit selten legalen Mitteln und der Unterstützung seiner „hat gang“ im L.A. der 50er Jahre Gangster zur Strecke bringt und eine Verschwörung von Militär-Einheiten und FBI aufdeckt. In Gangster Squad gibt Josh Brolin nun quasi eine Variation dieser Nick-Nolte-Rolle (und erinnert dabei bisweilen frappierend an den Kollegen), während Nolte seinen Chef Parker spielt. O’Mara und Parker, das sind zwei seelenverwandte Haudraufs für das Gute – was immer das auch im Einzelfall ist. 

(23.01.2013, kultur-in-bonn.de)

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Movie 43

Aus der Untenrum-Schublade

Die Episoden-Komödie „Movie 43“ sucht den Witz nahezu ausschließlich unter der Gürtellinie und wird so trotz eines Großaufgebots an Stars zu einem aussichtsreichen Kandidaten für die Goldene Himbeere, mit der alljährlich die schlechtesten Filme ausgezeichnet werden.


„Die sind total Eier-fixiert“, sagt die Johnny-Knoxville-Figur in einer Szene von Movie 43. Damit ließe sich auch das Drehbuch in einem Satz zusammenfassen. „Untenrum“ liegt der gemeinsame Nenner der rund ein Dutzend Episoden, für die laut credits tatsächlich zwölf Regisseure und acht Autoren verantwortlich sind. Ihr Bauprinzip besteht darin, in kürzester Zeit möglichst viel explicit language und sonstiges Explizites unterzubringen. 

Das Spektrum reicht von derben Bezeichnungen der Geschlechtsteile bis zur Fäkalsprache, nebst entsprechenden Begleitgeräuschen und Körperausflüssen wie Kot, Sperma und einer ersten Monatsblutung. Häufiges Grimassieren und Körpereinsatz sollen die Komikerzeugung unterstützen. Zu den visuellen „Gags“ mit Spezialeffekten zählen ein Hodensack an einer Stelle, wo er sich üblicherweise nicht befindet, und aufgepumpte Wangen und Brüste. In der abschließenden Episode „Beezel" wuselt eine in den Realfilm eingebaute Cartoon-Katze aggressiv-lüstern durch die Gegend – dagegen ist Fritz the Cat ein Ausbund an geistvollem Witz. Der Ehrgeiz der Autoren von Movie 43 bestand offensichtlich darin, das Terrain unter der Gürtellinie erschöpfend auszuloten und dabei eine maximale Zotendichte zu erreichen. 

Eine volle Ladung aus der Zotenkanone
Nur entsteht aus diesem Überbietungswettbewerb keine Komik und selten mal ein Witz. Wo zaghafte Ansätze zu etwas ausgefeilterem, schrägem Humor vorhanden sind und sich so etwas wie ein Schmunzeln auf dem Gesicht des Zuschauers andeuten könnte, dauert es eben nur zwei, drei Minuten länger, bis alles mit der Zotenkanone platt gemacht wird. So etwa in der Episode „Homeschooled“, in der Samantha (Naomi Watts) und Robert (Liev Schreiber) ihren Sohn zuhause unterrichten und ihm höchstpersönlich die Schreck- und Schockerlebnisse der Pubertät vermitteln wollen, und in „Truth or Dare“ beim Date-Spiel zwischen Emily (Halle Berry) und Donald (Stephen Merchant, der immerhin The Office geschrieben hat und sich mit Peinlichkeiten eigentlich auskennen sollte). Eingebettet sind die Episoden in eine weitgehend witzfreie Rahmenhandlung, in deren Verlauf ein paar Jugendliche im Internet nach einem „Movie 43“ suchen. 

Es bleibt ein Rätsel, wie dieser Film zustande kommen konnte. Seine größte Leistung besteht darin, einen Haufen echter Stars am Start zu haben. Schauspielerinnen und Schauspieler, die bereits eine Reihe von Preisen bekommen, gerade erst eine vielversprechende Karriere begonnen oder einen Ruf zu verlieren haben. Halle Berry, Uma Thurman, Kate Winslet, Naomi Watts, Anna Faris, Emma Stone, Chloë Grace Moretz, Richard Gere, Liev Schreiber, Hugh Jackman und noch ein paar andere bekannte Gesichter. Ob da Star X Regisseur A noch einen Gefallen schuldete? Oder in der etwas bösartigeren Variante Produzent B etwas über Star Y wusste, womit er ihn beziehungsweise sie zur Mitwirkung bewegen konnte? 

Kein guter schlechter Geschmack 
Kaum zu glauben, dass sich unter den Regisseuren und Produzenten dieses Films auch Leute wie Brett Ratner (Rush Hour) und Peter Farrelly befinden, die bereits ansprechende Humorarbeit abgeliefert haben. Farrelly zeichnet immerhin zusammen mit seinem Bruder Bobby für Verrückt nach Mary (There‘s Something About Mary) verantwortlich, einen immer noch amtlichen Klassiker des guten schlechten Geschmacks, dessen Trademark-Gag mit einer speziellen Art von Haargel in Movie 43 denn auch recycelt wird. 

Was immer den Machern dieses Films vorgeschwebt haben mag, es funktioniert einfach nicht. Ihn mit Episoden-Komödien wie Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie zu fragen wagten(Everything You Always Wanted to Know About Sex But Were Afraid to Ask) und Kentucky Fried Movie zu vergleichen, käme einer Beleidigung von Woody Allen respektive John Landis und Zucker/Abrahams/Zucker gleich. Wie die Kinogeschichte zeigt, kann allerdings auch ein völlig vergurkter Film noch eine Chance bekommen, wenn sich eine Gefolgschaft findet, die ihn getreu dem Motto „Das ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist“ zum Kult erklärt. Und so ist es nicht auszuschließen, dass Movie 43 dereinst in einem Atemzug mit Filmen wie The Room oder Angriff der Killertomaten (Attack of the Killer Tomatoes) genannt werden wird. 

(24.01.2013, kultur-in-bonn.de)

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Django Unchained

Es war einmal in Amerika

Quentin Tarantinos Sklaverei-Western „Django Unchained“ ist blutig, brutal und böse – was Wunder, bei einem solchen Thema. Und er ist dabei streckenweise so schräg, grotesk und komisch wie Tarantinos frühe Meisterwerke. Also allemal sehenswert. 


Django Unchained atmet, wie immer bei Tarantino, viel Filmgeschichte. Und er hat dafür – Ehre, wem Ehre gebührt – ein Treffen der Generationen arrangiert, bei dem Jamie Foxx und Franco Nero zusammen am Tresen stehen und einen dieser Film-pur-Dialoge führen. Auf die Frage des Bar-Gastes Vessepi (Nero), wie er denn heiße, antwortet Django (Fox): „Django. Mit stummem ‚D‘“. Darauf Vessepi: „Ich weiß.“ 

Kurz zuvor haben wir mit ihnen noch einem blutigen Schauspiel beigewohnt, einem römischen Gladiatorenspielen ähnelnden Duell auf Leben und Tod, das zwei schwarze „Mandingo“-Kämpfer auf Geheiß ihrer Eigentümer in einer Ecke ebenjenes gepflegten, mit Plüsch und Chaiselongues ausgestatteten Saloons austragen müssen. Beendet wird es auf barbarische Weise, von der Kamera nur angedeutet und nicht en détail gezeigt, und hinterlässt damit einen fast noch grausigeren Eindruck als manch andere, explizitere Gewaltszene. 

Wer Gewalt sät …
Wieder spritzt häufig das Kunstblut, manchmal auch in Großaufnahme und Zeitlupe, einmal auf weiße Blumen im Feld. Zwar wird so die Künstlichkeit der dargestellten Gewalt jederzeit kenntlich gemacht, dennoch kann man sich bisweilen des Eindrucks nicht erwehren, dass QT es auch deshalb gerne mal knallen und quellen lässt, weil er von diesen Bildern fasziniert ist. Doch so selbstbezüglich und gelegentlich eitel-manieriert Tarantinos Filmschaffen ist und so comichaft überzeichnet seine Figuren oft sind, so verkehrt wäre es ihm zu unterstellen, er würde Gewalt und Sklaverei relativieren oder gar durch comic reliefverharmlosen. Tarantino zeigt deutlich und unmissverständlich, welche Scheußlichkeiten Menschen einander anzutun in der Lage sind. Es tut der Wirkung keinen Abbruch, dass nicht alles historisch-wissenschaftlich verbürgt ist, „Mandingo“-Kämpfe eingeschlossen. Hier wird nicht heldenhaft gestorben, sondern elendig und unter grässlichen Schreien verreckt. Und es gab nun einmal (und gibt immer noch) Menschen, die Spaß daran finden, andere Menschen zu quälen und abzuschlachten. Wie jene weißen Sklavenbesitzer und ihre Schergen, die ihre Hunde auf Schwarze hetzen und sie von ihnen zerfleischen lassen. 

Mit Django Unchained knüpft Tarantino an seine besten Leistungen zu Karrierebeginn an, ohne die unwiderstehliche (Sog-)Kraft von Reservoir Dogs und Pulp Fiction ganz zu erreichen. Django Unchained ist ein Italo-Western nach Tarantino-Art, der mit knallroten Schriftzügen in den credits die Anmutung der Vorgänger aus den 60er Jahren zitiert, neben Original-Django-Musik und Morricone auch unzeitgemäßen Hiphop ertönen und seine Titelfigur eine coole Sonnenbrille tragen lässt, die nicht gerade nach Baujahr 1858 aussieht. Er zitiert klassische Western-Einstellungen, wenn Menschen in der Prärie mit der untergehenden Sonne im Rücken als Silhouetten den Heimweg zum Herrenhaus antreten – als vorausweisendes Zeichen auf einen folgenden Showdown. 

Zynischer Zahnarzt und Gentleman
Es ist wieder viel Prominenz in Gast- und Kurzauftritten am Start, unter anderem Don Johnson, Bruce Dern, Jonah Hill und auch QT himself. Getragen wird der Film indes von den durchweg starken Leistungen seiner Stars in den Haupt- und Nebenrollen. Christoph Waltz spielt erneut glänzend Christoph Waltz, seine Rolle des Dr. „King“ Schultz ähnelt in ihrer Anlage dem charmanten, kultivierten Nazi-Oberst aus Inglourious Basterds, nur dass Schultz, der hartgesottene Zyniker mit einem ebenso romantischen wie moralischen Rest-Kern, hier zu den Guten gehört. Tarantino macht sich einen Spaß daraus, den deutschen Immigranten als gebildeten Mann von Welt zu präsentieren, der mehr auf dem Kasten hat als alle anderen zusammen und ein gewähltes, literarisches Englisch spricht, dem die eingeborenen Muttersprachler meist nicht ganz folgen können. Auf dem Dach des Planwagens von Dr. Schultz hängt, sozusagen als „Marketing-Display“, ein überdimensionaler Backenzahn. Waltz‘ Schultz ist polyglotter Gentleman und Karikatur des Gentleman in einem.

Auch Django hat seine liebe Mühe mit Schultz‘ Wortwahl. Nachdem der Ex-Zahnarzt und Kopfgeldjäger ihn aus seinen Ketten befreit hat, um Informationen über ein paar steckbrieflich gesuchte Banditen-Brüder zu bekommen, weist er Django in das Metier der Kopfgeldjagd ein und macht ihn zu seinem Partner. Für eine dieser Unternehmungen ist eine glaubwürdige Tarnung nötig, wobei Django als „Lakai“ auftreten soll. Als er ihm den Plan auseinandersetzt, benutzt Schultz die anglisierte französische Bezeichnung für Kammerdiener, valet. Nachdem Django sich das Wort von Schultz hat erklären lassen, wählt er eine entsprechende, höchst (un)passende Kostümierung aus – und verbucht damit einen sicheren Lacher.

Mit Entsetzen Scherz treiben
Überhaupt haben die schrägen Einlagen, die Tarantino sich und dem Zuschauer gönnt, wieder mehr vom alten Witz. So macht er aus einem Aufmarsch beziehungsweise Ritt von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern eine veritable Comedy-Szene, in der die Kapuzenträger sich wie Volldeppen gebärden. So schlecht geschnittene Löcher für die Augen, man sieht ja gar nicht, wo man hin reitet! Für Albernheiten bei der Vergabe von Rollennamen hatte Tarantino ebenfalls schon immer etwas übrig. Geradezu einen Narren hat er scheint’s am Deutschen gefressen (auch wenn es in Django Unchained zugegebenermaßen aus dramaturgischen Gründen erforderlich ist). Djangos Frau (Kerry Washington), von der dieser als Sklave getrennt wurde und die er nun wiederfinden will, hört nämlich auf den Namen „Broomhilda von Schaft“ und spricht etwas Deutsch, da ihr erster Besitzer deutscher Abstammung war und sie Brunhilde genannt hatte. 

Überdreht und streckenweise ins Groteske verzerrt sind die Figuren durchweg. Da machen Plantagenbesitzer Calvin Candie (Leonard DiCaprio), dessen Eigentum Broomhilda inzwischen ist, und sein „Butler“ Stephen (Samuel L. Jackson) keine Ausnahme – und die Plantage heißt natürlich „Candyland“ (ja, eigentlich mit „ie“ statt „y“). Dort gibt es weiteres großes Schauspiel zu bestaunen, in den Szenen mit DiCaprio und Jackson, dessen Stephen der eigentliche Herr von Candieland ist und für Calvin eine Mischung aus Majordomus, Mentor und Ersatzvater darstellt. Stephen darf sich eine Menge herausnehmen – auch edle Getränke in der Bibliothek seines „Massa“, wenn niemand außer Calvin dabei ist. Ein Anti-Onkel-Tom, wie er im Buche steht, der sich mit der Sklaverei bestens arrangiert hat und beim Unterdrücken fleißig mithilft. 

So bleibt bei aller Übersteigerung ein alles andere als anheimelndes Bild der USA und ihrer Geschichte zurück. Der als eher unpolitisch geltende Tarantino hatte sich im Vorfeld des Kinostarts überdies unmissverständlich zur Sklaverei und auch dem Völkermord an den US-amerikanischen Ureinwohnern geäußert. Diese Verbrechen sind Teil einer langen Tradition der Gewalt, die genauso zu den USA gehört wie ihr Gründungs- und Pioniermythos. 

Ein Tarantino nahe Bestform 
Tarantino hat mit Django Unchained wieder nahezu Bestform erreicht. Das weckt Erwartungen und Hoffnungen. Mal sehen, welches Genre der Meister nach Thriller, Blaxploitation, Eastern, Grindhouse, Kriegsfilm und Western als Folie für den nächsten Tarantino-Film nutzt, und welchen Stoff er dafür aus der Rumpelkammer holt. Wenn er nicht noch weiter in der Zeit zurückgeht und einen Sandalenfilm oder ein anderes period piece dreht, käme da eigentlich nur noch Science-Fiction oder Fantasy in Frage. Oder Tarantino nimmt sich ein ebenso angestaubtes wie genau aus diesem Grunde herausforderndes Genre vor: die (Verwechslungs-)Komödie. Eine kunstbluttriefende Adaption von Charleys Tante, das könnte hinhauen. 

Noch reizvoller (und realistischer) erscheint freilich eine andere Perspektive. Laut imdb-Biografie hat QT geäußert, dass er irgendwann in seiner Karriere gerne einmal einen Bond-Film drehen würde. Dafür wäre jetzt der richtige Moment gekommen. Denn wer sonst – außer den Coens – sollte Skyfall toppen können? 

(15.01.2013, kultur-in-bonn.de)



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