SPORTKOLUMNEN

Pep
Rein statistisch betrachtet
Rücksturz ins Kölsche
Die Rache der Griechen
Der Westen leuchtet
Ein Präsident geht mit Getöse
Die Fußballextremisten aus Köln, oder: Drink doch eene mit 
Der Bock geht lieber gärtnern 
Die Aufregungsmaschine läuft wieder auf vollen Touren
Eine WM zum (Ton) abschalten
Manga statt Märchen
Gleichberechtigung geschafft
Königin Fußball
Dirk Superstar
Die Entlassung einer Führungskraft
Wir haben fertig
Die Unabsteigbaren mal wieder
Jupp Heynckes braucht einen Motivationsschub
1.FC Köln: Konzeptfußball statt Fußballgott? 
Stadt in Angst
Das Ende von Vizekusen? 


DIVERSES & DISPARATES

Reise-Splitter
Haariges und Schneidendes
Noch 'ne Stadtreise: Wien im zweiten Anlauf
Stadtreisen für Anfänger (Hamburg)
Splitter
Der neue Spartensender Philosophie-TV


______________________________________________________________________________________



Pep

Ist Josep Guardiola wirklich der Wundertrainer, mit dem Bayern München „auf Jahre hinaus unschlagbar“ sein wird? Und wäre es da für den Unterhaltungswert der Ware Bundesliga nicht besser, wenn auch José Mourinho einen Bundesligisten trainierte?


Ein zu den Branchenführern zählendes Unternehmen verpflichtet als leitenden Angestellten für den operativen Bereich einen Mann von 42 Jahren, der sich gerade mitten in einem Sabbatical befindet. An Berufserfahrung vorweisen kann er genau vier Jahre (2008-2012), in denen er als Cheftrainer für die erste Profi-Mannschaft des CF Barcelona zuständig war. Von seinem Vorgänger Frank Rijkaard übernahm er seinerzeit ein intaktes Team, in dem bereits einige der prägenden Spieler (Xavi, Iniesta, Valdés und Puyol) standen, die dabei gewesen waren, als der CF Barcelona 2006 sein erstes Champions-League-Finale gewonnen hatte. 

Wenn Josep Guardiola aber ein Wundertrainer ist, wie kommt es dann, dass er mit einer solchen Mannschaft die Champions League (CL) nicht viermal hintereinander gewonnen hat? Wieso hat Guardiola den „Fluch“ nicht brechen können, der seit Einführung der CL auf jedem Sieger liegt und dafür sorgt, dass noch keiner seinen Titel verteidigt hat? Hätte diese Mannschaft nicht vielmehr unter jeder sportlichen Leitung, selbst einem – selbstverständlich nur hypothetischen – Gespann aus Jürgen Klinsmann (Teamchef) und Lothar Matthäus (Drräner), Titel am laufenden Band geholt? 

Auch Feierbiester haben mal fertig 
Tatsächlich kann kein Mensch wissen, ob Guardiola außerhalb des CF Barcelona ein guter Trainer ist. Die Sucht des FC Bayern nach dem exklusiven Glamour-Faktor wird er fürs erste befriedigen, gleichwohl bleibt festzuhalten: Sportlich erfolgreichster Übungsleiter in den an spektakulären Trainerverpflichtungen wahrlich nicht armen letzten 15-20 Jahren war der stets um ein sachlich-seriöses Auftreten bemühte Ottmar Hitzfeld. Giovanni Trapattoni und Louis van Gaal haben immerhin nicht nur die Trophäensammlung des FC Bayern um je eine Meisterschaft und einen DFB-Pokalsieg, sondern auch die deutsche Sprache um einprägsame Redewendungen und Ausdrücke bereichert. Jürgen Klinsmann kommt indes das fragwürdige Verdienst zu, den Anteil überflüssiger Anglizismen im Fußballjargon weiter in die Höhe geschraubt zu haben. 

Wie soll nun aber ein Trainer, der die hiesige Landessprache nicht spricht und dem Vernehmen nach seinen Landsmann Raul als Assistenten verpflichten will, den Unterhaltungswert der Bundesliga erhöhen? Wenn Guardiola „nur“ der exzellente Fußballfachmann ist, den alle in ihm sehen, wird er vielmehr die derzeit herrschende Langeweile in der Bundesliga noch potenzieren, sollten die Bayern unter ihm ihre Seriensiegerei fortsetzen und gegebenenfalls auch noch auf die europäische Ebene ausdehnen. Müssen dann neue Wettbewerbe erfunden (und gewonnen) werden, damit Guardiola „neue Motivation“ und „neue Ziele“ findet und der FC Bayern und sein Präsident endlich einmal irgendetwas haben, das andere nicht haben? 

Richtig lustig könnte es hingegen werden, wenn der bekannt schnelle Fremdsprachenlerner José Mourinho einen Bayern-Konkurrenten in der Bundesliga übernähme. Aber die Dortmunder wollen die Münchner ja nicht mehr nachahmen wie in jener unglückseligen Ära Ende der 90er Jahre, als sie teure Startrainer und -spieler engagierten und später beinahe Pleite gingen. Bliebe also noch Schalke übrig. Mit russischen Energiemultis als Versorger beziehungsweise Arbeitgeber hat „The Special One“ Mourinho ja Erfahrung. Um einen spöttischen oder provokanten Spruch ist er nie verlegen, und vor schwierigen Aufgaben schreckt Mourinho auch nicht zurück, wie er schon anlässlich seines Amtsantritts beim FC Chelsea 2004 unterstrich: “Wenn ich einen einfachen Job gewollt hätte, wäre ich in Porto geblieben: Wunderschöner blauer Stuhl, die Champions-League-Trophäe, Gott und nach Gott ich!”

Gesucht: Ein nicht abgeschmackt wirkendes Wortspiel mit Pep
José Mourinho wäre zweifellos das beste Mittel gegen das große Gähnen und gäbe eine interessante Reizfigur für die Bundesliga ab. Nun, was nicht ist, kann ja noch werden. Jetzt kommt erst einmal Josep „Pep“ Guardiola, dessen Spitzname in jedem Fall jede Menge beziehungsreiche Anspielungen und Überschriften in der Berichterstattung mit sich bringen wird. Es ging gleich am ersten Rückrunden-Spieltag los, als ein Internet-Sportportal nach dem „Pflichtsieg“ der Bayern gegen Fürth titelte: „Bayern fehlte der Pep“. Und bald schon wird die Wortspielmaschine gnadenlos auf höchsten Touren laufen. Wir warten bereits auf das unvermeidliche Lederhosenfoto mit der Überschrift „Pep jetzt ein echter Sepp“. Wahrscheinlich verpassen sie ihm dazu auch noch einen Seppelhut (aus dem, hahaha, ein „Peplhut“ wird). 

Und wehe, die Bayern verlieren mal ein Spiel, dann heißt es bei der Vier-Buchstaben-Zeitung und ihren Artverwandten: „So macht sich Pep zum Depp!“. Aber es soll ja auch noch Qualitätsmedien mit anspruchsvollen Leserschaften geben. Ein Foto von Bayern-Spielern, die nach einer Niederlage in einem entscheidenden Spiel vereinzelt und verloren auf dem Feld herumstehen beziehungsweise -liegen, das schreit doch geradezu nach einer Bildunterschrift (BU) wie „Sgt. Pep‘s Lonely Hearts Club Band“, gell? Sicher hat auch schon jemand ein Foto mit Franzens Kaiserkrone auf Guardiolas Kopf und der BU „Jetzt schwingt Pep das Zepter” in Planung. Selbst für Musik-, Mode- und Kochzeitschriften ist der neue Glamour-Trainer mit diversen Varianten von „Salt & Pepper“ anschlussfähig. Am meisten gespannt bin ich allerdings, ob sich bald jemand einen naheliegenden Versprecher leistet – und eine Fußballweisheit von „Pep Herberger“ zitiert. 

(21.01.2013)

______________________________________________________________________________________



Rein statistisch betrachtet

Statistiken sind etwas Wunderbares. Sie lassen sich immer so deuten und zurechtbiegen, wie es Fans für ihre jeweiligen Lieblingsvereine gerade passt. In diesem Sinn schon einmal Glückwunsch an Borussia Dortmund! Irgendeinen Titel werden sie 2013 auf jeden Fall holen. 


Warum der BVB auch dieses Mal Meister werden wird? Ganz einfach, der bisherige Saisonverlauf liefert ein Spiegelbild der Saison 2011/2012. Da lagen die Dortmunder nach dem sechsten Spieltag sogar acht Punkte hinter den Bayern, die zudem eine Tordifferenz von plus 17 gegenüber mickrigen plus 1 des BVB aufwiesen. Zum Vergleich: Derzeit haben die Bayern gerade mal sieben Punkte und neun Tore Vorsprung. Und das soll für einen Durchmarsch reichen?

Ganz klar: Wer hier durchstartet, ist Dortmund. Diesmal sogar einen Spieltag früher als letztes Jahr, wo sie in Runde sechs noch bei Hannover 96 ihre für lange Zeit letzte Bundesliga-Niederlage bezogen. Natürlich „schließt sich der Kreis“ – so eine typische Formulierung des überzeugen Statistik-Hokuspokussers – wenn die darauf folgende Serie von 31 nicht verlorenen Spielen nun ausgerechnet beim bis dato noch sieglosen HSV ihr Ende fand, der damit wiederum seinen Bundesliga-Statistikrekord von 36 nicht verlorenen Spielen in Folge aus den Spielzeiten 1981/82 und 1982/83 rettete. 

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Kurzzeit-Statistik im direkten Saisonvergleich zwischen 2011/2012 und 2012/2013 versagen sollte, gibt es ja immer noch die historischen Parallelen aus der Langzeit-Statistik. Die vorletzten zwei Meistertitel hintereinander gelangen dem BVB in den Jahren 1995 und 1996, und 1997 folgte der Gewinn der Champions League (CL). Damals hieß das eigentlich nicht zu schlagende Team Juventus Turin, heute ist es der FC Barcelona. Damals war das CL-Endspiel in München … tja, das hatten wir gerade erst. Bleibt aber alles im grünen Bereich, denn hundertprozentige Analogien darf es in der Pseudowissenschaft Fußballstatistikanalyse und -interpretation eh nicht geben, sonst würde die Sache schnell langweilig. 

Wir halten gleichwohl fest: Sollte Borussia Dortmund 2013 nicht Deutscher Meister werden, holen sie zur Kompensation die Champions League, wie soeben statistisch bewiesen wurde. In der Bundesligatabelle würden sie dann wie in der Saison 1996/1997 auf Platz drei landen, Bayern würde Meister – man muss ja auch gönnen können, und zwar am besten so richtig gönnerhaft, dass Bayern-Präsident Ulrich Hoeneß röter als je zuvor anläuft vor Wut. Bundesliga-Vize würde, auch in Analogie zu 96/97, na wer wohl? 

Setzen Sie also ruhig auf den BVB. Irgendwas wird er 2013 schon gewinnen, und sei es den statistisch bisher unauffällig gebliebenen DFB-Pokal. Und die Bayern? Muss man nach wie vor nicht mögen, auch wenn die unerwartete CL-Niederlage beim weißrussischen Underdog Bate Borissow sie wieder „menschlich“ zu machen scheint. Musste Bayern München denn gerade im Land des nicht gerade für seine Menschenfreundlichkeit bekannten Despoten Lukaschenko die erste Saisonniederlage kassieren? Und dann hat der FC Bayern auch noch seinen allseits geschätzten Trainer entlassen. Zu so einem Verein geht man ja auch gar nicht erst, Herr Bauermann! 

P.S. Es hat zwar nur am Rande mit dem Thema zu tun, doch angesichts der Verpflichtung von Michael Frontzeck als neuem Trainer des FC St. Pauli und dem Vergleich mit seinen beiden Vorgängern Schubert und Stanislawski gilt es zu konstatieren, dass rein statistisch gesehen mit abnehmendem Haupthaar die Wahrscheinlichkeit steigt, am Millerntor als Übungsleiter engagiert zu werden.

(04.10.2012)


______________________________________________________________________________________


Rücksturz ins Kölsche

In der Not greifen beim 1.FC Köln die alten Reflexe. Das „FC-Jeföhl“ soll wiederbelebt werden. Fragt sich nur, wie lange es diesmal hält. 


Die Schlammschlacht um das Präsidentenamt fand nicht statt. Stattdessen stand bei der außerordentlichen Mitgliederversammlung des 1. FC Köln kölsche Harmonie auf dem Programm. Nicht einmal zu einer echten Kampfabstimmung kam es. Und so sind sie nun mit einem 90%-Wahlergebnis in Amt und Würden: Wackelkandidat und „FC-Legende“ Harald Schumacher als Vizepräsident und der Präsident des Festkomitees Kölner Karneval, Markus Ritterbach, als dritter Vorstand. Zwar nicht gewählt, aber als Messiasfigur unverzichtbar: Interimstrainer Frank Schäfer. Schäfer konnte auf der Versammlung sagen, was er wollte, das Publikum antwortete mit frenetischem Jubel und tosendem Beifall. Hätte er beantragt, den 1.FC Köln aufzulösen und in der Oppositionsgruppe FC:Reloaded aufgehen zu lassen, ihm wäre eine überwältigende Mehrheit sicher gewesen. Hätte er die Mitglieder aufgefordert, sich alkoholfreies Alt einzuflößen und zu Fuß nach Düsseldorf zu gehen, sie hätten auch das getan.

Folgt man weiter den Live-Tickern, Videoclips und Kommentaren in Medien und Fanforen, muss es ein typischer Köln-Abend mit viel Gesang in der Deutzer Arena gewesen sein. Nur Bier trinken durften die mehr als 4000 anwesenden Jecken, pardon, Mitglieder, erst nach der Wahl. So hatte die Veranstaltung etwas von der selbstbesoffenen kölschen FC-Glücksseligkeit der 80er-Jahre. Da sollte sich niemand wundern, wenn demnächst rund um das Geißbockheim auch wieder Vokuhilas und Operlippenbärte wachsen. Und der Schnäuzerkowski aus dem Hänneschen-Theater Greenkeeper im Stadion wird. 

Was dem FC-Fan nun noch fehlt, ist eine „richtig geile Truppe“ auf dem Platz – wie in den 80ern, als Geils, Geilenkirchen und Geilchen für den FC spielten. Okay, letzterer heißt in Wirklichkeit Gielchen, und zugegeben, dieser Kalauer lagerte seit mindestens 10 Jahren auf Notizzetteln und Festplatten und wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt, um herausgelassen zu werden. (Nachnamenswitze um den neuen FC-Vorstandschef Werner Spinner verbieten sich ja von selbst, da sie viel zu einfach und billig wären. Ob sich Fans und Presse daran auch im Falle eines Misserfolgs halten, bleibt indes abzuwarten.)

Bestimmt würden die drei Ex-Profis auch einen geilen Vorstand abgegeben. Schließlich haben sie das historisch-nostalgische Moment auf ihrer Seite, das bei FC-Fans immer noch weit größeres Gewicht hat als die (er)nüchtern(d)en Fakten der Gegenwart: Alle drei standen in der Startaufstellung beim letzten großen internationalen FC-Erfolg, dem 2:0-Sieg gegen Real Madrid im Rückspiel des Uefa-Cup-Finales 1986! Und Geilenkirchen erzielte gar den Treffer zum 2:0! Geil, geil, g… nun ja, das Hinspiel hatte der FC leider schon mit 1:5 verloren. 

Wie belastbar die aktuelle Hochstimmung im Verein nach der Präsidentenwahl ist, dürfte sich rasch erweisen. Zum Beispiel, wenn es trotz Trainergott Schäfer nun doch zum fünften Bundesliga-Abstieg kommen sollte, und das schlimmstenfalls nach einer verlorenen Relegation gegen Fortuna Düsseldorf. Dann müssen Geils & Co. den Laden einfach übernehmen. 

(27.04.2012)


______________________________________________________________________________________


Die Rache der Griechen

In Athen regiert das deutsche Spardiktat, in Berlin fortan Steinzeitfußball griechisch-preußischer Prägung. Otto Rehhagel verlässt sein Essener Pensionärs-Domizil, um Hertha BSC zu reg…, ähm, trainieren.


"Ab Montag bin ich bei Hertha das Gesetz, und alle hören auf mein Kommando. Ich habe immer das letzte Wort, bin ab jetzt Tag und Nacht für Hertha da – und zwar immer pünktlich. Ich bin ein Vorreiter und erwarte Ordnung und Disziplin. Ich bin ein Preuße. Oder auch ein demokratischer Diktator" – so Otto Rehhagel in der "Bild am Sonntag".

Was für ein Pech für Lothar Matthäus. Die gefühlte Dramatik der Lage in Berlin und der immerwährende Bedarf an Aufregung und Unterhaltung im Zirkus Bundesliga ließen das bislang Undenkbare, jede Vorstellungskraft Sprengende dieses Mal tatsächlich in den Bereich des Möglichen rücken: Loddar wird Trainer eines Erstligisten. Stattdessen reaktivierte Hertha BSC nun Rubens Rehhagel, den Klassische-Zitate-Angeber und Journalisten-Belehrer par excellence. Ihn hatte in der Nachfolge-Debatte niemand auf dem Schirm, und dementsprechend ungläubig waren die ersten Kommentare, als am Karnevalssonntag die Meldung über seine Verpflichtung kam. Es konnte sich da doch eigentlich nur um einen Karnevalsscherz handeln, nicht wahr? 

Der Mann macht keine Scherze. Hat er noch nie gemacht, weder als Verteidiger Eisenfuß in seiner aktiven Zeit als Spieler bei Rot-Weiß Essen noch als Trainer, der seit dem letzten Spieltag der Saison 1977/78 den Rekord für die höchste Bundesliganiederlage aller Zeiten hält, als er mit Borussia Dortmund 0:12 gegen Mönchengladbach verlor und flugs zu „Otto Torhagel“ erklärt wurde. 

Bei- und Spitznamen sammelte er auch in der Folgezeit reichlich. Aus dem „Otto Notnagel“ der späten Siebziger Jahre wurde zwischen 1981 und 1995 in Bremen „König Otto“ und schließlich in Griechenland „Rehakles“. Gemessen an den Ansprüchen, die der verhinderte Philosophenkönig an sich und andere stellt, hätte „Aristottoles“ auch nicht schlecht gepasst. 

Wie er 2004 mit einer Truppe, die noch nie etwas gewonnen hatte, den EM-Titel holen konnte, ist vielen noch immer ein Rätsel. Doch wahrscheinlich hat der große Pädagoge und Spielerstarkredner Rehhagel, den taktische Feinheiten und neue Trainingsmethoden nie sonderlich interessiert haben, die griechischen Fußballer seinerzeit mit jenem Satz sokratischer Herkunft überzeugt, der am Beginn aller Erkenntnis steht: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Nun schließt sich also der Kreis, wenn Aristottoles I. ab sofort das Szepter im Berliner Olympiastadion schwingt. Und wie es der Terminplan will, empfängt er dort unter anderem seine drei letzten Bundesliga-Trainerstationen Werder Bremen, Bayern München und 1. FC Kaiserlautern zum Heimspiel. Wahrscheinlich wird er nun EM-Held Traianos Dellas aus Athen holen und als Libero reaktivieren. Da aber für die zum Klassenerhalt nötigen 1:0-Siege auch jemand die Tore schießen bzw. köpfen muss, muss unbedingt auch Angelos Charisteas, derzeit Panetolikos Agrinio (die heißen wirklich so), verpflichtet werden. (Und am besten auch gleich noch Theofanis Gekas von Samsunspor.) 

Dann kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Wenn die Herthaner dann am vorletzten Spieltag bei Schalke gastieren, sind sie längst gerettet und verlieren locker mit 0: 13. Und Otto kann gleich weiter nach Essen fahren. 

(23.02.2012)


______________________________________________________________________________________


Der Westen leuchtet 

Der Ball ruht für vier Wochen. Anlass zu weihnachtlicher Besinnlichkeit gibt es für die Bundesligaklubs aus NRW kaum, denn sie spielen in der Liga so erfolgreich wie selten zuvor. Eliminieren können sie sich nur gegenseitig im DFB-Pokal. 


Vier Westklubs im oberen Drittel der Bundesligatabelle, das gab’s zum Hinrundenabschluss schon lange nicht mehr. Die größte Überraschung stellt dabei das Abschneiden von Borussia Mönchengladbach auf Platz vier dar. Zwar ist aus der früheren „Torfabrik vom Bökelberg“ (1970er-Jahre-Spruch) mit der aktuell zweitbesten Abwehr der Bundesliga eher ein Spezialist fürs Tore verhindern geworden. Doch in Gladbach stört sich niemand daran, solange die Mannschaft die nervenaufreibenden Abstiegskämpfe der jüngsten Vergangenheit hinter sich lässt. Und damit dazu beiträgt, dass erst gar keine Sehnsucht nach einer Machtübernahme durch Borussia-Altstar Effenberg aufkommt, der sich ja zu höheren Ämtern im Verein berufen fühlt. 

Die andere Borussia aus Dortmund suchte lange nach der Form der vergangenen Spielzeit, ebenso wie ihr Trainer Jürgen Klopp, der im Rennen um den besten Trainer-Spruch der Saison bereits deutlich hinter Kölns Ståle Solbakken zurückliegt. Nachdem sich das Ausscheiden aus der Champions League abzuzeichnen begann, rückte der BVB auch in der Bundesliga immer mehr von seinem Hurra-Stil ab. Tabellenplatz zwei nur drei Punkte hinter Bayern München scheint dem neuen Dortmunder Ergebnisfußball Recht zu geben. Offensichtlich muss man den Münchnern immer ähnlicher werden, wenn man Ihnen auf Dauer Paroli bieten will. Keine schönen Aussichten.

Nichtsdestotrotz würde es der Bundesliga nur gut tun, wenn die Bayern gleich ein paar Dauerrivalen bekämen. Zu den Kandidaten dafür gehört auch Schalke 04. Die wollen offiziell in dieser Saison mit der Meisterschaft (noch) nichts zu tun haben und spielen derweil mit Huub Stevens erfolgreich „Zurück in die Zukunft“. Unter ihm als Trainer holten sie zwischen 1997 und 2002 immerhin zweimal den DFB-Pokal und einmal den Uefa-Cup, dessen sportlicher Wert deutlich höher einzuschätzen ist als sein jetziger Nachfolger Europa League. Und Stevens selbst gehört natürlich immer zu den Kandidaten für den Trainer-Oscar. Der aus seiner ersten Schalke-Ära stammende Ausspruch „Die Null muss stehen!“ wurde zum geflügelten Wort und erfreut sich als Zitat-Waffe in unterschiedlichen Zusammenhängen großer Beliebtheit. 

Unterdessen blieb Bayer Leverkusen sowohl in der Bundesliga als auch in der Champions League wieder einmal unter seinen Möglichkeiten und bekam zur Strafe den CF Barcelona als Achtelfinalgegner zugelost. Dass Leverkusen gegen Barça weiterkommt, ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Übernahme von „Wetten, dass …“ durch den früheren ZDF-Experten und Kerner-Komoderator Jürgen Klopp. 

In Köln dreht sich inner- und außerhalb des 1. FC alles darum, ob Lukas Podolski bleibt oder geht. Falls er keinen Wechsel in die nach einer Kölner Karnevalsikone benannte türkische Süper-Lig anstrebt, käme für ihn der Gang nach England infrage, bevorzugt zum FC Arsenal. Da Podolski bisher nicht als Sprachtalent aufgefallen ist, kann es bei eventuellen Verständigungsproblemen nicht schaden, wenn wie in London mit Arsène Wenger ein Trainer bereitsteht, der ausgezeichnet Deutsch spricht. Außerdem spielt der Kollege Per Mertesacker von der Nationalmannschaft bei den „Gunners“. 

Nebenbei ist es in England Brauch, ausländischen Spitzenspielern mehr oder weniger schmeichelhafte Spitznamen zu verpassen. So wurde der ehemalige FC-Profi Dirk Lehmann in seiner Zeit beim FC Fulham in den 90er-Jahren von den Fans nur „Dirk Diggler“ genannt – aufgrund seiner angeblichen Ähnlichkeit mit der gleichnamigen Figur eines Pornostars aus dem Oscar-nominierten Spielfilm Boogie Nights. Ein „Prinz Poldi“ in der Form der letzten Monate hingegen würde in England mindestens zum „King Louis“ oder „Lucky Luke“ geadelt. 

Trotz vieler kölscher Kapriolen während der Hinrunde (auf die in der Ballspiel-Kolumne bereits ausführlich eingegangen wurde) ist dem 1. FC kurz vor der Winterpause unverhofft der Titel des unterhaltsamsten Bundesligavereins an Hertha BSC verloren gegangen. Eine Trainerentlassungsposse von der Sorte, wie sie in Berlin Babbel, Preetz und Hertha-Präsident Gegenbauer veranstalteten, hat in Köln zuletzt Jean Löring sel. hingekriegt. Der entband in seiner damaligen Eigenschaft als Vereinspräsident und Alleinherrscher des SC Fortuna Köln einmal auf spektakuläre Weise Harald „Toni“ Schumacher von seinen Pflichten als Übungsleiter – in der Halbzeitpause eines Zweitligaspiels. 

Jetzt wäre vor lauter Liga-Eins-Westseligkeit doch beinahe unter den Tisch gefallen, dass eine Klasse tiefer auch Düsseldorfs Fortuna nach langen Jahren außerhalb des Wahrnehmungsbereichs wieder da ist und sich anschickt, in die erste Liga aufzusteigen. Man bleibt gespannt und erinnert sich an ein Stück aus den auch schon etwas länger zurück liegenden besten Zeiten der Toten Hosen, Modestadt Düsseldorf*: „Wir sind aus einem schönen Ort / Armut ist hier ein Fremdwort / Jeden Sommer, jedes Jahr / trifft sich Düsseldorf auf Ibiza / Wir sind nur aus Düsseldorf / wo kein Mensch irgendwelche Sorgen hat“. Angesichts dieser Zeilen wird plötzlich klar: Nur in einer solchen Stadt kann der nächste große Rivale für Bayern München heranwachsen. Das wäre in der Tat ein Duell auf Augenhöhe: Schickimicki contra Bussi-Bussi. 

*Empfehlung: Die Live-Version vom Benefizkonzert im Berliner SO 36 im September 2009 http://www.youtube.com/watch?v=gxwzHWrhkhs. Geht ab wie Zäpfchen. Auf der Bühne haben sie's offenbar immer noch drauf; das hätte ich ihnen nicht mehr zugetraut. 

(21.12.2011)


______________________________________________________________________________________


Ein Präsident geht mit Getöse

Drama, Baby, Drama! Unterhalb der Spektakelschwelle macht man es beim 1.FC Köln einfach nicht. 


Papandreou, Berlusconi, Overath – wer ist der Nächste in der Generation Rücktritt? Beckenbauer? Abgesehen davon, dass Multifunktionär Beckenbauer beim FC Bayern inzwischen nur noch Ehrenpräsident ist: Die Lizenz, auch mal den größten Unsinn erzählen zu dürfen, ohne dass dies irgendwelche Folgen nach sich ziehen würde, hat nun einmal nur der „Kaiser“ – nicht aber der ehemalige Karnevalsprinz von Siegburg. 

Noch bis einen Tag vor der Mitgliederversammlung (MV) des 1.FC Köln hatte Wolfgang Overath in mehreren Zeitungsinterviews kundgetan, dass 2013 Schluss sein solle mit seiner FC-Präsidentschaft. Dann verkündete er auf der MV völlig unvermittelt den sofortigen Rückzug. Das passt zur kölschen Neigung für den dramatischen Auftritt. Doch haftet der Art und Weise, in der Overath seinen Abgang inszenierte, etwas unübersehbar Beleidigtes und Primadonnenhaftes an. Mitverantwortlich für den Rücktritt sei die „destruktive“ Kritik eines Teils der Vereinsmitglieder, insbesondere der Oppositionsgruppe FC:Reloaded, deren Sprecher seine Haare zu einem Zopf gebunden trägt und den Overath laut Zeitungsberichten auf der MV als „Der Herr mit den Haaren da“ bezeichnet haben soll. 

Es sind nicht nur manchmal, sondern fast immer Kleinigkeiten, die den wahren Charakter verraten. Ungeachtet der sachlichen Differenzen zwischen FC:Reloaded und der inzwischen ehemaligen Vereinsführung hat es etwas unsäglich Spießiges, längst überwunden geglaubtes 50er-Jahre-mäßiges, jemanden aufgrund seiner langen Haare zu schmähen – und ihm damit indirekt Qualifikation und Satisfaktionsfähigkeit abzusprechen. Und das im ach so toleranten Köln, wo doch angeblich gilt: Jeder Jeck ist anders. 

Dieses kölsche Gebot schienen im Übrigen auch einige Mitglieder auf der MV vergessen zu haben. Es kam zeitweilig zu Tumulten und Handgreiflichkeiten. Wenigstens wurde niemand auf offener Bühne ausgeknockt, wie weiland in den Skandalzeiten von Eintracht Frankfurt, als ein am Rednerpult stehendes Vereinsmitglied einen Ordner, der ihn wegen Überschreitung der Redezeit mit einem „Geh’ runner!“ des Podiums verweisen wollte, kurzerhand zu Boden streckte. (Überflüssig zu erwähnen, dass dieser Vorfall inzwischen auch bei youtube verewigt ist.) Szenen wie diese steigern zwar für Außenstehende den Unterhaltungswert von üblicherweise eher drögen Veranstaltungen wie Mitgliederversammlungen, sind aber für den ausrichtenden Verein nur mega-peinlich. 

Bleibt in Sachen Präsidentschaft noch festzuhalten: Wie in der Vergangenheit schon die Beispiele von Bernd Hölzenbein in Frankfurt und insbesondere Uwe Seeler in Hamburg gezeigt haben, ist es kein Patentrezept, eine ehemalige Fußballgröße als Galionsfigur in ein Spitzen- bzw. Präsidentenamt zu hieven. Mit den erheblich gestiegenen Anforderungen des heutigen Fußballgeschäfts sind die meisten Spieler aus dieser Generation ganz einfach überfordert. Seeler sah es rechtzeitig ein und ging, bevor sein Status als HSV-Volksheld dauerhaften Schaden hätte nehmen können. 

Nichtsdestoweniger wäre es dem 1.FC Köln durchaus zuzutrauen, in der derzeitigen Verunsicherung einfach von einer „kölschen Ikone“ zur nächsten zu wechseln. Es hat da angeblich schon eine ihren Finger gehoben. Bloß nicht! Köln und der FC sollten damit aufhören, in einer Art rheinischen Variante des bayerischen „Mia san mia“ immer weiter im eigenen Saft zu schmoren. Hat man doch scheint’s mit Volker Finke und Ståle Solbakken gerade zur richtigen Zeit die richtigen Imis geholt – was zweifellos zu den Verdiensten des zurückgetretenen Vorstands um Wolfgang Overath gehört. 

Also bitte keine Rückfälle in alte Zeiten mehr. Und auch nicht bei Lothar Matthäus anfragen. Der wird sich ohnehin von selbst melden. 

(17.11.2011, erschienen bei www.choices.de/www.trailer-ruhr.de)


______________________________________________________________________________________


Die Fußballextremisten aus Köln, oder: Drink doch eene mit 

Der 1.FC Köln geht auch in dieser Saison wieder auf Achterbahnfahrt. Den leidgeprüften Fans hilft da nur Trinkfestigkeit, Sangesfreude und Galgenhumor. 


Es ist wirklich nicht so, dass wir hier bei der “Ballspiel”-Kolumne nur darauf warten, dass der 1.FC Köln mal wieder Anlass zum Spott liefert. Wenn er allerdings solche Vorlagen wie in den letzten Wochen gibt, bleibt nichts anderes übrig als zu vollstrecken. Ja, man sollte ihm regelrecht dankbar dafür sein, dass er es einem erspart, sonntagmittags den „Doppelpass“ auf Sport1 einschalten und auf mögliche neue peinliche Entgleisungen Marke Waldemar Hartmann (dem Manfred Breuckmann dafür in einem Artikel den verdienten verbalen Tritt verpasst hat) lauern zu müssen. 

Also aufs Neue zum FC: Nach nur zehn Spieltagen bereits vier Niederlagen mit drei und mehr Toren Unterschied, dazwischen immerhin ein 4:1-Auswärtssieg beim (Vize-)Meisterschaftsanwärter und Lokalrivalen Bayer Leverkusen. An den vergangenen vier Spieltagen lauteten die Ergebnisse der Reihe nach 2:0, 0:3, 2:0 und 0:5 – wenn es noch eine Südkurve im Stadion gäbe, müsste man sie in Sinuskurve umbenennen. 

Hat man seit Saisonbeginn aufmerksam die verschiedenen FC-Fanforen im Internet studiert, fällt auf, dass die schwankende Formkurve der Mannschaft offenbar nur unter Zuhilfenahme intensiver Kölsch-Einflößungen zu ertragen ist. Insbesondere nach der 1:5-Niederlage in Schalke, dem 4:3 in Hamburg (erster Saisonsieg) und dem 4:1-Triumph bei den „Pillen“, durch den Köln zum ersten Mal seit langer Zeit in der Tabelle wieder einmal vor Bayer Leverkusen lag, stieg die Zahl der Forumsbeiträge signifikant an, deren Verfasser/innen ankündigten, sich nun gleich erst einmal „die Kante zu geben“ beziehungsweise einen feuchtfröhlichen Zug durch die Gemeinde zu genehmigen. 

Unentschieden hingegen verträgt der Kölner überhaupt nicht, da kann er nicht trinken. Wenn die Fanforum-Analyse als Indikator taugt, muss das 1:1 gegen Kaiserslautern für die Kneipenwirte, Kioske und Tankstellen im Rheinland der bislang umsatzschwächste Spieltag gewesen sein.

Um aus dieser unbefriedigenden eine „Win-Win-Win“-Situation zu machen, bietet sich eine einfache Lösung an: Der 1.FC Köln schließt mit allen Kölsch-Brauereien einen leistungsbezogenen Sponsorenvertrag mit Umsatzbeteiligung ab, der Unentschieden ausschließt und die Mannschaft dazu verpflichtet, im Falle einer sich abzeichnenden Niederlage richtig schlecht zu spielen und entsprechend hoch zu verlieren. Denn dann fließt das (Frust-)Bier in Strömen, und alle haben etwas davon: Bei Brauern und Wirten steigen die Umsätze, beim FC die Sponsoreneinnahmen, und bei den Fans die Leberwerte. 

Dazu brauchen die Anhänger des 1. FC Köln dann auch ein weiteres Lied, das die wechselvolle Ergebnis- und Gemütslage bei diesem seltsamsten aller Bundesligavereine auf den Punkt bringt. „Wir sind nur ein Karnervalsverein“ ist schon ganz schön, reicht aber noch nicht aus, um dieses FC-typische, völlig übergangslose Schwanken zwischen oben und unten, Euphorie und Depression, Weltkl…, ähm, Bundesliganiveau und Kreisklasse zu beschreiben. Doch im reichhaltigen internationalen Liedgut findet sich auch für solche Fälle eine passende Vorlage: Billy Joels „I Go to Extremes“, dessen Refrainzeile „Darling, I don’t know why I go to extremes / Too high or too low there ain't no in-betweens“ passt wie Arsch auf Eimer. Denn auch in Köln weiß man über die Ursachen extremer Ausschläge nichts Genaues nicht. Der FC ist und bleibt einfach ein großes Mysterium. 

Joels Liedtext ließe sich ohne größere Schwierigkeiten übertragen und anpassen. Hier schon mal ein Vorschlag für erste Strophe und Refrain: 

Call me a joker, call me a fool
Nennt mich ’nen Tünnes, nennt mich ’nen Spack 
Right at this moment I'm totally cool
Heut’ schießen wir Tore, heut’ im Doppelpack 
Clear as a crystal, sharp as a knife
Ein Pass, eine Flanke, ein Schuss wie ein Strich 
I feel like I'm in the prime of my life
Der Torwart wird blass, den hält der niemals nich’! 
Sometimes it feels like I'm going too fast
Jubel und Trubel, Jebütz’ und Geschrei 
I don't know how long this feeling will last
Es dauert nicht lange, dann ist es vorbei 
Maybe it's only tonight
Drink doch noch schnell eene mit 

Refrain:
Darling I don't know why I go to extremes
O warum ge-he ich noch zum Eff Zeh?
Too high or too low there ain't no in-betweens
Da gibt’s nix zwi-schen o weh und olé 
And if I stand or I fall
Schmerz oder Lust, ganz egal 
It's all or nothing at all
Sie lassen dir keine Wahl 
Darling I don't know why I go to extremes
Und darum ge-he ich noch zum Eff Zeh

Probieren’ses mal. Ist auch nicht schwieriger als ein Karnevalslied. 

(25.10.2011, www.choices.de/www.trailer-ruhr.de)


______________________________________________________________________________________


Der Bock geht lieber gärtnern 

Die Krise beim 1.FC Köln fordert ihr erstes Opfer: Maskottchen Hennes VIII. wirft hin. Hier das Protokoll der dramatischen Ereignisse.


Sonntag, 14.8.2011, 10 Uhr: Geißbock Hennes VIII. tritt überraschend von seinem Amt als Maskottchen zurück. Reporter zitieren Hennes mit den Worten, er könne „die ganze Sch…“ nicht mehr mit ansehen. Seit Jahren gehe das nun schon so, und seine Zwischenrufe vom Spielfeldrand würden permanent ignoriert oder als „Blökerei“ verunglimpft. Außerdem sei das Gras im Stadion auch nicht mehr das, was es einmal war.

11 Uhr: Hennes VIII. präzisiert auf eine Rückfrage nach den Gründen für seinen Rücktritt, er habe tatsächlich das Gras auf der Wiese und nicht eine umgangssprachliche Bezeichnung für ein bekanntes Psychostimulantium gemeint. 

12 - 15 Uhr: Die facebook-Freunde von Geißbock Hennes sammeln Unterschriften, um ihn noch einmal umzustimmen. In einer Videobotschaft zeigt sich Hennes gerührt ob so viel Anteilnahme. Doch brauche er nun eine längere Auszeit im Ausland, etwa in den Rocky Mountains. Danach würde er sich über eine eventuelle Rückkehr in den Fußball Gedanken machen. 

16 - 20 Uhr: Nach dem Rücktritt des Geißbocks überlegt die Vereinsführung, als Ersatz und zwecks Beruhigung der Fans einen Trainer aus der traditionalistischen „Grasfresser“-Schule zu reanimieren, Pardon, engagieren. Doch es gibt eine Absage nach der anderen. Begründung in den meisten Fällen: Auf so etwas habe man „keinen Bock“. 

23:59 Uhr: In einer spiritistischen Sitzung nimmt der FC-Vorstand Kontakt zum letzten FC-Meistertrainer Hennes Weisweiler auf. Weisweiler verweist auf sein Standard-Lehrbuch Der Fußball. Taktik, Training, Mannschaft, das bei Amazon erhältlich sei. Aufatmen und große Erleichterung unter den Vorstandmitgliedern; das muss die Lösung sein. Als die Vorstände das Buch per Fax bestellen wollen (mit Internet und E-Mail kennt man sich nicht so aus), stellen sie fest, dass das Faxgerät in der FC-Geschäftsstelle noch immer defekt ist. 

(15.08.2011, www.choices.de und Trailer-Ruhr.de)


______________________________________________________________________________________


Die Aufregungsmaschine läuft wieder auf vollen Touren

Schon nach dem ersten Spieltag der neuen Fußball-Bundesligasaison hat das begleitende Grundrauschen ohrenbetäubende Lautstärke erreicht.


Köln schon fast abgestiegen! Dortmund fast schon wieder Meister! Mönchengladbach wieder Bayern-Rivale wie in den Siebzigern! Schalke und Leverkusen am Boden! Leverkusen am Ende gar nicht mal mehr Zweiter!? 

Wann geben die Wettbüros die Kandidaten für die erste Trainerentlassung der Saison bekannt? Kann man auch darauf wetten, wie viele Trainer insgesamt in dieser Saison entlassen werden? Welche Quoten gibt’s dafür? Welcher Verein ist der heißeste Kandidat dafür, zweimal den Trainer zu wechseln? Und welche Spieler muss man ansprechen, um Insiderinformationen über den Ausgang von Partien zu bekommen?

Wann und bei welchem Klub wird sich Lothar Matthäus erstmals in dieser Saison als „Drräner“ ins Gespräch bringen (lassen)? Und wird er dabei von sich selbst in der dritten Person sprechen? (Etwa so: „Ein Lothar Matthäus bewirbt sich nicht, er wird berufen!“) Wird Christoph Daum Teamchef der österreichischen Nationalmannschaft? Oder zieht es „Krüstüf“ doch wieder an den Bosporus? 

Wird Manuel Neuer den Bayern-Fans jemals etwas vorsingen dürfen? Hintergrund: Neuer ist als langjähriger Schalke-„Ultra“-Fan den Bayern-„Ultra“-Fans nicht vermittelbar. Letztere hatten bereits in der Vorbereitungszeit nach Gesprächen mit Bayern-Verantwortlichen einen Katalog mit Verhaltensmaßregeln für Neuer erarbeitet. Danach darf sich Neuer nicht als Vorsänger für die Bayern-Fans betätigen und keine Vereinslieder anstimmen – schon gar nicht per Megafon. Das ist kein Witz! 

Mit welchen Strafen Neuer bei Regelverstößen rechnen muss, wurde bisher nicht bekannt. Wahrscheinlich werden ihn die Bayern-Ultras kidnappen und in ein in den Farben Schwarz-Gelb gehaltenes Verlies sperren, das in einer 24-Stunden-Endlosschleife mit dem Borussia-Dortmund-Vereinslied beschallt wird, während Monitore an den Wänden den Borsigplatz, die BVB-Meisterfeiern und Jürgen Klopp im Dauergrinsemodus zeigen. Wenn Neuer das übersteht, ohne ein einziges Mal „Schalke!“ zu röcheln, sind die Bayern-Ultras eventuell bereit, ihn als einen der ihren zu akzeptieren. Doch Schalke-Fans mutmaßen bereits, dass Neuers folgenschwerer Patzer im Auftaktspiel gegen Mönchengladbach nur Teil eines langfristig angelegten schlauen Plans ist, an dessen Ende der Absturz der Bayern in Liga Zwei stehen soll. 

Sie sind wieder voll high, die Fußball-Junkies. Die Aufregungsmaschine Bundesliga hat bereits nach dem ersten Spieltag von Null auf Hundert beschleunigt. Zweieinhalb Monate Entzug nach den letzten Spielen der Saison 2010/2011 waren wohl zu viel. 

(10.08.2011, www.trailer-ruhr.de)


______________________________________________________________________________________


Eine WM zum (Ton) abschalten

Fußball mit O-Tönen ist bisweilen alles andere als ein Vergnügen. Fußballerinnen machen da keine Ausnahme. 

„Was, Frauenfußball-WM? Is’ doch schon wieder fast ’ne Woche her.“ Geben Sie’s ruhig zu, so oder ähnlich haben Sie auf die Überschrift dieses Beitrags reagiert. Sind ja schließlich höchst schnelllebige Zeiten. Und außerdem spielt schon wieder Schalke gegen den BVB. Wie lange kann da – speziell im Ruhrgebiet – das Interesse an Frauenfußball anhalten? Ist zwar nur Supercup und noch nicht wieder Bundesliga … oder müsste man jetzt schreiben „Männer“-Bundesliga? 

Die Wahrscheinlichkeit, dass künftig „Männer“ der „Bundesliga“ als notwendiger Zusatz zur Differenzierung vorangestellt werden muss, ist eher gering. Ein Boom des Frauenfußballs scheint nicht in Sicht, auch wenn sich in der kommenden Saison wohl ein paar mehr als jene knapp 1000 Zuschauer einfinden werden, die bisher im Schnitt zu den Spielen des amtierenden Meisters Turbine Potsdam gingen. Es spricht deutlich mehr für die Annahme, dass Frauenfußball auch künftig als punktuelles „Event“ wahrgenommen wird – ähnlich wie die Sportschütz/inn/en, die bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zuverlässig für Goldmedaillen sorgen. Nur dass die hiesigen Fußballfrauen dieses Mal im entscheidenden Moment nicht getroffen haben. 

Abgesehen davon war die WM eine Sport-Großveranstaltung wie jede andere. Die Spielerinnen gaben die gleichen langweiligen, nichtssagenden Floskeln wie ihre männlichen Berufskollegen von sich und schienen Klischees und Stereotype bestätigen zu wollen: Brasiliens Star Marta kam gleichermaßen als „Ballzauberin“ wie als unerträgliche Zicke rüber, während japanische Spielerinnen immer höflich waren, im Gespräch immer lächelten und sich artig bei allen bedankten (den Dank an sich selbst eingeschlossen). Immerhin hatte nach dem gewonnenen Halbfinale die zweifache Torschützin Nahomi Kawasumi eine Zusatzinformation parat: Nein, nervös gewesen seien sie gar nicht vor dem Spiel. Was durchaus glaubwürdig ist. Wer Tsunami, Atomkatastrophe und regelmäßig Erdbeben mitmacht, ist durch ein Stadion mit 45.000 Leuten und Gegner Schweden nicht zu beeindrucken. Auf der anderen Seite gab Abby Wambach nach dem Finaleinzug der US-Amerikanerinnen zu Protokoll: „Wir haben so hart gearbeitet.“ Und „fokussiert“ seien sie natürlich auch gewesen. Hat irgendein US-amerikanischer Sportler nach einem gewonnen Spiel/Kampf/Wettbewerb je etwas anderes geäußert? 

Hätte doch eine Spielerin stattdessen mal etwas gesagt wie: „Och nö, auf Training vor dem Spiel hatten wir keine Lust. Wir sind erst zum Friseur und dann shoppen gegangen. Hinterher waren wir noch auf einen Latte Macchiato im Café und haben drei Stunden telefoniert.“ Um dann nach einer kurzen Kunstpause anzufügen: „Nee, stimmt gar nicht – war nur’n Witz! Wir haben natürlich super hart gearbeitet und waren to-tal fokussiert!“ Oder es hätte eine japanische Spielerin erzählt: „Wir haben die Gelegenheit genutzt, uns bei den Deutschen mal umzuhören, wie man aus der Atomkraft aussteigen und auf Erneuerbare umstellen kann – im Ernst, kein Scheiß!“

Wenigstens bleibt das Spiel auf dem Rasen nach wie vor nur begrenzt vorhersehbar. Die Japanerinnen zogen nicht nur im Halbfinale gegen Schweden einen streckenweise atemberaubenden Kombinations- und Kurzpass-Kreisel auf, sie verfügten mit der kleinsten auch über die letztlich erfolgreichste Torhüterin des Turniers (was „Godzilla“-mäßige Spekulationen über den Ursprung der japanischen Superkräfte nährt). Und ja, es war tatsächlich ein packendes und streckenweise hochklassiges Finale. 

Gleichwohl bleibt Unbehagen über ein „Event“, das abseits des Spielfelds starr durchgeplanten Abläufen folgte und Sprechblasen produzierte. Warum dann nicht auch gleich eine Interviewschleife mit den Stars der Favoritenteams vorproduzieren und nach jedem Spiel ergebnisabhängig abfahren? Für den Siegfall erzählt Abby Wambach, dass sie unheimlich hart gearbeitet hatten und extrem fokussiert waren. Für den Fall einer Niederlage – was bei US-Amerikaner/inne/n eigentlich per se ausgeschlossen ist, fragen Sie dazu mal Chuck Norris (aber ganz vorsichtig!) – erzählt Hope Solo mit verkniffenem Gesicht, dass sie nur ein oder zwei, aber dafür entscheidende Fehler gemacht hätten und/oder im Elfmeterschießen an den eigenen Nerven (soll heißen: nicht am Gegner) gescheitert seien. Das kommt billiger, als die Reporter nach Spielschluss jedes Mal aufs Neue dieselbe Litanei abfragen zu lassen. 

So hat auch diese Frauenfußball-WM bestätigt: Fußball im Fernsehen funktioniert am besten, wenn man vor und nach dem Spiel den Ton abstellt – und manchmal auch währenddessen.

(22.07.2011, www.choices.de)


______________________________________________________________________________________


Manga statt Märchen

Die Wirklichkeit hat das Drehbuch des „Sommermärchens“ eingeholt. Japan spielte nicht mit. 

Es hätte alles so schön werden können. Die Einleitung für die abschließende Kolumne zur Frauen-WM war im Kopf längst geschrieben: „Gary Linekers berühmter Ausspruch gilt auch bei den Frauen: ‚Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen’“ – nach einem Sieg im Finale gegen Brasilien (gegen wen auch sonst?) und einem dramatischen Viertelfinale, in dem die Deutschen 0:1 gegen Japan zurückliegen, kurz vor Ende der Verlängerung der eingewechselten Birgit Prinz der Ausgleichstreffer gelingt und im anschließenden Elfmeterschießen Torfrau Angerer zwei Elfer der Japanerinnen hält. So hätten weitere Klassiker unter den Fußball-Binsenweisheiten ihre Bestätigung gefunden: „Die Deutschen gewinnen immer im Elfmeterschießen“ und „Deutschland ist eine Turniermannschaft“. 

Das kommt nun dabei heraus, wenn Begriffe wie „Sommermärchen“ oder Slogans wie „Ein Team – ein Traum“ bemüht werden: Der Rücksturz in die Wirklichkeit fällt umso unsanfter aus. Offensichtlich sind alle, die davon überzeugt waren, dass die deutschen Frauen mindestens das Finale erreichen würden, einer Art von Autosuggestion erlegen (wovon der Schreiber dieser Kolumne sich nicht freisprechen kann). So richtig schlau gemacht über den aktuellen Leistungsstand der DFB-Elf hatte man sich nicht, die vielen Titel der letzten Jahre und die Ergebnisse in der Vorbereitung schienen eine eindeutige Sprache zu sprechen. Über mögliche Weiterentwicklungen anderswo hatte man sich nur oberflächlich informiert und analog zum Männerfußball einen Showdown zwischen Deutschland und Brasilien erwartet. Gefühlte Recherche, sozusagen. Und wer ist schon Japan? Nun, im Frauenfußball eine ziemlich große Nummer, genauer gesagt Platz vier der Weltrangliste. Doch da spielte unbewusst eine gewisse Rest-Arroganz gegenüber dem asiatischen Fußball mit, der zwar mächtig aufgeholt, aber bisher keine großen Titel errungen hat. 

Nach dem Halbfinaleinzug der Französinnen und Schwedinnen finden nun die Olympischen Spiele in London 2012 ohne die DFB-Frauen statt. Angesichts des einer WM vergleichbaren Stellenwerts, den das olympische Frauenfußballturnier genießt, wiegt das Viertelfinale-Aus so doppelt schwer. Die nächste Chance zur Rehabilitierung wird es nicht vor 2013 geben, wenn die Europameisterschaft ansteht. Ansehen und Aufmerksamkeit, die der Frauenfußball hierzulande mühsam errungen hat, drohen ihm nun zumindest vorübergehend verlustig zu gehen. Da müssen die verhinderten Weltmeisterinnen jetzt durch. 

(11.07.2011, www.choices.de)


______________________________________________________________________________________


Gleichberechtigung geschafft

Die ersten Vorrunden-Spiele der Frauen-WM unterscheiden sich in nichts von der Herren-WM.

Wir nähern uns unaufhaltsam der Gleichberechtigung. Die bisherigen Gruppenspiele der Frauenfußball-WM boten ungefähr den gleichen Unterhaltungswert wie das übliche Vorrunden-Vorgeplänkel bei den Männerturnieren. Nervosität, Hektik und ein überschaubares spielerisches Niveau bestimmten das Bild. Darüber hinaus taten es die englischen Frauen ihren männlichen Kollegen in Sachen WM-Fehlstart nach – und Torfrau Karen Bardsley tat allen Kritikern (einschließlich des Verfassers, s.u.) den großen Gefallen, die Klischees über Torhüterinnen im Allgemeinen und englische Ballfänger/innen im Besonderen zu bestätigen, als sie einen erkennbar haltbaren Fernschuss der Mexikanerin Monica Ocampo passieren ließ. Die hübsche Nebenpointe der Geschichte: Bardsley hatte sich erst kürzlich in einem Gespräch mit dem britischen „Guardian“ wortreich darüber ausgelassen, dass all die Klischees über Torhüterinnen ja gar nicht stimmten. Tja, das nennt man wohl Künstlerpech oder Vorführeffekt. 

Aber immerhin gab es auch schon ein Tor zum Zungeschnalzen, den ebenso gefühlvoll wie schulmäßig in den Winkel gezirkelten Freistoßtreffer der Kanadierin Christine Sinclair zum 1:2-Endstand gegen Deutschland. Torfrau Nadine Angerer, die bei der letzten WM 2007 kein einziges Tor kassiert hatte, dürfte mächtig geflucht haben – aber an diesen Ball wäre auch keiner ihrer männlichen Kollegen mehr herangekommen. (Es sei denn, du bist Titan, dann hältst du so einen natürlich.)

Dann gab es schließlich auch das erste richtige Kampf- und Krampfspiel in der Begegnung zwischen Deutschland und Nigeria, einer verbissen geführten Partie mit Haken und Ösen und was die Fußballstandardphrasen sonst noch so hergeben. Und einem Fernsehkommentator, der sich ob der vielen harten Attacken und Fouls der Nigerianerinnen und der schwachen Leistung der Schiedsrichterin gar nicht mehr einkriegen mochte. Und einer Bundestrainerin, die sichtlich angefressen und ziemlich schmallippig nach Spielende die Reporterfragen beantwortete. Das kennt man alles: Willkommen im Club. (Da ist es fast zu bedauern, dass „Waldis WM-Club“ in der ARD heuer nicht stattfindet. Man stelle sich vor, Silvia Neid wäre zu Gast bei Waldemar Hartmann gewesen und hätte einen Auftritt wie weiland Rudi Völler in Island hingelegt. Großes Kino.)

Wenn es stimmt, dass der Frauenfußball in Sachen Professionalisierung eine nachholende Entwicklung durchläuft, sind wir demnach zurzeit in der Phase Rumpel- und Ergebnisfußball angelangt. Nicht unbedingt schön, aber am Schluss auf jeden Fall spannend. 

(01.07.2011, www.choices.de)


______________________________________________________________________________________


Königin Fußball

Ab Sonntag 26. Juni regiert drei Wochen lang der Frauenfußball das Land und die Welt. Männer dürfen aber auch zugucken. 

Früher war alles einfach. Mädchen waren doof, weil sie keinen Fußball spielten. Wenn heute ein Junge in der Schule so etwas von sich gibt, riskiert er den Gang zum Schulpsychologen – wegen Verdachts auf Realitätsverlust. Mädchen spielen längst Fußball, spätestens mit dem international erfolgreichen Film Kick It Like Beckham (2002) wurde der Tritt gegen das Leder auch im Kontext von weiblicher Selbstbestimmung und Emanzipation interessant. Frauenfußball hat im Laufe der Zeit zunehmend Fans unter beiden Geschlechtern gefunden, und sein alle vier Jahre stattfindender Branchengipfel ist als „Event“ und Imagefaktor sogar für den strukturkonservativen Deutschen Fußball-Bund so interessant geworden, dass er ihn in diesem Jahr erstmals ausrichtet.

Gleichwohl ist und bleibt es ein eigener Sport; Vergleiche mit dem Männerfußball helfen nicht weiter. Dass aufgrund der Unterschiede in der Physis Männer athletischer, schneller, und dynamischer spielen, wird wohl so bleiben. Oder möchte jemand lieber hochgezüchtete weibliche Renn- und Kampfmaschinen auf’m Platz sehen? Und es dürfte sich auch nichts daran ändern, dass beim Frauenfußball gelegentlich Tore fallen, die bei den Herren so nicht passieren würden – es sei denn, englische Nationaltorhüter haben ihre Hände im Spiel.

Nichtsdestotrotz wird niemand einer Birgit Prinz den professionellen Killerinstinkt absprechen, wenn sie ihrer Arbeit als Toreerzielerin nachgeht. Ebenso wenig wird irgendjemand bezweifeln wollen, dass Marta Vieira da Silva, genannt Marta, eine brillante Technikerin mit exzellentem Ballgefühl ist. Und auch wer ausschließlich mit Männerfußball sozialisiert wurde und legendäre Tore von Müller, Fischer, Völler, Klinsmann & Co. im Kopfkino parat hat, wird sich zumindest an Nia Künzers Kopfballtreffer zum 2:1-Sieg gegen Schweden in der Verlängerung des WM-Endspiels 2003 erinnern, der den ersten Weltmeistertitel für die deutsche Frauenfußballnationalelf bedeutete. 

Für den Erinnerungswert ist sicher nicht von Nachteil, dass es sich bei Nia Künzer um eine gut aussehende Sportlerin handelt. Je attraktiver die Spielerinnen, desto geneigter der Blick der männlichen Fußballfans auf das Spielfeld. Wer jetzt reflexartig den Sexismus-Zeigefinger erhebt, kann ihn gleich wieder runter nehmen. Dieser Vorwurf läuft ins Leere. Immerhin sind die Fußballerinnen auf dem Feld angezogen, im Gegensatz zu jenen Juniorinnen-Nationalspielerinnen, die kürzlich WM-werbewirksam für den „Playboy“ posierten. Ganz abgesehen davon, dass weibliche Fußballfans männliche Spieler ebenfalls nicht ausschließlich nach fußballerischen Kriterien beurteilen. Und wer einmal das Vergnügen hatte, im Stadion in der Nähe eines Trupps gut gelaunter Schlachtenbummlerinnen zu stehen, der weiß, dass auch Frauen beim Fußball gelegentlich eine klare Sprache an den Tag legen und ihnen kräftige Schmähungen gegnerischer Mannschaften nicht fremd sind. Die Bezeichnung „Schlappschwänze“ zählt da eher noch zu den harmloseren Invektiven. 

Wie auch immer: Ab Sonntag 26. Juni werden Männlein und Weiblein einträchtig ihre jeweiligen Teams (hätte beinahe „Mannschaften“ geschrieben) anfeuern. Rund 80 Prozent der Tickets sind verkauft, da sollte in Sachen Stimmung nichts schiefgehen. Die Erwartungshaltung an die Gastgeberinnen ist im eigenen Land hoch, weniger als der dritte WM-Titel in Folge würde Enttäuschung hervorrufen. Den DFB-Frauen ist zuzutrauen, dass sie diesem Druck standhalten können – auch ohne psychologische Unterstützung durch den Fußballdruckexperten par excellence Oliver Kahn. 

(24.06.2011, www.choices.de)


______________________________________________________________________________________


Dirk Superstar 

Eine weitgehend ironiefreie Eloge auf den besten deutschen Basketballspieler aller Zeiten – und ein Glückwunsch zu seinem 33. Geburtstag.

Kaum hatte Dirk Nowitzki als erster deutscher Spieler und Kapitän seines Vereins Dallas Mavericks die nordamerikanische Basketballmeisterschaft gewonnen, waren in manchen Zeitungskommentaren schon Klagen darüber zu lesen, wie schwer sich die Deutschen doch damit täten, ihre Sportstars zu lieben und zu feiern. Als Beispiele dafür herhalten mussten Lothar Matthäus und Boris Becker. Ausgerechnet. Die zwei haben auf ihre je eigene Art und Weise einiges dafür getan, ihren Landsleuten die ungetrübte Verehrung für ihre in der Tat herausragenden sportlichen Leistungen so schwer wie möglich zu machen. 

Ein Fehler einte beide: Sie wollten „bigger than life“ sein und den souveränen, coolen Mann von Welt geben. Wo Becker dabei im Laufe der Jahre immerhin eine gewisse Selbstironie zuwuchs, ging die Sache bei Matthäus bis heute ziemlich daneben. Zahlreiche Affären/Ehen mit immer jüngeren Frauen auf der einen Seite, einige peinliche Entgleisungen und Interviewäußerungen in astreinem Lübke-Englisch auf der anderen Seite: „We play football with our balls“, das klingt wie eine ebenso freie wie unfreiwillig komische Übersetzung von Oliver Kahns „Eier! Wir brauchen Eier!“.

Aber wie in aller Welt kommt man darauf, Nowitzki mit Becker und Matthäus zu vergleichen? Er hat bisher keinen Anlass dazu gegeben. Zwar benutzt er bei Interviews im US-Fernsehen – in unfallfreiem Englisch – die üblichen Standardformeln für Leistungsbereitschaft: „haben hart gearbeitet für den Erfolg“, Bescheidenheit: „sind ein Team / gewinnen als Team“ und Siegeswillen: „wollen das momentum nutzen“. (Ohne „momentum“ geht in der US-amerikanischen Sportsprache gar nix.) Die Interviews, die er nach WM- und EM-Spielen mit der deutschen Basketballnationalmannschaft hiesigen Reportern gab, zeigten jedoch immer einen ungekünstelten und umgänglichen Sportler ohne irgendwelche Allüren. Kaum anzunehmen, dass sich daran durch den NBA-Titel irgendetwas geändert hat. 

Was sich mit ziemlicher Sicherheit ändern wird, ist der Grad an medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit, wenn Nowitzki im August nach Deutschland kommt, um mit der Nationalmannschaft die EM-Vorbereitung zu absolvieren und anschließend die EM in Litauen zu spielen. Dann ist er auch einen seiner größten Vorteile los: nie da zu sein. Die Bewunderung für ihn fiel ja nicht zuletzt deswegen so leicht, weil er weit weg seinem Job nachging und vor allem durch seine grandiosen, im Internet zu bestaunenden Leistungen auf dem Basketballfeld von sich reden machte. Aber immerhin fiel Dirk Nowitzki auch einmal auf eine Heiratsschwindlerin herein, sonst käme er wie ein etwas unheimlich wirkender Mr. Perfect daher. Ha! Da haben wir nun doch wenigstens e i n e Parallele zu Boris und Loddar, die mit ihren Begleiterinnen auch nicht immer Glück hatten.

Es bleibt Nowitzkis großes Verdienst, die Dynamik und Ästhetik dieses tollen Ballspiels wieder nachdrücklich ins Gedächtnis gerufen zu haben. Spektakuläre Dreier, Hakenwürfe, „Rückhand“-Treffer mit dem Rücken zum Korb, in der Finalserie gegen Miami auch noch Körbe mit der verletzten linken Hand – über mangelnden Unterhaltungswert kann man sich wahrlich nicht beklagen. (Da wird man ein wenig sentimental und denkt an die 80er Jahre zurück, an einen Verein namens BSC Saturn und seine packenden Bundesliga-Duelle mit Göttingen, Bayreuth und Leverkusen und die Europacupspiele, unter anderem gegen solche damaligen Schwergewichte wie Olimpia Mailand.) 

Dirk Nowitzki ist ebenso zu wünschen wie zuzutrauen, dass er nicht in die bigger-than-life-Starfalle tappt. Er gehört zu jener Sorte Stars, die ein überragendes Talent für den Umgang mit ihrem jeweiligen Spielgerät besitzen und sich ansonsten nicht so furchtbar wichtig nehmen. Möge es so bleiben. 

Und für alle, die etwas in ihn hineinprojizieren wollen, an die Magie der Zahlen und Daten glauben und daran, dass es keine Zufälle gibt, bitte sehr: Dirk Nowitzki wurde am 19. Juni 1978 geboren, auf den Tag genau 42 Jahre, nachdem Max Schmeling in New York Joe Louis durch K.o. besiegte. 42, das ist bekanntlich seit Douglas Adams’ „Per Anhalter durch die Galaxis“ die Zahl, welche die Antwort gibt auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Also, da habt ihr euren Super-Duper-Helden. Doch jetzt wird erst mal gratuliert, zur NBA-Meisterschaft und zum Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch, Dirk Nowitzki!

(19.06.2011, http://www.choices.de/congratulations-dirk-superstar)


______________________________________________________________________________________


Die Entlassung einer Führungskraft

Michael Ballacks Ausmusterung aus der Nationalmannschaft hinterlässt Fragen und einen schlechten Beigeschmack. 

Joachim Löw hat entschieden: Michael Ballack wird nicht mehr in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft spielen. So weit, so erwartbar. Ballack hatte zuletzt angesichts seiner vielen Verletzungen und wenigen Spiele weder gute Argumente noch gute Karten in der Öffentlichkeit – während die Nationalmannschaft ohne ihn eine (zumindest in drei Partien) berauschende WM gespielt hatte und auf dem Weg zur EM-Qualifikation bisher nichts anbrennen ließ. 

Was die Mannschaft auf’m Platz bei der WM öfters bot, fehlt dem DFB im Umgang mit Ballack: Stil und Klasse. Die scheibchenweise Ausbootung des langjährigen Kapitäns samt Bekanntgabe der endgültigen Entscheidung in der Sommerpause erinnert an die Machtpolitik des legendären Aussitzers und Salamitaktikers Helmut Kohl. In den Kommentaren der Sportredaktionen wird zudem darüber spekuliert, dass der DFB Ballack die Pistole auf die Brust gesetzt und ihm einen „ehrenvollen“ Abschied mit einem 99. und letzten Länderspiel gegen Brasilien im August angeboten haben soll. Da Ballack sich dazu innerhalb einer ihm gesetzten Frist nicht geäußert habe, sei der DFB ohne weitere Absprache mit seiner Pressemitteilung am 16. Juni in die Offensive gegangen. Mit anderen Worten: Löw und die übrigen DFB-Verantwortlichen sind herzlich froh darüber, einen Problemfall endlich entsorgt zu haben.

Wenn aber das Leistungsprinzip der oberste Maßstab ist, nach dem Spieler eingeladen oder aussortiert werden, hätte Ballack für die kommende EM-Saison zumindest eine faire weitere Chance verdient gehabt. Keiner seiner Stellvertreter/Nachfolger auf der Position im defensiven Mittelfeld hat in der abgelaufenen Saison einen überzeugenden Eindruck gemacht, weder Schweinsteiger noch Khedira noch Träsch noch zuletzt Kroos oder gar Ballacks Leverkusener Vereinskollege Rolfes, der fast genauso viel mit Verletzungsproblemen zu kämpfen hatte. Ganz abgesehen davon, dass das Leistungsprinzip in der Nationalelf für andere „verdiente Stammkräfte“ wie Miroslav Klose und Lukas Podolski, die im Verein schwächelten oder kaum noch zum Einsatz kamen, regelmäßig außer Kraft gesetzt wird. Wogegen nichts einzuwenden ist, solange die beiden dann in der Nationalelf ihre Leistung bringen. Und das Alter eines Spielers darf für Berücksichtigung beziehungsweise Nicht-Berücksichtigung ohnehin keine Rolle spielen; immerhin ist Klose auch bereits 33. Wieso sollte also ein demnächst 35-jähriger Ballack in Bestform und ohne Verletzungen keine Alternative sein, wo ihm doch allenthalben in den Nachrufen auf seine Nationalmannschaftskarriere die Zugehörigkeit zur Weltklasse attestiert wird? 

Die Gründe dürften weniger in Ballacks (potenzieller) Leistungsfähigkeit liegen als in seiner Person. Die Zweckgemeinschaft Trainer und Kapitän funktionierte leidlich, mehr nicht. Bekanntlich gab es mehrere Machtproben und Scharmützel zwischen ihm und Löw, und Ballacks Bruder im Geiste Thorsten Frings wurde schon vor zwei Jahren aus der Nationalelf entfernt. Da sind die jüngeren Spieler pflegeleichter – man könnte auch sagen: langweiliger, konturloser. Ballack hingegen gilt als jemand, der den Mund aufmacht, wenn ihm etwas nicht passt – was man von einem erfahrenen, älteren Spieler mit Kapitänswürde wohl auch erwarten kann. Offensichtlich passt er damit in die neue, jüngste DFB-Mannschaft aller Zeiten nicht mehr hinein. Es ist daher nur konsequent, dass Ballack auf die Trostrunde gegen Brasilien verzichtet. 

Einen Nutznießer könnte sein Nationalmannschafts-Aus indes haben: Bayer Leverkusen. Dass Ballack seine Laufbahn nicht auf solch unwürdige Weise beenden will, darf man wohl annehmen. Daran mitzuwirken, aus dem traumatisierten ewigen Zweiten Vizekusen vielleicht doch noch ein Gewinner-Team zu machen, sollte Ansporn genug für die Karriere-Zielgerade sein. Zehn Jahre nach dem so unglücklich verlorenen Finale gegen Real Madrid die Champions League mit Bayer Leverkusen zu gewinnen ist allemal eine größere Herausforderung als mit der deutschen Nationalmannschaft Europameister zu werden. 

(18.06.2011, http://www.trailer-ruhr.de/die-entlassung-einer-fuehrungskraft)


______________________________________________________________________________________


Wir haben fertig

Das Fazit der Bundesliga-Saison 2010/2011 aus NRW-Sicht: Alles bestens, woll?

Borussia Dortmund: Schafften es, sämtliche möglichen Rekorde (beste Halbserie, meiste Auswärtssiege, wenigste Gegentore, meiste Punkte) zu verpassen. War wahrscheinlich Absicht, um nur ja nicht mit den hyperehrgeizigen Bayern in einen Topf geworfen werden zu können. Brachten es darüber hinaus fertig, alle ihnen in dieser Bundesligaspielzeit zugesprochenen Elfmeter zu verschießen. Daher völlig angemessen das Saisonfazit, welches Jürgen Klopp (mit Sonnenbrille) WDR-Mann Arnd Zeigler ins Mikrofon sprach: „Ich bin nicht komplett unzufrieden.“

Bayer Leverkusen: Schafften es tatsächlich mal, eine entscheidende Partie am letzten Spieltag nicht zu vergeigen. Allerdings ging es um Platz zwei, und damit kennt Leverkusen sich aus. Sollten vielleicht erwägen, unter Leitung des derzeit stellungslosen Motivationsexperten Christoph Daum gruppendynamische Sitzungen mit dem anderen ewigen Zweiten des deutschen Ballsports, der SG Flensburg-Handewitt, abzuhalten. Die waren immerhin schon ein Mal (Handball-)Meister. 

1. FC Köln: Schaffte es, die Saison zu überstehen, o h n e dass laut nach dem „Retter“ Christoph D. geschrien wurde. (Das deutet – mit aller Vorsicht – auf den Beginn eines Lernprozesses hin.) Verpflichtete stattdessen für die neue Saison mit Ståle Solbakken einen Mann, der als Spieler nach einem Herzstillstand schon einmal klinisch tot war, als Trainer zuletzt große Erfolge mit dem FC Kopenhagen hatte (Champions-League-Achtelfinale) und sein ursprünglich vorgesehenes Engagement bei der norwegischen Nationalmannschaft mit den Worten kommentierte: „Ich war bereits einmal tot, und ich möchte gerne noch etwas Neues ausprobieren, bevor ich erneut sterbe.“ Das lässt sich gut an. Schwarzer Humor ist nicht die schlechteste Voraussetzung, um in Köln arbeiten zu können.

Um Christoph Daum muss man sich indes keine Sorgen machen. Es stehen mit Sicherheit schon genügend Unternehmen bereit, die ihn als Referenten für Personalentwicklungs- und Motivationsseminare verpflichten wollen. Doch Obacht: Bei Führungskräften, die mit einem Naturell wie Ex-(Noch-)IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn ausgestattet sind, könnten Daum-Motivationssätze wie „Wenn der Kopf richtig funktioniert, dann ist er das dritte Bein, dann macht er den kleinen Unterschied aus“ folgenschwere Missverständnisse auslösen. 

Schalke 04: Landete nach zwischenzeitlichem Champions-League-Hoch im Halbfinale gegen Manchester United unsanft auf dem Boden der Realitäten und in der Bundesliga in der Nähe der Abstiegsplätze. Wenn das Pokalfinale gegen Duisburg auch noch verloren geht, ist die Saison endgültig verkorkst. Dann müsste gemäß der Logik des bisherigen Saisonverlaufs sofort ein neuer Trainer her. Wir wüssten da schon einen, der derzeit stellungslos ist.

Borussia Mönchengladbach / VfL Bochum: Die beiden Traditionsvereine hätten sich wohl gewünscht, den letzten freien Platz in Liga eins nicht gegeneinander ausspielen zu müssen. Den Fans aus der Nicht-mehr-so-ganz-Autostadt Bochum wäre der verhasste VfL „Golfsburg“ als Gegner lieber gewesen, und der fünfmalige Deutsche Meister aus Mönchengladbach hätte es vorgezogen, gegen den Nicht-so-richtig-Traditionsverein Greuther Fürth anzutreten. (Wobei „Traditionsverein“ keinen Wert an sich darstellt. Aber das ist ein Thema für einen eigenen Beitrag.) Wie dem auch sei, der Verlierer des Relegationsduells kann als erste Konsequenz für die nächste Saison ja schon einmal einen neuen Trainer verpflichten … 

(17.05.2011, http://www.choices.de/wir-haben-fertig)


______________________________________________________________________________________


Die Unabsteigbaren mal wieder

Der VfL Bochum wurschtelt sich seit Wochen durch die zweite Liga. Doch wenn er am Sonntag sein letztes Heimspiel gewinnt, wäre die Relegation erreicht und damit die Möglichkeit zum direkten Wiederaufstieg gegeben. Für das Ruhrgebiet würde sich eine flächendeckend glorreiche Fußballsaison 2010/2011 abrunden.


Die Kommentare im VfL-Fanforum vfl4u.de zur letzten Partie gegen den VfL Osnabrück lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Mal ehrlich Herr Funkel: Gegen wen wollen wir denn so in der Relegation gewinnen?“, heißt es da, oder: „Das Spiel von uns so schlecht wie die Bild-Regie von Sky. Wenn das der Fußball sein soll, welcher die Stadt oder die Fans begeistern soll ... dann Gute Nacht!“ Ein dritter Fan teilt die Spielanalyse seiner Forumskollegen („Grottiger Kick, Bochum enttäuscht auf ganzer Linie“), verweist jedoch gleichzeitig mit routinierter Fußball-Dialektik auf den potenziellen Nutzen des Rumpelfußballs: „Aber: Wer solche Spiele so gewinnt, der kann auch aufsteigen.“

Wohl wahr. Bochum wurschtelt sich seit Wochen durch die zweite Liga und kann doch seinen Teil dazu beitragen, dass die Fußballsaison 2010/2011 für das Ruhrgebiet eine flächendeckend glorreiche wird. Am kommenden Sonntag geht’s im Heimspiel gegen Duisburg um Platz drei und damit die Relegationsspiele zum direkten Wiederaufstieg in Liga eins.

Sechs Abstiege sind seit 1993 für den VfL Bochum zu verzeichnen. Wenn es Arminia Bielefeld nicht gäbe, wäre die einst „unabsteigbare“ Fahrstuhlmannschaft damit Rekordabsteiger. (Andererseits halten sich ja unter Verschwörungstheoretikern hartnäckig Zweifel an der Existenz von „Bielefeld“ ... aber das ist eine andere Geschichte.) Sei’s drum, wie wir den VfL kennen, schafft er locker noch einen weiteren Ab- und Aufstieg. Denn zumindest in der Kategorie „direkter Wiederaufstieg“ ist das Stehaufmännchen aus dem Pott mit fünf erfolgreichen Versuchen unangefochtener Spitzenreiter unter den Profiklubs. 

Die Statistik ist demnach eindeutig auf Seiten des VfL. Und da am Sonntag mit dem MSV Duisburg ein Gegner zu Gast sein wird, der im Gedanken mehr mit dem am folgenden Samstag stattfindenden DFB-Pokalfinale gegen den Großklub aus Gelsenkirchen beschäftigt sein dürfte, sollte nichts mehr schief gehen mit Platz drei. 

Den Ausgang der Relegation überspringen wir großzügig und stellen uns vor, welch ergötzliches Schauspiel uns die Wiederkehr der Fahrstuhlmannschaft bescheren würde: Der ewige Underdog Bochum, eingeklemmt zwischen den Riesen Dortmund und Gelsenkirchen, versucht der Minderwertigkeitsfalle zu entrinnen. Großes Kino – und in Bochum träumen sie alle davon, noch einmal so einen Coup zu landen wie in der (Erstliga-)Saison 2003/2004, die man mit Platz fünf abschloss und damit sowohl Schalke als auch den BVB hinter sich ließ. 

Die Alternative lautet: Greuther Fürth. Gewinnen die Playmobilisten am Sonntag gegen Düsseldorf und gewinnt Bochum gegen Duisburg nicht, gibt es nächste Saison in Liga eins ein Frankenderby zwischen Nürnberg und Fürth im Playmobil-Stadion. Nichts gegen einen guten Frankenwein, doch man muss wirklich kein Ruhr-Lokalpatriot sein, um Bochum-Schalke und Bochum-Dortmund für wünschenswerter zu halten. 

Und sollte Harald Schmidt bei seinem neuen/alten Sender SAT.1 noch einmal zu alter Form auflaufen, kann er ja mit Playmobilfiguren nachspielen, wie Greuther Fürth „schon mehrmals kurz vor dem Sprung in die Bundesliga stand“. So nämlich steht’s im Wikipedia-Eintrag zu „Greuther Fürth“. Und weiter heißt es da: „Zurzeit ist die SpVgg Greuther Fürth durch die ununterbrochene Zugehörigkeit zur 2. Bundesliga seit 1997 der ‚dienstälteste’ Zweitligist.“ Das darf er auch gerne bleiben. 

(12.05.2011, www.trailer-ruhr.de/die-rueckkehr-der-fahrstuhlmannschaft)


______________________________________________________________________________________


Jupp Heynckes braucht einen Motivationsschub

Nicht mal mehr für „Vizekusen“ scheint es zu reichen. Nach dem Unentschieden gegen Hamburg steht Bayer Leverkusen unter Zugzwang. Mindestens ein Punkt muss im letzten Saisonspiel beim SC Freiburg her, um Platz zwei und die direkte Qualifikation für die Champions League zu schaffen. Ein Trainertausch der speziellen Art könnte für zusätzliche Motivation sorgen. 


„Ich bin froh, dass Dortmund Meister geworden ist.“ So sprach Jupp Heynckes am Samstag vor einer Woche, nachdem die Meisterschaft für den BVB feststand. Ein bisschen zu viel an Glückwünschen für einen direkten Konkurrenten, fanden manche in Leverkusen. Nach dem Heimspiel gegen Hamburg am letzten Wochenende herrschte endgültig dicke Luft. Nur Unentschieden, Platz zwei und damit die direkte Qualifikation für die Champions League (CL) immer noch nicht gesichert. Außerdem saß Ballack zunächst wieder auf der Bank, und es dauerte nicht lange, bis „Michael Ballack“- und „Heynckes raus!“-Rufe von den Bayer-Fans zu vernehmen waren – auf die Heynckes seinerseits nach Spielschluss mit Fan-Schelte reagierte.

Bekommt das in dieser Saison ohnehin im roten Bereich rotierende Trainerkarussell jetzt noch eine weitere Drehung? Die Ausgangslage vor dem letzten Spieltag hätte man schöner nicht erfinden können. Leverkusen tritt in Freiburg an – bei seinem zukünftigen Trainer Robin Dutt. Der jetzige trainiert in der nächsten Saison Bayern München – die drei Punkte hinter Leverkusen liegen und auch gerne auf direktem Weg an die CL-Fleischtöpfe gelangen würden. 

Mit anderen Worten: Der Trainer von Leverkusen muss insgeheim hoffen, dass seine Noch-Mannschaft verliert, damit er nächstes Jahr mit seinem neuen Verein Bayern sicher CL spielt. Der Trainer von Freiburg muss aber auch insgeheim hoffen, dass seine Noch-Mannschaft verliert, damit er nächstes Jahr mit seinem neuen Verein Leverkusen sicher CL spielt. Also sozusagen eine “lose-lose-situation“. Oder um es mit Kierkegaardscher Alternativlosigkeit auszudrücken: Gewinne, du wirst es bereuen; gewinne nicht, du wirst es auch bereuen. Was für eine prächtige Vorlage für ein absurdes Theaterstück Stück absurden Theaters. 

Eigentlich wäre es nur konsequent, in dieser Situation die Trainer zu tauschen. Wer würde ernsthaft den Standardphrasen Glauben schenken, man gebe bis Vertragsende „100 Prozent für den Verein“ und konzentriere sich „nur auf das nächste Spiel“? Geht die Sache am nächsten Samstag nach überschaubaren Offensivbemühungen der Freiburger mit einem schiedlich-friedlichen Unentschieden aus, wird nachher von einem „Nichtangriffspakt“ geredet und an die „Schande von Gijon“ erinnert. Verliert Bayer, womöglich sogar noch durch ein Eigentor, werden sie in Leverkusen endgültig am Schicksal verzweifeln. Denn das hatten wir ja auch alles schon mal: In der Saison 1999/2000 hätte Bayer am letzten Spieltag ein Punkt in Unterhaching gereicht, um Meister zu werden. Doch dann unterlief Ballack ein Eigentor, und am Ende verlor Leverkusen 0:2 ... unterliefe diesmal Vidal ein Eigentor, und spielte der in der kommenden Saison entgegen aller anderslautenden Meldungen doch in München, hätten wir unter Garantie eine Verschwörungstheorie mehr.

Es gäbe jedoch eine einfache Möglichkeit, allem Geargwöhne und Geraune von vornherein die Grundlage zu entziehen: Statt Dutt und Heynckes tauschen einfach Dutt und Daum für ein Spiel die Trainerposten. Dann hieße die Ansetzung Heynckes vs. Daum. Und gegen den wird Heynckes auf keinen Fall verlieren wollen. 

(11.05.2011, www.choices.de/heynckes-raus)


______________________________________________________________________________________


1.FC Köln: Konzeptfußball statt Fußballgott? 

Egal wie die Saison 2010/2011 ausgeht: Fest steht, dass Köln erheblich zu ihrem – vor allem außerfußballerischen – Unterhaltungswert beigetragen hat. 


Die Frage „Wie hältst du’s mit der Religion?“ sollte im Fußball eigentlich nichts verloren haben. Nicht so beim 1.FC Köln. Der schien von allen guten Geistern und dem Fußballgott gleichzeitig verlassen zu sein, als der bei den Fans beliebte Cheftrainer Frank Schaefer demissionierte. „Teile des Geschäfts“ widerten ihn an, hatte der Trainer schon vor Wochen in einem Zeitungsinterview offenbart. Dieses Angewidertsein habe nicht zuletzt damit zu tun, so wurde kurze Zeit später gestreut, dass der Mann bibelfest lebe und einer evangelischen Freikirche angehöre. 

Nun pflegen Freikirchler Glaubensdinge im Allgemeinen etwas ernster zu nehmen als beispielsweise die Anhänger des rheinisch-karnevalistischen Katholizismus. Freikirche ist nicht gleichbedeutend mit Freukirche. Ausgerechnet im hillije Kölle, wo der Protestant als solcher ohnehin suspekt ist und eigentlich ein noch schlimmeres Übel darstellt als Agnostiker, Atheisten oder Alternative. 

Vom angeblich alternativen SC Freiburg stammt auch FC-Sportdirektor und neuerdings Interimstrainer Volker Finke. Der gilt hierzulande als Erfinder des Konzeptfußballs, ist ein eher sperriger, rationaler Typ und von Hause aus Studienrat für Sport, Sozialkunde und Mathematik. Noch jemand also, der auf den ersten Blick nicht zum Gemüt eines rheinischen Traditionsvereins im katholisch geprägten Köln zu passen scheint. Andererseits war ja auch schon einmal der frühere Bundesliga-Politlinksaußen Ewald Lienen FC-Trainer. Im Zweifel hielt man es also in Fußball-Köln bisher mit der religiösen und weltanschaulichen Toleranz, deren erstes Gebot lautet: Jeder Jeck ist anders. 

Wie der Aberglaube gehören seit je auch religiöse Bezüge zum Fußball und seiner Bildsprache. Herbert Zimmermann lieferte in seiner berühmten WM-Reportage von 1954 ein stilbildendes Beispiel dafür, als er Torhüter Toni Turek sowohl „Fußballgott“ als auch – nachdem Turek erneut einen Unhaltbaren gehalten hatte – „Teufelskerl“ nannte. Yin & Yang, Jekyll & Hyde, Matthäus & Loddar: Es sind immer zwei Seiten derselben Medaille. Gottes Werk und Teufels Beitrag, sozusagen. 

Gehören in diese Galerie auch Schaefer & Finke? Immerhin war es der Sportdirektor, der als erster öffentlich die Eignung des frommen Trainers für das Bundesligageschäft in Frage stellte. Und als die Erfolgsserie des FC riss, mischte sich Finke wieder in den täglichen Trainingsbetrieb ein. Wer so lange im Geschäft ist, weiß genau, was er da tut: Er untergräbt systematisch Position und Autorität seines Trainers. Dass er sich damit nicht unbedingt beliebt macht, nimmt er in Kauf. Richtig dunkel-diabolisch ist das alles allerdings nicht, eher kühles Kalkül. 

Und davon hat es in der Vergangenheit beim 1.FC Köln eher zu wenig gegeben. Spieler, Trainer und Offizielle betonen stattdessen mit inflationärer Häufigkeit, es sei ihnen eine „Herzensangelegenheit“, für den 1.FC Köln tätig sein zu dürfen. Offensichtlich meint man, damit bei der als sentimental geltenden kölschen Fan-Seele punkten zu können. 

Doch die 11-Freunde-Mentalität der verschworenen Gemeinschaft ist im Profibereich längst ein Mythos, der von der zweckrationalen Interessengemeinschaft auf Zeit abgelöst worden ist. Der Spieler ist heute Unternehmer in eigener Sache, und wenn er sich einen Vorteil davon verspricht, dann redet er auch schon einmal mit der Presse über Interna. So lange er dabei nichts Geschäfts- beziehungsweise Vereinsschädigendes von sich gibt oder üble Nachrede betreibt, gibt es kaum eine Handhabe, ihn daran zu hindern. 

Das ist Finke klar, der sich hinsichtlich der Gepflogenheiten und Umgangsformen im Profifußball schon lange keine Illusionen mehr machen dürfte. Ex-Trainer Schaefer hingegen reagierte geschockt, als Spieler in der Öffentlichkeit über Dinge sprachen, die seiner Ansicht nach nicht dorthin gehörten. Wer im Fußballgeschäft und speziell als Trainer bei einem der Großstadtclubs – mit ihren, sagen wir es mal so: immer wissbegierigen medialen Umfeldern – auf Dauer überleben will, hat offensichtlich keine andere Wahl, als den gelegentlichen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Sonst retten ihn weder Fans noch Fußballgott. Und erst recht kein Sportdirektor.

(04.05.2011, www.choices.de/konzeptfussball-oder-fussballgott)


______________________________________________________________________________________


Stadt in Angst 

Wir wollen die Parallelen zum außerfußballerischen Geschehen nicht überstrapazieren, aber es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass Schwarz und Gelb alles andere als die angesagten Farben der Saison darstellen. Ihre Kombination ist Sinnbild einer Bundesregierung zum Abgewöhnen – und einer überholten, radioaktiv kontaminierten Form der Energieerzeugung, die der Chef des Dortmunder Sponsors Evonik offenbar immer noch gut findet. Doch auf‘m Platz hat sich der BVB dem allgemeinen schwarzgelben Abwärtssog bislang erfolgreich entzogen.

Also besteht auch keine Notwendigkeit, für den Bundesliga-Endspurt die schwarzgelbe Kluft aus- und die blau-weißen Championsleaguehalbfinalistenfarben anzuziehen. Der überraschende CL-Erfolg der Schalker übersteigt ohnehin das Fassungsvermögen mancher BVB-Anhänger, wie Kommentare aus dem Fan-Forum von www.schwatzgelb.de zeigen: „Pokalwettbewerbe haben es nun mal an sich, dass sich ab und zu auch mal Blinde in die letzten Runden verirren.“ Ein anderer User wartet mit einer profunden Analyse auf, die den Höhenflug der Gelsenkirchener relativieren soll: „Wenn man die Gruppen vergleicht, kommt man aber auch zum Schluss, dass die EL Gruppe von uns besser war als die CL Gruppen von Schalke und Bayern.“

Etwas mehr Selbstvertrauen wäre angesagt. Doch der weitere Streifzug durch das Fan-Forum lässt nichts Gutes ahnen. Da wird beispielsweise angesichts der vielen vergebenen Torchancen in der Rückrunde ein erfahrener „Knipser“ gefordert und in diesem Zusammenhang der Name Klose ins Spiel gebracht. Tja, wohl dem, der einen Raúl hat. 

Im „Forum der Uschis“ erinnert ein User daran, dass unter den Fans immer wieder diskutiert worden sei, wie die „Viecher aus GE“ mit schöner Regelmäßigkeit ihre Titelchancen verspielten, weil sie sich ein Verlierer-Gen eingeredet hätten. Ebenso oft seien die Loser aus Lever- respektive Vizekusen verspottet worden, die sich sogar das Markenrecht auf den Begriff „Vizekusen“ gesichert hätten. Doch nun scheinen die elementaren Fußball-Ängste (Angst vorm Versagen, Angst vorm Gewinnen, Angst vor der Angst) offensichtlich auch Dortmund eingeholt zu haben, denn, so der Fan weiter: „was ist hier eigentlich in den letzten Wochen los? Sind wir plötzlich bei den Blauen? Warum verhalten sich hier 3/4 aller Schreibenden wie absolute Uschis? Da wird gejammert, gezetert, mimost und das von Tag zu Tag schlimmer.“ Und um diese gefühlte Angst auch noch statistisch zu untermauern, könnte man auf die Rückrundentabelle verweisen: Da steht der BVB nur auf Platz drei! Schlimm, schlimm ...

Also wirklich, jetzt reißt euch mal zusammen, Dortmunder. Oder wollt ihr zur Saisonabschlussparty als Vizemeister ins Westqualenstadion einziehen, um den Borsigplatz-Blues zu blasen? Wer soll denn nun eigentlich Deutscher Meister werden, wenn eine Leverkusener Meisterschaft als naturgesetzlich ausgeschlossen zu gelten hat? 

Eines immerhin ist nach Spieltag Nr. 30 definitiv ausgeschlossen: Dass am Ende gar Hannover 96 Meister geworden wäre. So bleibt uns das Schauspiel erspart, einer Meisterfeier im Niedersachsenstadion beiwohnen zu müssen, zu der die „Scorpions“ aus der Rente zurückgeholt worden wären, um „Wind Of Change“ singen – womöglich noch im Chor mit den Hannoveraner Urgesteinen Gerhard Schröder, Schwester Käßmann und Lena Meyer-Landrut. Das hätten nicht mal die Viecher aus GE gewollt. 

(15.04.2011, www.choices.de/stadt-in-angst-um-den-bvb, aktualisiert am 17.04.2011)


______________________________________________________________________________________


Das Ende von Vizekusen?

Der Fußballfan ist im Allgemeinen auch Statistiker. Frei nach Nick Hornby: Wo andere Leute Meinungen haben, hat er Listen. Und die sagen ihm, dass es in dieser Bundesligasaison voraussichtlich einen Zieleinlauf geben wird, den wir vor genau neun Jahren schon einmal hatten: Borussia Dortmund vor Bayer Leverkusen und Bayern München. 

2001/2002 hatte Bayer Leverkusen nahezu die gesamte Saison über dominiert und einen ausnehmend schönen und spektakulären Stil gespielt. Dafür sorgte vor allem das extrem offensiv ausgerichtete Mittelfeld mit Ballack, Schneider, Zé Roberto und Bastürk sowie Offensiv-Verteidiger Lucio. Erzielte einer von ihnen die Treffer nicht selbst, standen vorne auch noch die nominellen Stürmer Kirsten und Neuville zum Tore schießen bereit. Und wenn mal ein Spiel nicht so ansehnlich geriet, musste meist der arme (und unterbewertete) defensive Mittelfeldspieler Ramelow als Watschenmann herhalten. 

In jener Saison festigten die Leverkusener endgültig ihren Ruf als ewiger Zweiter. Nach drei Vizemeisterschaften hinter den Bayern 1997, 1999 und 2000 ließen sie diese 2002 zwar hinter sich, mussten aber am Ende Dortmund passieren lassen, weil sie wieder einmal in den entscheidenden Momenten an ihren Nerven gescheitert waren und einen scheinbar sicheren Punktvorsprung hergegeben hatten. Nicht genug damit, verloren sie auch noch die Endspiele um DFB-Pokal und Champions League. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, machten sich fünf Leverkusener nach dem nächsten verlorenen Endspiel bei der anschließenden WM zu Vierfach-Vizes oder kurz Vivis. Immerhin einer – der Brasilianer Lucio – kam als Weltmeister zurück. (Und wem wurde anschließend zumindest eine Teilschuld am Führungstreffer der Brasilianer gegeben? Richtig, Ramelow.)

Vizekusen war geboren, und wer den Schaden hat, sorgt für den Spott gleich selbst, dann tut‘s nicht ganz so weh. Eine Leverkusener Fan-Initiative startete eine Webseite mit dem Titel „Bayer 04: der ewige Zweite. Wir stehen zu Dir“. Dort findet man übrigens auch Lexikoneinträge der ganz speziellen Art. Sie stammen von der Dortmunder Fanseite borsigplatz.de. Danach bedeutet das Verb ‚leverkusen‘ verlieren, im entscheidenden Moment versagen, sich lächerlich machen, während das Substantiv ‚Leverkuser‘ für Verlierer, Versager, Witzfigur, Jammerlappen, brotloser Künstler steht. 

Doch nun gibt es begründete Hoffnung für Bayer, die Schmach zu tilgen. 2010/2011 hat Borussia Dortmund nahezu die gesamte Saison über dominiert und einen ausnehmend schönen und spektakulären Stil gespielt. Sechs Runden vor Abschluss führt die Mannschaft mit einem scheinbar sicheren Punkvorsprung … da klingelt es beim ausgewiesenen Fußball-Statistiker. Was, wenn sich die Geschichte aus der Spielzeit 2001/2002 in dieser Saison mit umgekehrt verteilten Rollen wiederholte und Dortmund am Ende noch von Leverkusen überholt würde? 

Nicht nur der statistische Aberglaube spricht eindeutig für Bayer. Fußballexperten stützen ihre Analysen und Prognosen darüber hinaus auch gerne auf Parallelen zwischen dem Fußball und den Entwicklungen in Politik und Gesellschaft. Und demzufolge hat Bayer das historische momentum eindeutig auf seiner Seite. In Ägypten und Tunesien werden Diktatoren gestürzt, in Deutschland Atomkraftwerke abgeschaltet und in einem Bundesland eine Regierungspartei nach 58 Jahren abgewählt, an deren Stelle demnächst eine Koalition unter einem grünen Ministerpräsidenten treten dürfte … wann, wenn nicht in einem Jahr wie 2011, in dem quasi am Stück lauter bislang undenkbares Dinge geschehen und die versammelten Loser dieser Welt auf einmal alle gewinnen, soll Bayer Leverkusen Deutscher Fußballmeister werden? 

Gut, in Köln würde man das weniger lustig finden. Aber beim ehemaligen Vier-Minuten-Meister Schalke 04 schon. Und sollten die Schalker dann auch noch DFB-Pokal und Champions League gewinnen, wäre der historische Kreis endgültig geschlossen, und wir könnten 2011 zum Jahr des siegreichen Underdogs ausrufen. Nicht auszudenken, was das wiederum im Umkehrschluss für die Politik bedeuten würde. Am Ende kommt es im Herbst noch zu vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages, aus denen die Satire-Truppe „Die PARTEI“ mit einer absoluten Mehrheit hervorgeht. 

(08.04.2011, www.choices.de/das-ende-von-vizekusen)


Update 27.04.2011: Boah ey, wie unheimlich! 

Nach dem 31. Spieltag der Saison 2001/2002 hatte Bayer Leverkusen fünf Punkte Vorsprung vor Borussia Dortmund. Die nächsten Gegner Leverkusens waren Bremen und Nürnberg, Dortmund spielte am 33.Spieltag gegen den HSV. Nach dem 31. Spieltag der Saison 2010/2011 hat Borussia Dortmund fünf Punkte Vorsprung vor Bayer Leverkusen. Die nächsten Gegner Dortmunds sind Nürnberg und Bremen, Leverkusen spielt am 33. Spieltag gegen Hamburg. Seltsam … aber so steht es geschrieben. 

Wird Bayer Leverkusen jetzt also doch noch Meister? Nein. Um es in Anlehnung an die bekannte Beckenbauersche Erkenntnis „Die Holländer sind keine Schweden“ zu formulieren: Die Dortmunder sind keine Leverkusener. 


______________________________________________________________________________________


Reise-Splitter


Ostseebad Binz auf Rügen / Die Vögel
Badewetter ist nicht, also ein Spaziergang am Strand. An dessen Ende beginnt ein so genanntes Biosphärengebiet. Naturschutzgebiet täte es doch auch, oder wieso nicht? Wahrscheinlich, weil Naturschutzgebiet nach fremdenverkehrsfeindlicher Sperrzone klingt, und alles, was mit „Bio“ anfängt, als Image-förderlich gilt. Die spätere Wikipedia-Recherche klärt darüber auf, dass der Begriff Biosphärengebiet oder Biosphärenreservat „international und auf Bundesebene für das modellhafte Miteinander von Ökonomie, Ökologie und Sozialem“ steht, und es dabei „in erster Linie um den Schutz der vom Menschen geschaffenen Kulturlandschaften, für welche die UNESCO zuständig ist, und nicht um Natur- oder Landschaftsschutz“ geht. 

Folglich ist Menschen der Zutritt zu dem Biosphärengebiet bei Binz auch erlaubt, verbunden mit der Aufforderung, die Kreise seiner Bewohner nicht zu stören. Zu ihnen gehört eine Kolonie von Vögeln unterschiedlicher Arten (fragen Sie mich bitte nicht, welcher), die sich am Ufer beziehungsweise in Ufernähe eingerichtet haben. Größere und kleinere, schwärzere und weißere. Vier große schwarze Vögel bilden eine Art Raute. Sie thronen nahezu unbeweglich auf ihren kaum mehr als einen halben Quadratmeter großen, aus dem Meerwasser ragenden Felsenstücken, sind offensichtlich ganz bei sich und pflegen ihr autonomes Ich. Das kleinere Getier mit Grundfarbe weiß ist fliegerisch wesentlich aktiver, umkurvt jedoch mit Sicherheitsabstand die jeweiligen Hoheitsgewässer der vier statuenhaften Felsenherrscher. 

Der Chronist folgt unwillkürlich dem Vorbild der vier, lässt sich am Waldweg vorm Ufer auf einem Baumstamm nieder, stellt jegliche Körperbewegung ein und schaut den Vögeln zu. Dabei entwickelt sich so etwas wie ein Moment großer innerer Ruhe, in dem man durch nichts gestört werden möchte. Ruhe, wohlgemerkt, nicht Stille. Denn die versammelten Flugtiere geben, wie es ihrer Natur entspricht, ein vielstimmiges, aber keineswegs unangenehm klingendes Konzert. The real twitter, man. Wehe, es kommt jetzt noch irgendjemand Menschliches dazu und verursacht Geräusche, oder beansprucht gar ebenfalls einen Sitzplatz auf dem Baumstamm. Es kommt aber erst mal keiner. Das ist auch besser für ihn. 

So bleibt schätzungsweise eine Viertelstunde lang der Denkapparat des Betrachters ausgeschaltet, bevor er den Betrieb wieder aufnimmt und auf die Idee kommt, man könne diese Szenerie am Ostseestrand zu Binz ja auch aufschreiben. Nun geht so etwas aber heutzutage eigentlich nicht mehr ohne eine nachträgliche ironische Distanzierung. Denn natürlich handelt es sich hier um das Klischee vom Stadtbewohner, der länger nicht das Meer und die „unberührte“ Natur gesehen hat und sich sofort von ihnen gefangen nehmen lässt, wenn er die laute und hektische Großstadt mal für ein paar Tage hinter sich gelassen hat. Und das Versinken in die Betrachtung, kann das nicht auch einer gewissen Müdigkeit nach der Stampferei im Sand geschuldet sein? Doch, kann es; trotzdem will sich die fällige ironische Distanzierung am Schreibtisch auch zwei Wochen später nicht so richtig einstellen. Eher habe ich in der Viertelstunde am Strand eine leise Ahnung davon bekommen, warum es zu mancher Leute liebsten Freizeitbeschäftigungen gehört, stundenlang regungslos und stumm Vögel zu beobachten und zu belauschen. 

Möglicherweise ist dies ja auch eine geeignete Erziehungsmaßnahme für die vielen gestressten Top- und Mittelmanager, die – so will es das Klischee, und meistens liegt es ja nicht ganz falsch – Entspannung, Einkehr oder Absolution wahlweise oder abwechselnd in Klöstern mit Schweigegebot und/oder bei Peitsche schwingenden, mit herrischer Stimme Befehle erteilenden Unterwerfungsdienstleisterinnen suchen. Alsdann, wie wär’s mal mit ein bisschen Kreatur am Meer kucken und Frischluft tanken, statt sich in geschlossene Abteiräume oder Domina-Studios zu begeben? 


***

Und wo wir gerade bei die Vögel waren: Die eigentlichen Stars von Hitchcocks gleichnamigem Film sind natürlich die beiden Sperlingspapageien, die während der kurvenreichen Fahrt auf der Küstenstraße nach Bodega Bay in ihrem Käfig auf dem Beifahrersitz des von Tippi Hedren gesteuerten offenen Sportwagens eines jener komischen Kabinettstückchen aufführen, wie sie für Hitchcock-Filme typisch sind. In einer nur wenige Sekunden dauernden Großaufnahme legen sich die beiden auf der Stange sitzenden Vögel synchron „in die Kurve“ und schwingen wieder zurück in aufrechte Haltung. Ja, das ist mit Sicherheit nicht im fahrenden Auto, sondern im geschlossenen Studio gedreht und nachträglich mit Motorengeräuschen unterlegt worden, schon klar. Die Illusion ist gleichwohl perfekt. 

Bereits zu Beginn des Films haben die beiden Sperlingspapageien (englisch: lovebirds) eine entscheidende Rolle als Plot-Eröffner für das Kennenlernen von Rod Taylor und Tippi Hedren gespielt, wenn Taylor in der Tierhandlung so tut, als ob er Hedren für eine Verkäuferin hält (um die exzentrische Millionärstochter, als die er sie erkannt hat, ein bisschen hochzunehmen) und ihr erklärt, er suche für seine 11-jährige Schwester als Geburtstagsgeschenk ein Paar Sperlingspapageien / lovebirds, „die nicht die ganze Zeit schnäbeln“. Hedren versichert, das würden die beiden Tiere nicht tun, worauf Taylor entgegnet: „Aber zu passiv sollten sie auch nicht sein!“ 

Das ist einer von diesen hinterhältigen und meist glänzend funktionierenden Hitchcock-Tricks: Der Zuschauer wähnt sich eine gute halbe Stunde lang in einer romantic comedy, bevor das Unheil losbricht. Und wenn alles vorbei ist, bleiben als einzige Vögel, die nicht durchgedreht sind, die beiden Sperlingspapageien übrig. Deshalb dürfen sie auf Bitten der kleinen Schwester zusammen mit den anderen Hauptfiguren im Fluchtauto Platz nehmen. Dieses Mal ohne Faxen. 

***

Stralsund, Ozeaneum / A Fish Called Football Fish
Wenn man A Fish Called Wanda (Ein Fisch namens Wanda) für den besten Aquariumsfilm (und eine der besten Komödien) aller Zeiten hält, ist ein Besuch im 2008 eröffneten Ozeaneum in Stralsund natürlich Pflicht. Die übersichtlich angeordnete, auf sieben Räume über drei Etagen verteilte Ausstellung bietet viel … Fisch, logisch. Sowohl präparierten in Vitrinen als auch lebendigen in Wasserbecken, und dank der zweisprachig beschrifteten Informationstafeln auch gleich die Gelegenheit, das Speisekarten-Englisch zu verbessern. Es muss bei den Briten ja noch etwas anderes geben als gekochtes Wildschwein in Pfefferminzsoße. 

Zu Beginn der multimedialen Schau wird jedoch erst einmal einiges an Wissen zum Thema Weltmeere vermittelt. Das ist auch nötig, um die inzwischen beträchtlichen Lücken in Geografie, Biologie, Physik und Meteorologie beziehungsweise deren meeresrelevanten Teilgebieten zu schließen. Davon abgesehen weisen die begleitenden Texttafeln dezent, aber unmissverständlich auf Jagd, Überfischung und Klimawandel sowie deren Hauptverursacher hin. 

Nur im letzten, gemeinsam von Deutschem Meeresmuseum und Greenpeace gestalteten und über alle drei Etagen reichenden Raum, in dem 1:1-Modelle des größten Säugetiers Blauwal und anderer kolossaler Meeresbewohner von der Decke hängen, erhalten Tonfall und Atmosphäre einen unangenehm sakralen Beiklang. Das liegt zum einen an der Beschallung mit Walgesängen und Meeresrauschen, die an Kirchenchor und -orgel erinnern. Zum anderen wirkt der ganze hohe, stark abgedunkelte Raum wie eine Kathedrale, und die aus den Lautsprechern dringende Stimme, die über die Bedrohung der Meere und ihrer Bewohner aufklärt und dabei gerne mal rhetorische Kunstpausen setzt, hat etwas düster predigerhaftes und anklagendes. So etwas kann schnell kontraproduktiv werden. 

Aber zurück zum Anfang. Eines der ersten Exponate nach der Einführung in die Weltmeereskunde ist ein dunkelbrauner football fish (deutsch: Anglerfisch), der geradewegs einer Science-Fiction-Fantasie oder Freakshow entsprungen zu sein scheint und mit seinem Antennen-Kopf eine tragende oder besser gesagt schwimmende Nebenrolle in den Alien-Filmen hätte spielen können. Der seltsam geformte Meeresbewohner lebt in rund 6.000 Metern Wassertiefe in nahezu völliger Finsternis. Da kann man es sich wohl auch leisten, potthässlich wie die Nacht zu sein. 

Zu der im Ozeaneum gezeigten Meeres- und Küstenfauna gehören auch diverse Vogelarten. Unter ihnen befinden sich einige, deren Namen und Familienbande ebenfalls Assoziationen zu Film (und Sport) auslösen. So ein Kandidat ist der zur Ordnung der Röhrennasen zählende Eissturmvogel. Er aktiviert Links zu gleich zwei Filmen, den zwangsläufigen zu Ang Lees Ice Storm, und einen um zwei Ecken zur Bergpredigt-Szene aus Life of Brian, in dessen deutscher Synchro-Fassung jemand andauernd als „Rübennase“ (aus „Rübennasenhausen“) verhöhnt wird. Auch nicht schlecht die Zwergschnepfe – eine nahe liegende Beleidigung für die kleinwüchsige Assistentin des Münsteraner Tatort-Gerichtsmediziners Prof. Börne – und der Kampfläufer, der sich als Wappentier für die aussterbende Art der „Renner und Kämpfer“ im Fußball eignen würde. 

Die (lebendige) Flunder hingegen, die sich im nächsten Ozeaneumsraum in einem großen Becken mit stilecht nachempfundener Hafenwasser-Ambiente (inklusive rostigem Fahrrad, Einkaufswagen und Rumbuddeln) faul im Kies-Sand lümmelt, weckt eher Hungergefühle. Drei haben während meines Aufenthaltes an der Ostsee denn auch dran glauben müssen. Nein, ich bin nicht ins Museumsbecken gehupft und habe vor den Augen entsetzter Kleinkinder die Fische roh mit Haut und Gräten verschlungen. Das Ozeaneum liegt passgenau an Hafen und historischer Altstadt von Stralsund, wo es zahlreiche, zum Teil auch schwimmende Fischbuden und -restaurants gibt, die gebratene Flunder & Co. nebst Beilagen zu vertretbaren Preisen feilbieten, mjam mjam. In diesem Zusammenhang noch ein sachdienlicher Hinweis zum Speisekarten-Mecklenburgisch-Vorpommerisch: Brattüffeln sind das, was Sie glauben, was es ist: Bratkartoffeln. 

***

Berlin, Anti-Atomkraft-Demonstration / „Liberale gegen Atomkraft“
Die Pointe zur Demo liefert schon vor Beginn einer, der sich inmitten der immer größer werdenden Menschenmenge auf dem Sammelpunkt vor dem Berliner Hauptbahnhof befindet und ein gelbes T-Shirt mit blauer Beschriftung trägt: „Liberale gegen Atomkraft“. Ob es sich bei dem T-Shirt-Träger um einen Schwindler oder einen besonders originellen Witzbold handelt, lässt sich in dem Gedränge nicht feststellen. Angesichts der Tradition der FDP als Atom- und Spaßpartei muss man aber schwer davon ausgehen, dass er nicht echt ist (Oder es handelt sich um einen Einzelkämpfer vergleichbar Georg Schramms Bühnenfigur August, der einen Arbeitskreis „Sozialdemokraten in der SPD“ gegründet hat. Mehr dazu in der Besprechung „Die Revolution beginnt im Wartezimmer“ unter der Rubrik Literatur & Kabarett auf dieser Webseite). 

Ansonsten läuft alles wie erwartet und erhofft. Der Demonstrationszug ist lang und laut, also nicht zu übersehen oder -hören. Er könnte allerdings noch etwas gemischter sein. Neben den üblichen Verdächtigen sind zu wenige Leute von meiner Sorte am Start (Das sind die, die sonst eher zuhause bleiben und keine Erkennungszeichen tragen, außer höchstens einem Anti-Atomkraft-Button oder -Aufkleber auf dem Rucksack). Dafür trägt eine Teilnehmerin ein Schild um den Körper, auf dem sie aufgelistet hat, für wen sie alles mitdemonstriert, mit Vornamen, Altersangabe und Bundesland. Clever gemacht, auf diese Weise lässt sich natürlich auch kritische Masse erzeugen. 

Trommeln, Klatschen, Sprechchöre, Gesänge und dergleichen sind nach wie vor unverzichtbar, um Gehör und Aufmerksamkeit für politische Anliegen zu finden. Darüber hinaus muss eine Demonstration einen gewissen Unterhaltungswert bieten – und Schauwerte wie das „Trojanische Pferd der CDU“ mit gelben Atomfässern im Bauch, das einige Aktivisten gebastelt haben, oder die Trecker-Parade der Bauern aus dem Wendland. Und eine Demonstration darf trotz der Notwendigkeit, eine Art von Gemeinschaftsgefühl herzustellen – was tendenziell immer Gefahr läuft, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und damit für alle Beteiligten letztlich unbefriedigend zu enden – , niemals ein gewisses, nun ja, intellektuelles Niveau unterschreiten. Dafür sorgen auf der Abschlusskundgebung in Berlin beispielsweise die Sprecher der Bäuerlichen Notgemeinschaft Wendland und des Bundesverbandes Erneuerbare Energien. Beide sind routinierte Redner und wissen, was sie wie sagen müssen, ohne allzu phrasenhaft daherzukommen.

Für den desengagierten Intellektuellen, Literaten oder Künstler von heute ist so etwas natürlich trotzdem bäh. Demonstrieren, that was so 1960ies/1970ies… Wer als irgendwie Arrivierte/r aus dem linken, linksliberalen oder anderweitig linksdrehenden Spektrum tatsächlich glaubt, auf die Teilnahme an solchen öffentlichen Unmutsbekundungen gänzlich verzichten zu können, liegt falsch. Protestmails und Online-Petitionen sind schön und gut und notwendig, aber eben auch relativ bequem. Die unübersehbare körperliche Anwesenheit möglichst vieler Menschen auf der Straße setzt immer noch ein deutlich wirkungsvolleres Massezeichen. 50.000 in Berlin waren schon recht beeindruckend, 100.000 hätte ich noch besser gefunden. Da machte sich offenbar schon ein leichter Anflug von Überschwang durch das Mitlaufen im Demonstrationszug bemerkbar...

***

Schließlich die unvermeidliche Eisenbahn-Geschichte: Im ziemlich leeren Großraumabteil der 1.Klasse des ICE von Berlin nach Köln sitzt am späten Samstagnachmittag auch einer mit Notebook, der wichtige geschäftliche Telefonate führen muss. Er will von jemandem etwas über den Stand von dessen „smart projects“ wissen. Ich möchte so etwas an einem Samstagnachmittag auf der Rückfahrt von Kurzreise und Demonstration nicht mit anhören müssen, auch nicht gedämpft durch die Fahrtgeräusche. Da helfen nur Kopfhörer und sinfonische Überwältigungsmusik. Glücklicherweise ist auf dem iPod auch Mozarts Jupiter-Sinfonie abgespeichert. Also wähle ich sie an, verbunden mit der Bitte, Jupiter möge doch so gut sein und mit ein paar gezielten Blitzen die Geräte des telefonierenden Mitreisenden außer Gefecht setzen. Und was soll ich sagen, keine zwei Minuten, nachdem der erste Satz der Sinfonie begonnen hatte, schmierte das Notebook von Mr. Smart Project ab! Gut, er hat es später natürlich wieder ans Laufen bekommen, aber eine kleine Genugtuung war’s doch, harhar.

***

Noch etwas zum Thema Business-Denglisch: Nichts gegen eine „To-Do-Liste“, das ist kürzer und einprägsamer als die schwerfällige „Liste der zu erledigenden Aufgaben“. Und das gerade erwähnte „Notebook“ hat sich gegenüber der durchaus möglichen Alternative „Mobilrechner“ eindeutig durchgesetzt, kein Problem damit. Aber mir hat noch nie jemand schlüssig erklären können, warum man beispielsweise Unternehmen oder Verbraucher zu irgendetwas „enablen“ muss. In die Lage versetzen oder befähigen tun’s genauso; oder glaubt jemand, ein potenzieller Kunde würde beleidigt reagieren, wenn man ihm erzählte, dass sein Unternehmen mithilfe des vorgestellten Produkts in der Lage beziehungsweise befähigt sei, bestimmte betriebliche oder geschäftliche Prozesse noch besser auszuführen? 

Business-Denglisch ist nicht possierlich, und selten lustig oder originell. Es ist eine immer weiter um sich greifende Krankheit, die vor allem jene befällt, die keine der beiden Sprachen, aus denen es sich zusammensetzt, richtig beherrschen. 

(20.09.2009)

______________________________________________________________________________________


Haariges und Schneidendes

Man wird kaum noch Friseurladenschilder finden, auf denen einfach nur „Friseur“ und ein Nachname draufstehen. Es ist schon seit längerer Zeit stark verbreitet, dem Handwerk des Haareschneidens einen internationalen Anstrich zu verpassen. Der Frisör heißt dann Coiffeur oder Hair-Stylist, und er benennt seinen Laden schon mal in Anspielung auf das Musical Hair!. Auch alles, was mit Cut beziehungsweise Haircut zu tun hat, wird gerne genommen. Häufig taucht dann noch ein Look und/oder Feel im Namen beziehungsweise dem begleitenden Werbespruch auf. 

Inzwischen scheinen bei der Benamsung auch Wortspielereien Konjunktur zu haben. Genauer gesagt: Die Verwendung von Wörtern, die zwar in keiner unmittelbaren Beziehung zum Vorgang des Frisierens stehen, aber als Bestandteile etwas Haariges oder Schneidendes in sich tragen. Da nennt beispielsweise der eine seinen Laden „haargenau“, und die andere den ihren „Schnittpunkt“. Ein interessanter Ansatz, der indes den Weg in die Wortspielhölle noch nicht weit genug geht. Denn so ist noch kein zielgruppenspezifisches Branding möglich, das dem jeweiligen Friseurgeschäft ein Alleinstellungsmerkmal verpassen würde. Dies wäre gegeben, wenn der „Schnittpunkt“ beispielsweise Schnittstelle hieße. Sämtliche Computernerds würden sofort einen unwiderstehlichen Drang zum Haareschneiden verspüren. Und hey, das wissen wir doch alle, die hätten’s ja auch dringend mal wieder nötig! 

Damit sind die Möglichkeiten der Zielgruppenansprache für Figaros noch lange nicht ausgeschöpft. Denn die Wortfelder um ‚Haar’ und ‚Schneiden’ herum sind fürwahr weite. So böte sich etwa für Militaristen der Name Schneidig an; für Zertifikateverkäufer, Banker und andere Gauner käme Halsabschneider in Frage. Liebhaber von Indianergeschichten und Indio-Kulturen würden sich hingegen von Skalp angezogen fühlen. 

Selbstverständlich sollten dann auch Bedienung, Interieur und Beschallung der jeweiligen Kundschaft angepasst sein. Im Schneidig schneiden zackig uniformierte Friseusen mit Original-Sanitäter-Scheren und brüllen ihre Kunden in einem fort an, dazu läuft im Hintergrund in Endlosschleife ein raffiniertes Sounddesign aus Marschmusik, Fliegerlärm, Explosionen sowie Auszügen aus den berühmtesten Durchhaltereden der Geschichte. Im Skalp haben Kunden beim Schneideinstrument die Wahl zwischen Messer und Tomahawk und bleiben während der gesamten Prozedur angebunden. Die Friseusen heißen Ntschotschi, Apanatschi oder Uschi und sind entsprechend gewandet. Zum Schluss wird natürlich ein gutes Friedenspfeifchen geraucht. 

Und weiter geht’s mit zielgruppenspezifischen Namen für Friseurgeschäfte:

Für Kunden mit New-York-Erfahrung (und vereinzelte niederländische Touristen): Haarlem Shuffle 
Für Kunden mit Drogenhintergrund: Haaranalyse 
Für Musiker: Haarband 
Für Musiker mit Drogenhintergrund: Haarprobe
Für Dudenleser: Haargarnteppich (schlagen Sie’s nach, das Wort gibt’s tatsächlich)
Für Zwergwüchsige und Kinder: haarklein
Für Fans der französischen Schauspielerin Emmanuelle Béart: Emmanuelle Behaart (Vorsicht, könnte unter Umständen falsche Erwartungen auslösen) 
Für Pornografen: haarscharf 
Für Priester: Haarkranz 
Für den Publizisten Klaus Harpprecht: Haarpracht 
Für Filmfans (und Bewohner der Waldhöhen im Münsterland): Die Haard 
Sollte Die Haard ein Erfolg werden und die Eröffnung einer Filiale anstehen, könnte sie heißen: Die Haard – mit ’nem Pferdeschwanz. Zugegeben, ein relativ langer Weg vom Pate stehenden Originaltitel Die Hard: With A Vengeance. Aber Fortsetzungen sind nun mal selten so gut wie der Erstling, gell? (Für die Die Hard-Filme gilt das übrigens nicht. Die sind alle vier sehenswert.)

Sollten Sie jedoch kein Zielgruppenfriseur werden wollen, müssen Sie sich auf andere Weise Aufmerksamkeit verschaffen. Brechen Sie mit der Regel, wonach ein Firmenname möglichst kurz zu sein hat und am besten aus einem einzigen, einprägsamen Wort bestehen sollte, und demonstrieren Sie damit zugleich Selbstironie: An den Haaren herbeigezogen; Haarige Sache das; Bar? Bier? Nein, Friseur! etc …

Auch bei den Werbesprüchen gibt es noch erhebliches Verbesserungspotenzial. Die Frage „Sind Sie bereit zu einschneidenden Veränderungen?“ haben in dieser oder ähnlicher Form vermutlich schon viele Friseure zwecks Kundenfang gestellt. Erklären Sie Ihren Kunden stattdessen unmissverständlich: „OK, Sie sehen scheiße aus. Aber wir raufen Ihre Haare wieder zusammen!“ Oder gehen Sie noch ein Stück weiter und werden Sie dabei ruhig ein bisschen vulgär: „Wir schneiden alles – außer Ihren Sackhaaren.“ Oder versprechen Sie: "Bei uns kapituliert auch der letzte Haarling!" Bei dem handelt es sich nämlich, wie dem Lexikon zu entnehmen ist, um eine Lausart. Und schon könnte man mit einem nahe liegenden Wortspiel einen weiteren Firmennamen mit mondänem Anstrich fabrizieren: Everybody’s Haarling. Aua. Das klingt dann doch eher nach einem Fall für den inzwischen haarlosen Bruce Willis. Die hard, Haarling. 

(04.05.2009)

______________________________________________________________________________________


Noch ’ne Stadtreise: Wien im zweiten Anlauf
 

Wien ist happy daß du kommst. Ich weiß nicht, ob das Schild mit dieser Aufschrift immer noch Kraftfahrzeuglenker begrüßt, die auf dem Autobahnring um Wien unterwegs sind. Vor ziemlich genau 20 Jahren stand es jedenfalls da, als ich mit einigen trinkfreudigen Gestalten auf dem Weg nach Budapest war, um dort unter anderem das legendäre, auch in Ungarn sehr verbreitete Pilsner Urquell zu verkosten. Wien ist happy daß du kommst sorgte für Minuten langes, schallendes Gelächter im Wagen, denn es klingt schon ziemlich daneben, wenn man versucht, die warmen Worte in möglichst breitem Wienerisch auszusprechen: Wean is hepi dos’d komst. Oder so ähnlich. 

Doof nur, dass das doofe Schild mich 20 Jahre davon abgehalten hat, der Stadt mal einen Besuch abzustatten. Denn Wien ist zweifellos eine Reise und mehr wert. Davon überzeugt man sich dann allerdings besser alleine und nüchtern. Nun ja, weitestgehend nüchtern, denn trinkbares Bier brauen können auch die Ösis. 

Aber der Reihe nach. Die ökologisch korrekte Reise macht man ja heutzutage mit dem Zug, was allerdings für die Strecke Köln-Wien eine Fahrtzeit von rund achteinhalb Stunden bedeutet. Mit den Österreich-Spezial-Angeboten der Bahn lässt es sich schon für deutlich weniger als 200 Euro hin und retour fahren, wobei die Pointe bei meiner Zugkombination darin lag, dass die Rückreise in der Ersten Klasse – an deren Annehmlichkeiten wie größere Beinfreiheit und breitere, bequemere Sitze man sich übrigens schnell gewöhnen kann – billiger war als die Hinfahrt in der Zweiten. 

Das ist allerdings bei weitem kein hinreichender Grund, die Preis-, Informations- und sonstige Politik der Bahn und ihres Chefs Mehdorn zu loben. Um mehr als 20 Prozent ist das Bahn fahren nach fünf Preiserhöhungen seit 2004 teurer geworden. Da ist es kein Wunder, wenn man sich langsam angewöhnt hat, das Wort „Bahnchef“ wie „Bannscheff“ auszusprechen (Damit den Anfang gemacht hat wohl der schon öfter als Namensverkürzer – „Präsent Putin“ lässt grüßen – auffällig gewordene Mehdorn-Kumpel und Exkanzler Schröder, Kabarettist Urban Priol hat den „Bannscheff“ dann für seine Nummern in der Anstalt mit Vergnügen übernommen). 

Bannscheff klingt wie eine Mischung aus Panscher, Bandscheibe und Bandenchef. Das passt. Und rein zufällig fällt mir da doch der Name eines ehemaligen Fußballprofis ein, der ganz ähnlich, nämlich Pancev, heißt und auf den unheilschwangeren Vornamen Darko hört. Das passt erst recht, so könnte man sich den Bahnchef vorstellen: Bannscheff Darko Mehdorn, Fürst der Finsternis und Chef einer Eisenbahnräuberbande, der Mann, der mit Tunnelblick, aber ohne Licht am Ende auf die Bahnprivatisierung zurast und das Staatsunternehmen offensichtlich inzwischen als eine Art persönliches Eigentum betrachtet, mit dem er nach Belieben verfahren kann, so dass der verstaubte Spruch „Eigentum ist Diebstahl“ plötzlich einen ganz anderen, neuen Sinn bekommt. Wie es schon der ehrwürdige Titanic-Guru Swami Durchananda in einer seiner Internetbotschaften einmal ausdrückte: „Mehdorn is the devil!“ 

Mit solchen Gedanken an einen hiesigen Fürsten der Finsternis fährt man nun also in der Woche vor der österreichischen Parlamentswahl ins Herz der Finsternis. 27 Prozent der Österreicher hatten in letzten Umfragen bekundet, es läge im Bereich des Möglichen, dass sie eine der Rechtsaußen-Parteien wählen würden. Mehr als 28 Prozent haben es am Ende getan. Offensichtlich wird der Rechtsextremismus à la Strache/FPÖ und Haider(-Nachfolger)/BZÖ in weiten Teilen Österreich als spezielle Spielart alpenländischer Folklore angesehen. Dieser Eindruck drängte sich erst recht auf, als ich, ermattet von Zugfahrt und erstem stundenlangen Spazieren durch die Wiener Innenstadt, beim abendlichen Fernsehgucken im Ferienapartment auf eine Diskussion der Spitzenkandidaten stieß. Der ausrichtende Sender hatte die Wähler Fragen an die Politiker formulieren lassen und konfrontierte die Parteichefs unter anderem mit der Frage „Wen von Ihren Konkurrenten würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?“. FPÖ-Strache nannte daraufhin doch glatt den Grünen-Spitzenkandidaten Van der Bellen. Man vertrete zwar in vielen Punkten andere Ansichten, aber der Herr Van der Bellen sei ein „anständiger“ und „vertrauenswürdiger“ Mensch – also das übliche, x-mal gehörte, ziemlich zweischneidige Lob für einen politischen Gegner, den man eventuell noch brauchen könnte. Doch Van der Bellen litt nicht an Mundfäule und landete einen schönen Konter: Klar würde er auch den Strache mit auf eine einsame Insel nehmen, allerdings aus einem „bösartigeren“ Grund, damit nämlich Strache und die Seinen zuhause in Österreich nicht „so viel Unfug treiben“ könnten. Touché! Dem FPÖ-Mann blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, seinem grünen Kontrahenten die Hand zu schütteln und mit ins Gelächter des Publikums über die gelungene Riposte einzustimmen. 

Das alles wirkte allerdings schon etwas bizarr auf einen, wenn man am Samstag zuvor noch in Köln unterwegs gewesen war, um gegen den so genannten „Anti-Islamisierungskongress“ zu demonstrieren, zu dem neben diversen anderen europäischen Rechtsaußen und -extremisten auch ebenjener H.-C. Strache ursprünglich als Redner angekündigt war. Da er nicht kam, und sich offensichtlich auch sonst kaum österreichische Rechtsextremisten nach Köln begeben hatten, war die Welt am folgenden Sonntagmorgen um sieben auf dem Kölner Hauptbahnhof noch in Ordnung. Die Vermutung, man müsse eventuell mit einem Haufen Strache- oder Haider-Gefolgsleuten die kompletten achteinhalb Stunden bis Wien im selben Zug verbringen, bestätigte sich nicht. 

In Wien selbst hingegen ist von Fremdenfeindlichkeit nichts zu spüren – abgesehen von gelegentlich anzutreffenden Repräsentanten und Repräsentantinnen jener typischen Grantigkeit, die zum festen Erwartungsbild der Touristen gehört, das zu unterlaufen mithin regelrecht unklug respektive geschäftsschädigend wäre. Der erste Bezirk, also die Innenstadt innerhalb der Ringstraße, scheint auch in der letzten Septemberwoche noch fest in der Hand von Auswärtigen zu sein. Es herrschen Vielvölkergewirr und Sprachenvielfalt. Rund um den Stephansdom und herinnen gibt’s besonders viel Italienisches und Spanisches zu hören, da sind halt die Katholiken unter sich. Im Kaffeehaus „Landtmann“ in direkter Nähe zu Burgtheater und Parlament wird’s noch polyglotter. An den Nebentischen ertönt Slawisch klingendes, Englisches sowie Englisches mit österreichischem Akzent, man hat offenbar Biesnes-Partner zu Gast. Kaum vorstellbar, dass jene knapp 30 Prozent, die ausländerfeindlich gewählt haben, all die Fremdsprecher am liebsten rausschmeißen würden. Wer soll dann all die Melangen trinken und dazu Sachertortenstücke essen? 

À propos Essen: Sich nach umweltverträglicher Anreise nach Wien dortselbst auch noch ökologisch korrekt zu ernähren, ist angesichts der vielen Würstelstände mit Spezialitäten wie Debreziner, Käsekrainer, Krakauer et cetera nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Immerhin dürften die Anteile an Rind in den Würsteln relativ gering sein und die Auswirkungen auf die persönliche CO2-Bilanz, die durch das Verspeisen von Rindviech entstehen, das mit seinen Methan-Abgasen ja gleich nach dem Menschen als Klimaschädling Nummer zwei rangiert – ein Rindviech kommt eben selten allein – , sich somit in Grenzen halten.

Gell, Sie merken’s schon, das Umwelt- und Klimathema lässt einen nicht mehr so richtig los, auch und gerade nicht im Urlaub. Und geben Sie’s zu, es ist doch eleganter, sich der Sache so dezent und eingebettet in einen, nun ja, Reisebericht zu nähern, als im „Delenda Carthago“-Stil des älteren Cato jeden Beitrag auf seiner Webseite mit dem Satz zu beenden: „Im Übrigen glaube ich, dass wir weltweit unsere Klima-, Umwelt-, Energie- und Verkehrspolitik schleunigst radikal ändern und auf Energieeffizienz, Ressourcen schonende und erneuerbare Energiequellen setzen müssen.“ Schließlich beschäftigten sich auch zwei Ausstellungen in der reichhaltigen Wiener Museumslandschaft mehr oder weniger intensiv mit dem Weltproblem Nummer eins: mehr „klimafreundlich mobil – Ideen für den Verkehr der Zukunft“ im zwei Tramstationen von Schloss Schönbrunn entfernten Technischen Museum Wien, weniger „Die Weite des Eises“ in der berühmten Gemäldegalerie Albertina. 

Im Technischen Museum geht’s in erster Linie um Mobilitätsmanagement. Zu den ausrichtenden Kooperationspartnern der Schau gehört das österreichische „Lebensministerium“, dessen Namensgebung im Hirn automatisch einen Link zu den Bezeichnungen der Ministerien aus 1984 aktiviert. Bleibt aber alles im grünen Bereich, das Lebensministerium vereinigt Kompetenzen, die hierzulande bei Verbraucherschutz- und Umweltministerium angesiedelt sind. „klimafreundlich mobil“ zeigt unter anderem ein schnittiges Leichtbaufahrzeug im Sportwagendesign namens „Loremo“, das gerade mal 550 Kilogramm auf die Waage bringt und mit 25 PS eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h erreichen soll – bei einem Spritverbrauch von weniger als 2 Liter auf 100 Kilometern. Auch nicht schlecht die MILA-concept cars (Magna Innovative Lightweight Auto), die Autos aus Science-Fiction-Filmen der 1960er Jahre ähneln. Noch mehr aber staunt der Laie über ein ehrwürdiges altes Automobil, das bereits 1899(!) von einem elektrischen Antrieb ans Laufen gebracht wurde: der Rohner-Porsche mit Radnabenmotor. Die dem Oldtimer zugrunde liegende Idee wird nun hundert Jahre später bei der Entwicklung von Elektroautos wieder aufgegriffen. Was lange währt...

Bei den „Weiten des Eises“ in der Albertina geht’s dagegen um die Alpen- und Arktisfotografie, von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Und es ist in der Tat beeindruckend, wenn man auf den Begleittafeln liest, unter welchen Bedingungen damals fotografiert und direkt entwickelt wurde: Schwere, voluminöse Ausrüstung inklusive großformatiger Fotoplatten und mobiler Dunkelkammern mussten die Bergknipser bei ihren Aufstiegen und die Polarfahrer bei ihren Expeditionen mitschleppen. 

Die dabei entstandenen Fotos dienten allerdings nicht nur der Unterhaltung des zeitgenössischen Publikums, etwa mit den neckischen Stereobildern, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Der Geograph und Alpenforscher Friedrich Simony fotografierte 1876, 1886 und 1890 das damals noch so genannte Karls-Eisfeld auf dem Dachstein-Gebirge. Zu seinen Beweggründen hatte er anlässlich der ersten Aufnahmen 1876 notiert: „Die photographischen Landschaftsbilder stellen eine Art geschichtliche Urkunde des localen Naturlebens dar, aus welcher in kommenden Zeiten die periodischen Schwankungen der Gletscherausdehnungen documentarisch nachzuweisen sein werden.“ Der Mann konnte das Ausmaß der Schwankungen der Gletscherausdehnungen noch nicht erahnen, das man heutzutage mit photographischen Landschaftsbildern documentiert, doch zeigen bereits seine innerhalb von knapp fünfzehn Jahren entstandenen Aufnahmen einen deutlichen Rückgang des Karls-Eisfelds am Ende des 19. Jahrhunderts. Heute hat das inzwischen als Hallstätter Gletscher bezeichnete Eisfeld im Vergleich zum Beginn der Messungen mehr als 40 Prozent seiner Fläche verloren. 

Und damit fürs Erste genug gezeigefingert und ab zur Kunst, denn dasselbe Museum beherbergt seit 2007 auch als unbefristete Dauerleihgabe die Sammlung des Liechtensteiner Ehepaares Batliner, die Hauptwerke der klassischen Moderne von Monet, Renoir, Degas, Cézanne, Matisse, Chagall, Picasso, Modigliani, Kandinsky, Rothko, Lichtenstein und Bacon umfasst. Nun sollte man ja eigentlich lange Aufzählungen mit Namedropping eher vermeiden. In diesem Fall jedoch bietet sich die Künstlerliste an, um die Empfehlung – gerade an die Adresse der ähnlich wie der Verfasser nur sporadisch Kunstinteressierten – auszusprechen, sich diese Ausstellung beizeiten einmal anzuschauen. Außerdem gibt es in der Albertina in der noch bis 8. Dezember laufenden Vincent-van-Gogh-Schau berühmte Bilder wie die Ernte oder das Selbstbildnis mit Strohhut zu sehen, die das Amsterdamer van-Gogh-Museum ausgeliehen hat. Ihren Schwerpunkt hat sie indes im weniger bekannten, aber nicht minder interessanten zeichnerischen Werk des Meisters. Düster und expressiv sieht das aus, sehr eindringlich beispielsweise in den Kopfweiden. 

Im Museum Moderner Kunst (MUMOK) lief derweil eine Ausstellung unter dem schönen Titel “Bad Painting, good art”. Erklärend heißt es dazu in der Broschüre des Hauses: „Bad painters sind überzeugte Maler und bekennen sich eindeutig zu ihrem Medium. Sie fordern dieses aber neu heraus, indem sie es mittels verschiedener Strategien eines unkorrekten, schlechten, hässlichen oder bösen Malens mit seinen ureigensten Mitteln kritisieren und angreifen. So malen sie etwa bewusst ‚fehlerhaft’ oder grob, überfrachten ihre Bilder formal wie inhaltlich oder führen Störfaktoren ein. Sie übersteigern oder ironisieren bestehende Stile, greifen auf ‚veraltete’ Malweisen zurück, entwickeln unkonventionelle Formensprachen oder werten Kitsch auf.“ Oder, kurz und bündig zusammengefasst in den Worten einer Ausstellungsführerin: „Es ist eine Leistung, sauschlechte Bilder zu malen und sie dann auszustellen!“. Und ein Vergnügen für den Besucher, sich diese Meisterwerke des guten schlechten Geschmacks von Martin Kippenberger, Albert Oehlen, Werner Büttner oder Julian Schnabel anzuschauen (Besonders in Erinnerung geblieben ist mir Schnabels Bild mit dem programmatischen Titel Painting without mercy). Den Vogel schießt aber im wahrsten Sinne des Wortes der Amerikaner John Currin mit einem ausgesucht scheußlichen Thanksgiving-Bild inklusive Truthahn ab, das neben der Broschüre auch die Werbeplakate zur Ausstellung zierte. Leichtes Kopfzerbrechen hinterlässt das Schimpftuch von Sigmar Polke: Unter der auf einem rund vier mal vier Meter großen Biberbetttuch aufgebrachten, umfangreichen Ansammlung von Invektiven findet sich auch das Wort „Eckenpenner“. Ich hatte bis dato gedacht, es gebe nur den oder die „Heckenpenner“. Nachforschungen im Internet bestätigen später, dass beide Worte geläufig sind, der Heckenpenner aber in der Tat um einiges verbreiteter ist als die Variante ohne H. Vielleicht hätte „Penner“ es ja auch getan. 

Um ihren künstlerischen Nachwuchs brauchen die Österreicher sich jedenfalls keine Sorgen zu machen. Der steht schon Gewehr bei Fuß beziehungsweise mit dem Malkasten in der Hand bereit. Auffällig viele Kindergruppen werfen in den Kunstmuseen unter Anleitung von Kunsterziehern vor den Bildern der großen Meister ihre ersten Kleckse aufs Papier. Da müssen auch Museumsbesucher grinsen, die man rein äußerlich eher unter die kinderfernen Grantler einordnen würde. 

Ja, das Wien-Bild ist ein bisschen klischiert und von Extremen bestimmt: Der Wiener und die Wienerin gelten als ausgesucht höflich oder ausgesucht grantig, wobei anscheinend Zugezogene wie die, höflich formuliert, über ziemlich rustikale Manieren verfügende und mit unverkennbarem spanischen Akzent ausgestattete Stadtrundfahrtmitarbeiterin am Einstieg Staatsoper den Einheimischen in puncto Grantigkeit in nichts nachstehen. Sei’s drum, solange Grantigkeit oder Höflichkeit authentisch sind und von Herzen beziehungsweise der Galle kommen.

Das manchmal garstige Gegeneinander macht nicht zuletzt den Reiz und die Spannung dieser Stadt aus. In Ausstellungen im Architekturzentrum und im Wienmuseum am Karlsplatz kann man erfahren, welch diskutierfreudiges Volk die Wiener schon immer gewesen sein müssen. Davon zeugt neben dem in der Wiener Secession endenden Künstlerstreit um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert auch die Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten und Modernisierern um die Bebauung des Karlsplatzes, der seitdem als architektonisches „Experimentierfeld der Moderne“ das seltsam unfertig wirkende „Herzstück“ von Wien darstellt. 

Die Stadt ist eben alles zugleich, alt und neu, eng und verwinkelt in den Gassen, großzügig-ausladend in den Alleen und der Ringstraße, urban und grün. Überall finden sich kleine Parks, und über der kilometerlangen Prater-Allee zum Ernst-Happel-Stadion liegt an diesem späten Dienstagnachmittag im September eine angenehme Stille, die im Verein mit ebenso angenehmen Außentemperaturen dazu einlädt, sie trotz immer problematischer werdendem Schuhwerk bis zum Ort der verdienten EM-Endspiel-Niederlage abzuschreiten. 

Still ruht erwartungsgemäß auch der berühmte Zentralfriedhof, als ich ihm einen Tag später meinen Besuch abstatte. Nur das Wetter hat sich geändert und sorgt für stilechte „Atmo“. Es lebe das Klischee: Grau ist der Himmel, stetig tröpfelt der Regen, willkommen in Wien, dem weltweit führenden Zentrum für Morbidität und schwarzen Schmäh-Humor. Jedoch bleibt die Suche nach den Ehrengräbern der großen Spötter Helmut Qualtinger und Karl Kraus erfolglos, hier hätte eine bessere Vorbereitung Not getan. Schließlich gibt es heute Suchmaschinen für alles, da müssten sich doch wohl auch ein paar Grabsteine im Internet lokalisieren lassen (Wie sich später herausstellt, ist in Karl Kraus’ Wikipedia-Eintrag die Lage seiner Grabstätte inklusive Belegungsnummer exakt angegeben. Dumm gelaufen.).

Jedenfalls lassen sich die Gedenksteine für Schubert, Mozart und Beethoven (ja, der ist zwar in Bonn geboren, hat aber mit 22 rübergemacht nach Wien und dort alle seine Meisterwerke geschrieben, weshalb die Wiener ihn auch gerne für sich reklamieren) sowie der Sträuße leicht auffinden. Und wenn schon kein Qualtinger zum Reverenz erweisen da ist, dann immerhin der große Komödiendichter Johann Nepomuk Nestroy. Jetzt müsste man nur auch mal was von ihm lesen. 

Morbus Wien leuchtet vielleicht nicht, wie es der bildungsbürgerliche Zitatenschatz München gerne nachsagt, hinterlässt aber einen sehr starken Eindruck. Die Stadt „lebt“ und „pulsiert“ wie andere Groß- und Hauptstädte auch, aber man hat es hier mit dem Leben und Pulsieren nicht so eilig wie anderswo. „Nur net hudeln!“, wie der Wiener sagt. Dass gemächliches Zeitung lesen im Verein mit Kaffee trinken eine kulturelle Errungenschaft darstellt, lässt sich nach einem Aufenthalt in Wien kaum mehr bestreiten. 

Aber war das wirklich die letzte Woche vor der Parlamentswahl? Entweder wird auch im Wahlkampf nicht „gehudelt“ oder er hat sich anderswo abgespielt als in der Metropole, sieht man einmal von den obligatorischen großformatigen Plakaten am Straßenrand ab. Doch halt, ein bisschen Straßenwahlkampf bekomme ich dann doch noch mit. Am „Grünen Zelt“ auf dem Herbert-von-Karajan-Platz neben der Staatsoper verteilen grüne Helfer/innen unter anderem Streichholzbriefchen, die 10 Küchenkräuter in Stecksamen-Streifen zum selber pflanzen enthalten. 

Hübscher Wahlkampfgag, das, und offensichtlich eine Reaktion auf eine kurz zuvor veröffentlichte Einlassung von Fiona Grasser. Die Ehefrau des ehemaligen österreichischen FPÖ-Finanzministers hatte als Rezept gegen die starken Preissteigerungen bei Lebensmitteln empfohlen, wer Platz auf seiner Terrasse habe, solle doch dort sein Gemüse selbst anbauen. Prompt wurde die Kräuterfee in der österreichischen Presse daraufhin mit der „Wenn es kein Brot hat, soll das Volk doch Kuchen essen“-Kaiserin Marie-Antoinette verglichen. Politische Seelenverwandte von Frau Grasser finden sich allerdings überall. Der Berliner Finanzsenator Sarrazin (SPD), der unlängst allen weniger gut Verdienenden, die befürchten wegen zu hoher Energiepreise ihre Wohnungen im Winter nicht ausreichend beheizen zu können, den Ratschlag erteilt hatte, sie sollten einfach noch ’nen dicken Pullover anziehen, gehört offensichtlich auch dazu. Wer angesichts solcher politischer Alternativen wie den Grassers trotzdem immer noch unschlüssig war, ob er Grün wählen sollte, konnte eine kleine Wahlkampfbroschüre mit „hundert gründen, grün zu wählen“ zu Rate ziehen. Damit haben die österreichischen Grünen ihren Hamburger Kollegen von der GAL immerhin schon mal etwas voraus. Und Wien hat erst einmal die Nase vorn in meiner persönlichen Städte-Rangliste. 

Allein, diese Kurzreise war ein bisschen arg kurz und mit fünf Tagen wegen eventuellem Nicht-Gefallen und/oder unpassendem Wetter viel zu vorsichtig kalkuliert. Also, auf ein Neues. Frühjahr und Sommer sollten die ideale Zeit für Wien sein, schon allein um sich ein Fahrrad zu leihen und die Stadt auf dem ziemlich gut ausgebauten, nach offiziellen Angaben inzwischen mehr als 1.000 Kilometer langen Radwegenetz genauer zu erkunden. Weiters böte sich dann auch wieder ein ausgedehnter Besuch im Prater mit anschließendem Spaziergang an, dieses Mal vielleicht gefolgt vom Besuch eines WM-Qualifikationsspiels der österreichischen Nationalmannschaft im Happel-Stadion ... na, das lassen wir wohl doch besser sein. In jedem Fall aber gehören auf die To-Do-Liste eine Donaufahrt nach Bratislava, wo gutes Pils gebraut werden soll, und eine „Dritte Mann-Führung“, bei der man auf den Spuren von Orson Welles in die Wiener Unterwelt abtauchen kann. Wussten Sie übrigens, dass neben der Zither, auf der Anton Karas das berühmte Harry-Lime-Thema spielt, zur typischen Wiener Schrammel-Musik auch eine 13-saitige, so genannte Kontra-Gitarre mit zwei Hälsen gehört? Wozu so ein Besuch in der Instrumentenabteilung des Technikmuseums Wien nicht alles gut ist. 

Übrigens hat der Wunsch, in Wien zu radeln, nichts mit dem Öffentlichen Personennahverkehr der Stadt zu tun. Der heißt dort „Öffis“ und ist ebenso übersichtlich wie pünktlich, egal ob U-Bahn, Tram, Bus oder S-Bahn. Allerdings sind die Wiener Bannscheffs in ihrem Umgang mit öffentlichem Eigentum nicht viel besser als so manche ihrer Kollegen aus deutschen Städten. Sie haben vor zehn Jahren das Wiener U- und Straßenbahn-Netz an einen US-Investor verkauft und zurückgeleast. Bleibt den Wienern nur zu wünschen, dass dieses so genannte Cross-Border-Leasing sie nicht noch teuer zu stehen kommt. 

(27.10.2008)

______________________________________________________________________________________


Stadt-Reisen für Anfänger


Vielreisende brauchen hier eigentlich gar nicht weiter zu lesen, sie haben ja schon so gut wie alles gesehen – und eine Stadt wie Hamburg dürften sie erst recht kennen. Für einen Wenig- und Kurzreisenden wie mich hingegen ist ein wenn auch nur kurzer Abstecher in eine bis dahin fremde Stadt ein Vorkommnis außer der Reihe. Danach fühlt man sich immerhin ein bisschen welterfahrener und klüger. Denn auch für den Wenig- und Kurzreisenden gilt: Reisen bildet. Reisen bildet Bruchstückwissen aus einer Vielzahl von disparaten Eindrücken und Erinnerungsfetzen mit stark unterschiedlichen Halbwertszeiten. Verzichtet man auf das Fotografieren und überlässt so dem – allerdings jederzeit fehlbaren – Gedächtnis die Ein- und Rangordnung des Gesehenen, ist es ratsam, es auf Stadtplan, Eintrittskarten und Reisenotizen gestützt aufzuschreiben, bevor die Erinnerung anfängt, Kapriolen zu schlagen. Wohlan: Hamburg beginnt Gründonnerstag 2008 im Regen, mit dem typischen Schmuddelwetter, auf das sie da oben offenbar auch noch stolz sind, und steigert sich dann kontinuierlich. 

Fahr'n mit der Eisenbahn
Aber der Reihe nach, Urlaub fängt ja bekanntlich schon mit der Anfahrt an. Als Lokführerstreikbefürworter und Bahnprivatisierungsgegner fahre ich natürlich mit dem Zug. Über die Fernreisezüge der Bahn lässt sich aus meiner Erfahrung als Kurz- und Wenigreisender heraus nichts Negatives sagen, sie sind im Gegensatz zu ihren Nahverkehrspendants meist ebenso pünktlich wie bequem. Eine leichte Enttäuschung ist allerdings, dass für die ausgewählte Verbindung nach Hamburg nicht einer der modernen ICE-Züge, sondern ein IC aus der vorigen Generation bereitsteht. Sei’s drum, 82 Euro hin und zurück (Dauersonderangebot plus Platzreservierung, wer ganz früh bucht, zahlt inklusive Platzreservierung sogar nur 62 Euro) sind bei vier Stunden Fahrtzeit pro Strecke ziemlich konkurrenzlos. Über die sonstigen Vorteile des Bahnreisens wie etwa seine im Vergleich mit Flieger und Auto deutlich günstigere CO2-Bilanz dürfte ja hinreichend berichtet worden sein. 

Im für den an der Beobachtung seiner Umwelt und anschließender schriftlicher Verwertung interessierten Bahnfahrer günstigsten Fall befindet er sich nun ein paar Stunden lang in einer Art Mikrokosmos, einem kleinen Theater. Doch in dieser Hinsicht bieten weder Hin- noch Rückfahrt Nennenswertes: keine schon vormittags betrunkenen Fußballfans oder Kegelbrüder/-schwestern, keine Jugendlichen mit Beschallungsgeräten, zu deren Musik sie auch noch unerträglich laut und schief mitsingen (das gibt’s erst wieder ein paar Tage später in einem vollbesetzten Nahverkehrszug), und selbst das übliche Kleinkind, das mit seiner Motorik noch nicht so recht umzugehen weiß und die Rücklehne des Vordersitzes gerne mal als Trampelpfad missbraucht, hält sich zurück. Nichts als Osterurlauber, die wie der Chronist mit Frühstück, Wasser/Tee/Kaffee trinken, Zeitung lesen und Musik hören (selbstverständlich über Ohr- oder Kopfhörer) beschäftigt sind. Wie herrlich entspannend eine so leise und unaufdringliche – andere würden sagen: langweilige – Reisegesellschaft doch sein kann. So stellt sich jener recht angenehme Zwischenzustand des Unterwegs-und-noch-nicht-angekommen-Seins ein, der An- und Rückreisen eigen ist. 

Ankommen und Absteigen
Am Zielpunkt ist es dann, wie erwähnt, nass und windig. Unter diesen Umständen ist das gebuchte Hotel in Hamburg-Hohenfelde natürlich gefühlt viel weiter als die beim Internet-Reservierungsdienst angegebenen 1,2 Kilometer Fußweg vom Bahnhof entfernt. Das Ein-bisschen-sich-die-Füße-vertreten-wollen nach der langen Sitzerei stellt sich als typische Fehlentscheidung Marke „gut gemeint“ heraus. Mit Reisetasche, Rucksack und Schirm bei Regen durch die Gegend zu laufen ist schlicht und einfach ebenso abtörnend wie schweißtreibend. 

So dauert es eine Weile, bis man sich nach dem Einchecken und Trockenreiben wieder aufrafft und – diesmal mit leichtem Gepäck, also Regenschirm und Rucksack – den Rückmarsch in die Innenstadt antritt. So wenig Zeit, der Tag will genutzt sein! Es ist schließlich (Kurz-)Urlaub! Immerhin wird das Wetter allmählich besser, und nach einem kurzen (Nach-)Mittagssnack auch die Laune. Der erste griselige Eindruck ist weg, Zeit sich Hamburg zeigen und im Touri-Bus ein bisschen durch die Gegend fahren zu lassen. 

Stadtrundfahrt mit Verbrauchertipps
Die Stadtbilderklärerin gibt ihr Bestes. Neben Infos zur Stadt- und Kulturgeschichte werden wir auch mit aktuellen Wirtschaftsdaten aus Hamburg versorgt. Man merkt sofort: Dies hier ist eben eine Stadt der Kaufleute und Generalkonsulate. So ist dem Bus nach der Abfahrt vom Hauptbahnhof der direkte Weg zum Alsterufer versperrt, denn ganz in der Nähe liegt das amerikanische Generalkonsulat, das seit September 2001 einen Hochsicherheitstrakt um sich herum benötigt. Auf eine solche Bannmeile gut verzichten können offenbar die Villen in Harvestehude/Rotherbaum, an denen entlang die Fahrt längs der Alster nach Umgehung der Konsulats-Exklusivzone weitergeht. Die Stadtführerin ist auf dem neuesten Stand und erzählt, dass die Villa da oben links früher Michael Stich gehörte, der sie aber kürzlich für 12 Millionen Euro weiterverkauft habe. Außerdem im Angebot, pardon, zu sehen: Die Villen von Jil Sander und der Joop-Tochter Jette. In letzterer werde sogar tatsächlich Mode gefertigt, wie die durch die Fenster zu erkennenden Kleider und Büsten verrieten. Tröstlich zu wissen, dass in Millionärsvillen noch gearbeitet wird. 

Die neuesten Umsatzzahlen aus den Häusern Joop und Sander erfahren wir allerdings nicht. Dafür aber einiges andere aus der Hamburger Wirtschaft, zum Beispiel, dass die belebte Einkaufsmeile Mönckebergstraße/Spitaler Straße zu den umsatzstärksten der Welt gehört. Namen von Firmen und Geschäften gehen der Stadtführerin wie selbstverständlich über die Lippen, ebenso wie die Empfehlung für eine Cocktailbar im 26. Stock eines großen Hotels, später noch eine für ein Restaurant, in dem man neben typischen Fischgerichten original Hamburger Labskaus verzehren kann. Ich habe nicht so oft Städte besucht und Stadtrundfahrten mitgemacht, kann mich aber nicht erinnern, dabei jemals so viele detaillierte „Kaufempfehlungen“ bekommen zu haben (Gut, in Berlin mag es auch daran gelegen haben, dass das weniger eine Stadt der Kaufleute als eine Stadt der Schuldenmajore ist). Ohne Cross-Selling oder Cross-Marketing geht heute anscheinend gar nichts mehr, und man ist versucht zu fragen, ob es sich bei den empfohlenen Häusern und Adressen um Kooperationspartner des die Stadtrundfahrt ausrichtenden Unternehmens handelt. Wie dem auch sei: Ich habe den Restaurant-Tipp später am Abend aufgenommen und den Labskaus für gut befunden. Nix „Labs sucks“. 

Jedenfalls ist die Busfahrt keine Werbe- und Verkaufsveranstaltung; es gibt hinreichend Hinweise auf die Sehenswürdigkeiten und Museen, derentwegen man ja eigentlich in die Stadt gekommen ist, und die man zu Fuß beziehungsweise mithilfe des örtlichen öffentlichen Personennahverkehrs abklappern möchte. Der sich übrigens, ebenso wie der in Berlin und ganz im Gegensatz zu dem in Köln, als ausgesprochen pünktlich erweist: Die Fahrpläne sind keine Märchenbücher, und die auf den elektronischen Displays angegebenen Wartezeiten wirken nicht so, als ob sie von einem Zufallsgenerator ausgewählt wurden. 

Die Stadtrundfahrt führt weiter zum Tennisstadion Rothenbaum, das, wie die fitte Führerin erklärt, in diesem Jahr möglicherweise zum letzten Mal zu den Top-9-Turnieren auf der Tour der Tennisprofis gehören wird. Man fragt sich unwillkürlich, ob es vielleicht helfen könnte, wenn Michael Stich als neuer Sponsor einspringen würde, der müsste ja schließlich noch etwas von den 12 Mille aus seinem Hausverkauf übrig haben. 

Weiter geht’s mit nicht mehr ganz so aktueller Stadtgeschichte. Am Wegesrand steht ein rund 40 Meter hohes Bismarck-Denkmal, und kurz dahinter in Altona erfahren wir, dass das viele Jahre eine selbstständige Stadt und mehr als 200 Jahre dänisch war, inklusive exklusiver Prachtstraße für den Monarchen. Sieh an, die Dänen. Es folgen schließlich die berühmten und mir bis dahin nur dem Namen nach bekannten Adressen wie St. Pauli, Reeperbahn, Landungsbrücken, Michel, Speicherstadt und Hafen, bevor es zum Ausgangspunkt zurückgeht. Nicht ohne den Hinweis, dass man im Bus noch eine verbilligte Karte für eine Hafenrundfahrt erstehen kann. Tja, wo man eh schon gerade da ist... 

Hochbahn und Hafenrundfahrt
So beginnt der nächste Tag also mit einer Hafenrundfahrt an den Landungsbrücken. Für den Weg dorthin nimmt man am besten die U-Bahn-Linie 3 von „Rathaus“ bis „Landungsbrücken“, denn zwischen diesen Stationen ist sie oberirdisch als Hochbahn ausgebaut und führt entlang der Elbe. Diese Hochbahnstrecke wurde Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut und sieht noch original alt aus, ruht also auf grauen Stahlträgern mit vielen Nieten. Es ist zu hoffen, dass der imposante Anblick dieser frühen Form von „Industriedesign“ erhalten bleibt. In der Kaufleute-Stadt haben sie’s nämlich scheinbar nicht so mit schutzwürdigen Bauten. Da wird sogar schon mal, wie auf der Stadtrundfahrt ebenfalls zu erfahren war, eine pittoreske Shell-Tankstelle aus der Prä-Tanksupermarkt-Zeit unter Denkmalschutz gestellt, bevor jemand auf die Idee kommen könnte, sie einfach abzureißen und durch eine der heutigen „Service-Stationen“ zu ersetzen. Ach ja, Hafenrundfahrt und Skipper sind dann übrigens so, wie man sie sich vorstellt: Eine Mischung aus Ohnsorg-Theater und Käpt’n Blaubär. Also okay. 

Angst und Agnosis im Michel
Wieder zurück an Land gilt es als Nächstes, ein Kontrastprogramm zum Wasser in Angriff zu nehmen: Die Aussichtsplattform auf Hamburgs Wahrzeichen, der St-Michaelis-Kirche, auch als „Hamburger Michel“ bekannt. 449 Stufen oder ein Fahrstuhl führen da rauf, und für jemanden mit leichter Höhenangst wie mich ist der Fall klar: Natürlich nehme ich die Treppe nach oben. Ist schließlich nur eine Innentreppe im Kirchenturm, zudem nicht durchgehend, sondern durch Stockwerke unterbrochen, da wird das Runterschauen schon nicht so schlimm sein. 

Hier zeigt sich der Vor- oder Nachteil des Alleinreisens, ganz wie man will. Eine solche steile, lange Treppe zusammen mit Personen des eigenen Vertrauens hoch zu laufen und sich dabei durch stetige Unterhaltung – zum Beispiel über Alfred Hitchcocks Vertigo, kleiner Scherz am Rande, höhöhö – ablenken zu können, ist etwas anderes, als sich allein auf den Weg nach oben zu machen. Mulmig ist immer noch das beste Wort für das Gefühl, das einen beschleicht, besser gesagt: immer dann anspringt, wenn man auf der Treppe mal kurz verschnauft und nach unten blickt. Und anfängt zu überlegen, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, wieder runter ... nix da! Steht man schließlich nach vollendetem Fußmarsch oben, ist die Erleichterung umso größer. Und für den Rückweg nach unten darf man sich dann selbstverständlich den Fahrstuhl gönnen. 

War in dem protestantischen Gotteshaus noch relativ viel Publikumsverkehr, so verwundert es einen schon, dass an einem Karfreitag um die Mittagszeit auf den Innenstadt-Straßen zwischen Michel und Jungfernstieg so wenig Fußgänger unterwegs sind, obwohl das Wetter entgegen aller Eisregen-Prognosen gehalten hat. Schließlich ist, wie während der Stadtrundfahrt mitgeteilt wurde, rund die Hälfte der Hamburger nicht konfessionell gebunden, Michel hin, Michel her. An massenhaftem Kirchgang oder sonstiger religiös motivierter österlicher Einkehr kann’s also nicht liegen, dass ganze Straßen wie ausgestorben wirken. Der Hamburger tut wohl vielmehr schlicht das, was die meisten Großstädter tun: An nicht verkaufsoffenen Tagen – und das sind bekanntlich immer weniger – Stadtzentren und Shopping-Meilen möglichst meiden. Gut so, je weniger Leute unterwegs sind, desto besser lassen sich Bauwerke und Sehenswürdigkeiten in Augenschein nehmen. 

Bauten und Ausstattung
Die Hamburger Innenstadt/Neustadt wirkt wie eine große Spielwiese für Gestaltung. Da gibt es einerseits noch jede Menge rote Backsteinbauten älteren Datums, teils auch mit den weiß umrandeten, treppenförmigen Dachfassaden, die aussehen, als ob sie von „La Linea" gezogen worden seien. In der Speicherstadt kommen zur Abwechslung Rundbögen dazu, doch insgesamt scheinen die rechtwinkligen Formen zu dominieren – wirkungsvoll konterkariert von einigen modernen Glaspalästen mit schrägerem, eigenwilligerem Aussehen. So fühlt man sich etwa auf dem Weg von den Landungsbrücken zum Michel und weiter Richtung Jungfernstieg, der unter anderem an den Gruner&Jahr-Verlagsgebäuden vorbeiführt, an Metropolis und andere Frühwerke des Science-Fiction-Films erinnert, in denen futuristische Architekturen und Stadtplanungen thematisiert wurden. Das Kulissenhafte der Umgebung wird noch verstärkt, wenn auf der Straße eine Werbefläche von RTL für den Film King Kong informiert: „Ostersonntag lassen wir ihn raus!“ Unwillkürlich erwartet man beim Abbiegen um die nächste Ecke, dem Riesenaffen beim Zerlegen einiger Busse, Bahnen und Schiffe sowie dem anschließenden Außenaufstieg zum Michel zuschauen zu können. 

Indessen wird es höchste Zeit, sich die geplanten Museen vorzunehmen. Nach der unangenehmen Überraschung vom Vorabend – „ja, donnerstags sind die Museen bis 21 Uhr offen, aber nicht Gründonnerstag“ – und das im, wie kurz zuvor gelernt, mehrheitlich konfessionslosen Hamburg! – muss ich die Auswahl auf die Hamburger Kunsthalle und das Museum für Kunst und Gewerbe beschränken. Es ist schon seltsam: An seinem ständigen Wohnsitz kann man sich höchst selten dazu aufraffen, Ausstellungen zu besuchen, die quasi vor der Haustür stattfinden. Kaum ist man auswärts, möchte man nichts verpassen und so viel wie möglich Kultur mitnehmen. Um den Flickenteppich an Wissen wieder um ein paar Fetzen zu erweitern. 

Museum I, Kunst: Félix Vallotton
Die Ausstellung über den mir bis dato völlig unbekannten Maler, Grafiker und Schriftsteller Félix Vallotton (1865-1925) ist für einen in Malerei und Kunstgeschichte nicht sonderlich sachkundigen Menschen wie mich dann eine höchst angenehme Überraschung. Sie bietet unverhoffte Einsichten und Eindrücke nebst bester Unterhaltung. Vallotton fühlte sich offensichtlich in seinen Porträts der Wahrhaftigkeit verpflichtet, warf keine makellosen Schönheiten auf die Leinwand und malte, wie es im Begleittext zu einem der Porträts heißt, bisweilen regelrecht „fotorealistisch“. Auf der anderen Seite weisen seine Darstellungen berühmter Zeitgenossen wie Victor Hugo, Emile Zola oder Paul Verlaine deutliche Züge der Karikatur auf. Vallottons Verlaine mit Spitzbart, Grinsen und uniformjackenähnlichem Oberteil könnte heute auch gut als John Malkovich, der gerade einen Bond-Schurken gibt, durchgehen. 

In allem, was er künstlerisch tat, scheint Vallotton ebenso akkurat wie unbestechlich gewesen zu sein. Ein Zitat aus einem Brief der Künstlerin und Schriftstellerin Louise Hervieu an Vallotton, das die Ausstellungsmacher zu Recht an herausgehobener Stelle auf einer der Stellwände platzieren, bringt es auf den Punkt: „Man wirft Ihnen bisweilen Kälte vor. Aber dieses leidenschaftliche Beobachten, diese Gewissenhaftigkeit, diese Zurückhaltung im Ausdruck: Ist das nicht Liebe jener ungeheuren Art, die sich verdichtet und sammelt, um besser umarmen zu können – und sich nie stillt?“ [*] Ich habe selten eine treffendere Beschreibung der Voraussetzungen gelesen, die ein Kunst- oder Kulturschaffender, ganz gleich in welcher der Künste er sich tummelt, erfüllen sollte. 

Museum II, Kunst & Gewerbe: Skythen und andere Asiaten
Nächste und letzte Station ist das Museum für Kunst und Gewerbe. Dort wird die Ausstellung „Königsgräber der Skythen“ gezeigt – nach künstlerischer Wahrhaftigkeit nun also knallharte Authentizität. Denn das Nomadenvolk, das im 1. Jahrtausend v. Chr. in Südrussland/Südsibirien unterwegs war, hat seine Hinterlassenschaften und Schätze in Grabhügeln unter sibirischer Kälte gut konserviert. Es sind weniger die Goldschmiedearbeiten und Waffen aus jener Zeit als vielmehr die zum Teil vollständig erhaltenen, mehr als zweieinhalbtausend Jahre alten Kleidungsstücke, die Eindruck machen. Sie lassen – in Verbindung mit den zahlreichen erklärenden Texten – im Kopf des Betrachters automatisch Bilder und Filme mit lebendigen Menschen entstehen. Dem antiken griechischen Historiker Herodot zufolge muss es sich bei den Skythen allerdings schon um ziemlich kriegerische Blutsäufer gehandelt haben, unter denen allein die Zahl der getöteten Feinde über die Hackordnung entschied. Der skythischen Mumie, die als Höhepunkt der Schau im letzten und entsprechend temperierten Ausstellungsraum zu sehen ist, ist davon nichts mehr anzumerken. Ein Schild vor der Glasvitrine weist die Besucher vorsorglich darauf hin, dass es sich hier um einen Menschen handele, dessen Totenruhe man doch bitte respektieren möge. 

Danach tut es gut, sich ein Stockwerk höher mit einer anderen Ausstellung wieder in die Jetztzeit zu begeben, und die abgedunkelten Skythen-Räume mit einem großen, hellen Saal zu vertauschen, in dem unter dem Titel „Outdoor Lions“ Plakatkampagnen aus Cannes gezeigt werden. Der Kontrast könnte kaum größer sein, doch gehören Mord und Totschlag natürlich auch zu den Themen, mit denen sich Werbung beschäftigt. Den Vogel schießt ein Plakat ab, das einen Satz aus einem der inzwischen berühmtesten Anfänge der Filmgeschichte, dem Intro zu Pulp Fiction mit „Honeybunny“ (Amanda Plummer) und „Pumpkin“ (Tim Roth), zitiert: Im Bildhintergrund des Plakats hat eine Reihe von ziemlich kollektiv und uniform dreinschauenden Asiaten zum Gruppenbild Aufstellung beziehungsweise Platz genommen. Im Bildvordergrund sieht man in Rückansicht den Fotografen auf einem Stuhl stehen, durch den Sucher schauen und sagen: „Any of you pricks move and I’ll shoot every motherfucking last one of ya!“ Am unteren Bildrand des Plakats ergeht der Hinweis (der gleichzeitig auch Motto der gesamten Kampagne ist): „Don’t learn languages through movies“. Denn bei dem Unternehmen, das hiermit für seine Dienste wirbt, handelt es sich um einen Anbieter von Sprachkursen. ** 

Ausblick
Eine Mumie, ein schönes Zitat und ein herrlich komisches Plakat sind doch gar keine so schlechte Ausbeute für einen Kurzurlaub. Spätestens 2010, so die Elbphilharmonie denn bis dahin tatsächlich eröffnet ist, sollte ein weiterer Besuch in der Hafenstadt anstehen. Ach, übrigens: Hamburg liegt nicht am Meer, es sind noch gut 100 Kilometer Elbe bis zur Nordsee, und im Hamburger Hafen hat’s dementsprechend Süß- und kein Salzwasser. Haben unabhängig voneinander der Skipper und die Stadtführerin gesagt, ist somit durch zwei Quellen journalistisch einwandfrei gesicherte, wasserdichte Information und kann guten Gewissens in der Liste des nutzlosen Wissens abgelegt werden. Das dazu passende Schlusswort spricht Heinz Strunk, Spitzenkandidat der PARTEI bei den letzten Wahlen zur Hamburgischen Bürgerschaft: „Wir sehen die wirtschaftliche Zukunft Hamburgs nicht im Bergbau!“



*: Im französischen Original: «On vous reproche parfois d’être froid. Mais cet observation ardente, ce scrupule, cette pudeur dans l’expression: n’est-ce pas de l’amour et du plus terrible amour, celui qui se condense, se ramasse pour mieux étreindre et ne se satisfait jamais?»
**: Hier ist das Plakat im Netz zu sehen: http://www.scaryideas.com/print/816/ … und der Vollständigkeit halber (und um das hübsche Wortspiel um „shoot“ im Plakat noch einmal hervorzuheben) hier der Original-Wortlaut von Honeybunnys Ansage an die Café-Besucher, nachdem sie zusammen mit Pumpkin beschlossen hat, den Laden auszurauben.: „Any of you fucking pricks move and I’ll execute every motherfuckin’ last one of ya!“ Direkt im Anschluss setzen Dick Dales Surf-Gitarre und die Titelsequenz ein. Gell, das hat er schon ziemlich perfekt hingekriegt, der Tarantino.

(05.04.2008)

______________________________________________________________________________________


Splitter 

Fußball-WM 1990, Eröffnungsspiel Argentinien-Kamerun (0:1): Eine denkwürdige Vorstellung des seinerzeit zu Recht hoch gelobten Livekommentators Marcel Reif, der mit zunehmender Spieldauer immer unverhohlener seine Sympathien für den krassen Außenseiter aus Afrika bekundete („Ich darf als Reporter ja nicht parteiisch sein... ich will auch nicht parteiisch sein … aber lauft, meine kleinen schwarzen Freunde, lauft!“) und mit hörbarem Vergnügen die für mitteleuropäische Ohren lustigen Namen der Kameruner Spieler überbetonte. So klang eine Ballstafette von N’Dip über M’Bouh zu M’Fede wie reine (Onomato-)Poesie. 

***

Das führt mich direktemang zu Dong, Feng und Pan, drei Chinesen ohne jegliche Saiteninstrumente, die Anfang der Neunziger Jahre eine Zeit lang auf derselben Studentenwohnheimsetage wohnten. Man glaubt ja gar nicht, dass es solche Namen tatsächlich gibt, bis man ein paar von ihren Trägern persönlich begegnet. Studentenwohnheime sind eben Orte der Völkerverständigung und Horte der Aufklärung, höhöhö. 

In jedem Fall aber bringen sie einem fremde (Ess-)Kulturen näher. Eines Tages drang aus der von allen 12 Etageninsass/inn/en – plus Frau Dong und Frau Pan, die zeitweise mit ihren Gatten je knapp 10 Quadratmeter teilten – genutzten Küche ein infernalischer, von einer Rauchwolke begleiteter Gestank. Während die einen noch beratschlagten, was zu tun sei (Kette mit Wassereimern bilden oder besser gleich Feuerwehr holen?), ging Marlon, unser polyglotter, weit gereister, dementsprechend weltgewandter und damals schon China-erfahrener Südamerikaner kurzentschlossen in die Küche, um die Quelle des Übels ausfindig zu machen. Er musste wohl schon so eine Ahnung gehabt haben. Furchtlos riss er den Deckel von einem großen, qualmenden Topf auf dem Herd herunter und anschließend die Fenster auf. Dann zeigte er mit einem Grinsen auf den Topfinhalt: Es handelte sich um ein paar nahezu völlig verkohlte Schweinefüße. Nicht Schweinshaxen, sondern -füßchen. Wie gesagt, der Mann war China-Kenner, und so klopfte er der Reihe nach bei Dong, Feng und Pan. Letzterer war als einziger aus dem Trio zuhause und stürzte, nachdem Marlon ihn auf Chinesisch über den Sachstand informiert hatte, in die Küche, um die Reste seiner Schweinefüße zu retten. Und diejenigen Leser, die sich schon auf Hund oder Katz als Topfinhalt gefreut hatten und nun wegen der fehlenden Pointe enttäuscht sind, sollten sich gefälligst was schämen. 

***

Tja, das Studentenwohnheim, in der ersten Hälfte der Neunziger meine Heimstatt. Die spezielle Atmosphäre einer solchen Umgebung mag wesentlich dazu beigetragen haben – so denkt man sich zumindest im Rückblick -, dass ein zufällig im Radio gehörter Song von einem, der (s)ein Zuhause sucht, so einschlagen und solche Spuren in der Erinnerung hinterlassen kann. Es muss Anfang 1995 gewesen sein, denn es gab noch WDR I und die verdienstvolle Sendung Pop-Session, die montags bis freitags zwischen 18 und 20 Uhr mit einer, wie man damals zu sagen pflegte, gut abgehangenen Mischung über alles Wichtige im Bereich Indie, Rock, Pop, Crossover usw. informierte und von fachkundigem Personal moderiert wurde. Eines Abends ertönte nach Jingle und Begrüßung ein wie dahingeworfener Gitarrenakkord, und dann fing jemand mit schwerem amerikanischen Akzent an, auf Deutsch zu singen: „Wo ist Zuhause, Mama?“ (Natürlich mit falscher Betonung bei „Zuhause“, nämlich auf dem „zu“), und es war Johnny Cash! Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich die folgenden knapp zwei Minuten in Schockstarre vor den Boxen gesessen habe oder in hysterisches Gelächter ausgebrochen bin. Beides wären angemessene Reaktionen auf eines der groteskesten, irrsinnigsten Stücke Musik, das je aufgenommen wurde. Die Beatles und ihr Komm gib mir deine Hand“ oder Elvis’ Muss I denn sind ein Witz gegen dieses 1959 in Nashville wohl als Reminiszenz an Cashs Militärzeit in Deutschland entstandene Unikum. Man muss das gehört haben, denn es ist nur behelfsweise zu beschreiben: Die pluckernde Gitarre und der spazieren gehende Bass – also Country & Western in Reinkultur – und dazu singt Cash im tapferen, aber letztlich aussichtslosen Kampf mit dem Umlaut und der richtigen Wegbeschreibung von „grunen Telern“ und ähnlichem Unsinn, der in der Frage „Wer kennt den Steg?“ gipfelt. Die Pop-Session-Leute waren damals so begeistert von Wo ist Zuhause, Mama, dass sie es in jener Woche jeden Tag einmal spielten. 

Der Sampler, auf dem das Stück 1995 wiederveröffentlicht wurde, heißt im Übrigen ebenfalls Wo ist Zuhause, Mama und trägt den nicht zu viel versprechenden Untertitel Perlen deutschsprachiger Popmusik. Neben Cashs Meilenstein der unfreiwilligen Komik finden sich auf der Platte auch einige Zeugnisse seriösen Humors. Eine besonders vergnügliche Weise gibt Funny van Dannen mit dem herrlich heruntergenölten Nana Mouskouri zum Besten. Ebenfalls von herausragender Komik ist der Beitrag von Checkpoint Charlie, in dessen Refrain jemand mit schnarrender Gustaf-Gründgens-Stimme sprechsingt: „Er fährt nicht mehr nach Thailand, weil er sein Görrrl in Sachsen fand“. Die Wende hatte eben zweifellos auch ihr Gutes. 

***

Kaum jemand liest die so genannten Liner Notes, jene Texte also, die früher vor allem bei Klassik- und Jazz-Scheiben auf dem Rücken der Cover standen, heute noch im Booklet von CDs zu finden sind und mit der im Zeitalter des Downloads vollzogenen Lösung des Tons vom Träger möglicherweise ganz verschwinden werden. Vermutlich wird dies kaum jemand bedauern, da Liner Notes in dem Ruf stehen, einen ähnlich geringen Lese-Mehrwert wie die Klappentexte von Büchern zu haben. Es geht aber auch anders, wie eine Deutsche Grammophon-Veröffentlichung der Haydn-Sinfonien Nr. 104 und 100 von 1979 zeigt. Zu jener 100., die später den Beinamen „Militär-Sinfonie“ bekam, zitiert der Autor in seinen Liner Notes zeitgenössische Stimmen: 

„’Grand, but very noisy’, hielt ein Besucher der Londoner Konzerte fest, und Joh. Friedrich Reichardt schrieb 1803 anlässlich eines der Pariser ‚Concerts de la rue de Clery’ eher spöttisch über Haydns ‚unausstehlich starke Janitscharenmusik mit mächtigen Becken und Triangeln und Pauken und Trompeten, und einer ungeheuer großen Trommel, die sie recht hoch frei aufgehängt hatten, damit sie frei durch den Saal schallen sollte, und in die ein Kerl auch aus Leibeskräften hineinschlug.’
Und unverständlich blieb ihm die Reaktion der Damen, ‚die jedesmal, wenn die Janitscharen-Musik anhub, hoch in die Höhe fuhren und für Freude aufschrien und außer sich kamen und sich die Hände wund klatschten.’’“

Was für ein Stil! Da „schlägt" also ein „Kerl“ aus „Leibeskräften“ in eine „ungeheuer große Trommel“ hinein, nicht ein ausgebildeter Orchestermusiker, der seine Schlaginstrumente professionell bearbeitet. Und im so gar nicht fürnehmen Pariser Publikum des Jahres 1803 ist der Bär los, von stillem Genuss kann keine Rede sein. (Die detailliert beschriebene „Reaktion der Damen“ würde einen eher auf eine Reportage über die Beatlemania der 1960er tippen lassen). Das physisch-sinnliche Erleben eines Konzertbesuchs wird hier jedenfalls glänzend vermittelt, und etwas von dieser stilistischen Verve des Herrn Joh. Friedrich Reichardt würde man auch heute gern öfter in den Rezensionen klassischer Konzerte finden. Es muss ja nicht immer unausstehlich starke Janitscharen-Musik sein. 

***

Der Dalai Lama war auf Deutschland-Besuch. Doch ihm fehlte eine Synchron-Stimme, die seine auf Englisch vorgetragenen Statements inklusivem abschließendem bekräftigendem Kichern adäquat übertragen hätte. Da müssen wir wohl auf eine Reinkarnation des verstorbenen Gerd Duwner warten. Der langjährige deutsche Sprecher von „Ernie“ aus der Sesamstraße wäre die Idealbesetzung dafür, allein schon seines kieksigen Ernie-Kicherns wegen. 

Vielleicht macht sich ja einmal jemand die Mühe herauszufinden, ob der Dalai Lama tatsächlich mit Ernie/Duwner kompatibel ist, und stellt im Erfolgsfall das Ganze dann bei youtube oder myspace ein. Etwas Ähnliches hat ja schließlich mit dem „Leasingvertrag“ Gerhard Polts auch geklappt. Zu dieser Brettl-Nummer hat ein findiger Mensch quasi lippensynchron Bilder einer Hitlerrede geschnitten. Ganz großes Kino. (siehe/höre z.B. http://www.youtube.com/watch?v=q-7QoiOH9r0) 

***

Warum Dr. Kohl den Friedensnobelpreis verdient hätte? Weil er das Prinzip der Friedlichen Kohlexistenz entdeckt hat, die weder durch Flick, die Bimbesrepublik oder sonstige Skandale in ihren Grundfesten zu erschüttern ist. Zudem geht die friedenserhaltende Maßnahme des Aussitzens auf seine angewandten Forschungen zurück. 

***

Kiosk-Besitzer kennen ihre Kunden. Als ich neulich abends noch Bier holen ging und mal einer anderen Kölsch-Marke als „Reissdorf“ eine Chance geben wollte, griff ich in den zweiten Kühlschrank, wo Flaschen diverser anderer Obergäriger standen. Kaum hatte ich eine davon angefasst, kam in meinem Rücken der Zuruf: „Das ist alkoholfreies!“ Gut, dass jemand aufpasst, dass ich nicht das falsche Bier kaufe. 

(24.10.2007)

______________________________________________________________________________________


Der neue Spartensender Philosophie-TV

Kinderprogramm
13.00
Die Moral von der Geschicht'
mit dem Sandmännchen
13.30
Wie geht das eigentlich?, heute: Der Dialektik-Trick
Catweazle erklärt. Gäste: Tick, Trick und Track

Hauptprogramm
14.00
Gutes Sein, Schlechtes Sein
Daily Philo-Soap, Folge 863: Es gibt kein richtiges Leben im falschen
14.30
Phillys & Sophia
Frauenmagazin
15.00
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen
Talkshow
16.00
Si tacuisses ...
Talkshow
17.00
Wirtschaft: Die 10 schlechtesten Unternehmens-"Philosophien"
17.30
Sport: Die 10 schlechtesten Trainings-"Philosophien"
18.00
Mode: Die 10 schlechtesten Mode-"Philosophien"
18.30
Video-Clips: The Philosophers' Song 
18.35
"Geh' mir aus der Sonne"
...sonst klopp' ich dich in die Tonne. Der Wetterbericht
18.40
Mens Sana In Corpore Sano
Ernährungstipps für ein langes, gesundes Leben. Mit Hans-Georg Goudamer
18.50
Da-Sein, So-Sein oder In-der-Welt-Sein?
Die heitere Quiz-Show mit Martin Heidegger
19.30
Alles fließt
"Wir baden nie zweimal im selben Fluss". Ein filmischer Essay über den zweifelhaften Erkenntniswert des Begriffs ‚Wiederholung' (Wdh. v. gestern)
??.??
Sport, Live-Übertragung: Das Fußballspiel der Philosophen
Achtung: Die nachfolgenden Sendungen können sich verschieben, da Anstoß- und Abpfiffzeit heuristisch ermittelt werden 

Nachtprogramm
23.00
Das Wesen west
Horrorfilm-Klassiker, Buch & Regie: Martin Heidegger 
00.30
Eros und Agape
führen Sie durch das intersubjektiv-diskursive Call-In-Nachtprogramm 
Philosophie-Studentinnen in Leder erteilen Befehle ... ähm, erklären den kategorischen Imperativ

Im Anschluss sehen Sie aus unserer Reihe "Porno statt Adorno":
Die Filosoficker. Der erste erotische Spielfilm, der nach der neuen Rechtschreibung gedreht wurde.

(25.08.2006)

______________________________________________________________________________________






Share by: