MUSIK

Schönkrach im Gewerbegebiet
Ein Übervater gibt sich die Ehre 
Festtagsstimmung
Die wunderbare Welt des Pop 
Ins Schwarze getroffen: Das große 80er-Veteranentreffen
Versuch einer Erdmöbel-Exegese
Caruso hätte sich aufgehängt 
Fehlklang
One hell of a groove
Let there be Diskursrock
Mehr als Blumfeld 2.0
Alternative Rock bleibt eine Alternative
Funkmaster trifft bestes Stück des WDR
Die Party geht weiter
Gut gealtert
Wie geht's voran? Gut geht's!


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Schönkrach im Gewerbegebiet

Konzert: Pixies live in der Rockhal, Esch-sur-Alzette (Luxemburg) am 11.11. 2013

Eine Halle zu rocken ist anstrengend, wenn der Räumlichkeit die dazu passende Atmosphäre abgeht. Gleichwohl zogen sich die Pixies bei ihrem Auftritt in der Rockhal in Esch-sur-Alzette (Luxemburg) achtbar aus der Affäre. 


Wenn eine Konzertarena sich Rockhal nennt und in der Avenue du Rock’n’Roll befindet, liegt es nahe, ihr mal einen Besuch abzustatten. Schade eigentlich, dass man diesen Texteinstieg nur einmal verwenden kann. Andererseits auch wieder nicht, weil die Avenue du Rock’n’Roll in Esch-sur-Alzette ebenso wie die benachbarte Avenue du Blues und der Boulevard du Jazz zu einem jener gesichtslosen Gewerbegebiet-Areale inklusive Shopping-Mall und Bürogebäuden gehört, die heutzutage überall auf Brachen außerhalb von Stadtkernen hochgezogen werden. In diese Umgebung fügt sich die Rockhal nahtlos ein – ihr fehlt es (auch drinnen) an Atmosphäre. Da muss Fan kein weiteres Mal hin pilgern.

Hätte man es vorher gewusst, hätte man sich schleunigst Karten für das Ancienne Belgique in Brüssel oder das Paradiso in Amsterdam besorgt, die unter Musikfans einen guten Ruf genießen und entsprechend früh nach Ankündigung der Tour-Termine der – jetzt muss das Wort natürlich fallen – „legendären“ Pixies ausverkauft waren. Warum in Deutschland nur zwei Auftritte in Berlin angesetzt wurden, bleibt ein Rätsel. 

In dreiviertel Originalbesetzung plus Kim II
Die Pixies treten auf der aktuellen Tour zu drei Vierteln in Originalbesetzung auf, nur Bassistin und Sängerin Kim Deal war nicht dabei und nach dem Nordkorea-Prinzip durch eine andere Kim, Nachname Shattuck, ersetzt worden. Es bleibt festzuhalten: Singende Frauen am Bass, das hat was, nämlich eine lange Tradition im Indie-/Alternative-Sektor, von Tina Weymouth (Talking Heads, Tom Tom Club), über Kim (schon wieder) Gordon (Sonic Youth) und Kendra Smith vom geschätzten Dream Syndicate bis hin zu den beiden Kims der Pixies. 

Das Konzert kam anfangs nicht recht in Schwung, was nichts mit Black Francis‘ – nach dem Eindruck von Esch zu urteilen, inzwischen wieder etwas zurückgegangener – Leibesfülle zu tun hatte. Angeführt von ihrem Sänger und Rhythmusgitarristen drückten die Pixies gleich aufs Tempo und ließen es auf Ramones-Art angehen: Nahezu keine Pause zwischen den Stücken, kurzes Anzählen von Schlagzeuger David Lovering, weiter ging’s. Doch erst nach fünf, sechs Songs zeigte sich, dass sie nach wie vor über genügend Magie verfügen, um ein Publikum mitzunehmen (dessen Altersschnitt in der Rockhal im Übrigen niedriger als erwartet lag). Ihre charakteristische, manchmal auch als „College-Rock“ bezeichnete Indie-Alternative-Mischung, bei der Punk und Sixties-Pop die größten Anteile stellen dürften, stimmt immer noch. Der Set in Esch bot einen Querschnitt aus dem Band-Schaffen inklusive neuer, erst in diesem Jahr veröffentlichter Stücke wie „Indie Cindy“, „Bagboy“ und „Andro Queen“, begleitet von gelegentlichen unaufdringlichen Lichteffekten und ein paar Nebelschwaden.

30 Stücke aus 25 Jahren
Der Funke springt über, wenn in den Mid- bis Uptempo-Songs Schlagzeug, Bass und Rhythmusgitarre eine zumeist simple, aber effektive Grundlage legen für Black Francis‘ Gesang und Joey Santiagos anschwellende, verhallte Leadgitarrenlinien und eingestreute Licks, schnelle und langsame Passagen sich abwechseln, Breaks eingebaut werden („Bone Machine“) und die eingängigen Riffs und Melodien sich erneut in das Gehör fräsen – wie im Paradebeispiel „River Euphrates“, wo schneidende, klirrende Gitarrensounds und melodiöser Schönklang eine geglückte Verbindung eingehen. Ebenfalls erfreulich die poppigen „La La Love You“ und „Here Comes Your Man“, in denen die Sechziger-Bezüge deutlich zu erkennen sind, sowie „Caribou“, dessen Chorgesang wie bei einer 50er-Jahre Doo-Wop-Vokalgruppe entlehnt klingt und mit dem nötigen Schmelz in der Stimme vorgetragen wird. 

Auch die wenigen langsameren, balladesken Stücke wie „Hey“, „In Heaven“ und „Where Is My Mind“, hinterließen einen überzeugenden Eindruck. Zu den weitere Höhepunkten im Programm zählten „Dead“, „Levitate Me“, „Monkey Gone To Heaven“, „Gauge Away“, „Planet Of Sound“ und zum Abschluss der Zugabe ein langes „Vamos“, mit ausgedehnten Geräuschattacken Joey Santiagos zum vorwärts preschenden Beat und einem offensichtlich als Parodie zu verstehenden Gitarren-Posing im gemächlichen Frührentnertempo (ohne Gehhilfe). Ihren größten Hit „Gigantic“ spielten sie nicht, der ist offensichtlich zu sehr mit der Stimme der abwesenden Kim Deal verknüpft. 

Man hätte nach den rund 30 Stücken in knapp eindreiviertel Stunden dann doch gerne noch etwas mehr gehört (etwa „Debaser“ oder „I‘m Amazed“). Doch möglicherweise fanden ja auch die Pixies das Ambiente nicht wirklich prickelnd. So bleibt unter dem Strich ein zwar nicht überragendes oder nachhaltig beeindruckendes, aber gutes Konzert zu registrieren. Ein andermal wieder, dann aber an anderer Stelle. 

(16.11.2013, www.kultur-in-bonn.de)
 
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Ein Übervater gibt sich die Ehre

Konzert: Neil Young & Crazy Horse in der Kölner Lanxess Arena am 12.07.2013 

Konzerte von Neil Young & Crazy Horse haben mittlerweile das Stadium erreicht, wo sie zu Hochämtern werden. Angesichts der Energie, die die vier Mitt- bis Endsechziger noch immer von der Bühne abstrahlen, bleibt auch kaum etwas anders übrig, als den alten Meistern die gebührende Reverenz zu erweisen. 


Es dürfte nicht viele Rockbands geben, die sich trauen, zur Konzerteröffnung ein fast 20-minütiges Stück zu spielen. Bei Neil Young & Crazy Horse hätte durchaus die Möglichkeit bestanden, dass es noch länger geworden wäre: „Driftin‘ Back“, der Opener ihrer letztjährigen Doppel-CD Psychedelic Pill, bringt es auf 27:37 Minuten. So ging es also zum Auftakt in der Kölner Lanxess-Arena mit „Love and Only Love“ auf die Reise in die Gefilde der elektrifizierten Gitarre, die Stimmung und Atmosphäre des Abends über weite Strecken prägte. Und Neil Young schafft es nach wie vor, ein Publikum in seinen Bann zu ziehen – mit seiner verlässlich rumpelnden Rock’n Roll-Maschine Crazy Horse im Rücken, für die weiterhin Ralph Molina einen knochentrockenen Beat trommelt, Billy Talbot den Bass rollen und wummern lässt und Frank „Poncho“ Sampredo an der Rhythmusgitarre die unverzichtbare Akkordarbeit für die oftmals weit ausholenden solistischen Ausflüge des Häuptlings leistet. 

Das Rockkonzert an sich wird in regelmäßigen Abständen für tot erklärt beziehungsweise als anachronistisches Überbleibsel aus dem letzten Jahrtausend abgestempelt. Das ist Nonsens – solange Musiker wie Neil Young & Crazy Horse live auf der Bühne in der Lage sind, einer scheinbar längst ausgereizten und bis in die letzten Verästelungen und Sub-Genres ausgespielten Musik wie dem Rock’n Roll Momente abzupressen, die man später als magisch in Erinnerung behalten wird, weil sie unmittelbar das zentrale Nervensystem treffen und „send a chill up and down my spine“, wie es in dem in Köln leider nicht gespielten „Tonight’s the Night“ heißt. Neil Youngs singende und sägende Stromgitarre kann solche Momente kreieren. 

Gitarrengewitter bis zum Anschlag und darüber hinaus
Nach „Love and Only Love“ hielten der nächste Klassiker „Powderfinger“ und das schnelle, für Crazy-Horse-Verhältnisse geradezu atemberaubend kurze Titelstück des aktuellen Albums „Psychedelic Pill“ Niveau und Stimmung hoch. Im Anschluss an das rund viertelstündige „Walk Like a Giant“ zog ein minutenlanges Geräusch-Gewitter inklusive Rückkoppelungen, Rauschen und abschließender Einspielung der „No Rain“-Chöre aus seligen Woodstock-Tagen durch die Halle. Es gibt eben in Konzerten den ganzen Neil Young, und der stellt nicht einfach ein Best-of zusammen, sondern auch sein Publikum auf die Probe. 

Das hatte er im Übrigen auch schon bei der ziemlich in die Länge gezogenen Eröffnungszeremonie vor Konzertbeginn getan. Nachdem die sehr ansprechende Vorgruppe Okta Logue ihren Set beendet hatte, wuselten als Pausenfüller vor dem main act ein Haufen als verrückte Wissenschaftler beziehungsweise als Bauarbeiter verkleidete Figuren über die Bühne und taten so, als ob sie den Umbau betreiben würden. Als es dann endlich losging und die vier Matadore die Bühne betraten, kam noch ein musikalisches Vorspiel aus der Konserve hinzu: „A Day In the Life“ von den Beatles sowie deutsche Nationalhymne samt Fahne; da hieß es dann Hand aufs Herz für Band, Bauarbeiter und mad scientists. Humor ist bekanntlich eine Wissenschaft, und die Neil Young & Crazy Horse eigene Spielart ist, höflich formuliert, nicht gerade selbsterklärend. 

Im Unterschied dazu gehören die Geräuschattacken nach „Walk Like a Giant“, bei der manche Zuschauer ebenfalls deutlich irritiert reagierten, seit je zum Crazy-Horse-Kosmos dazu. Sie erinnern auch daran, warum Neil Young ein über alle Grenzen von Rock, Folk, Country, Alternative et cetera respektierter Künstler ist. Diese Klangkaskaden und -wellen hätten sich auch anerkannten Führungskräften der Noise- und Experimental-Szene wie beispielsweise Sonic Youth, My Bloody Valentine oder den Butthole Surfers zuordnen lassen. Man kann es auch strukturierten Lärm nennen. 

Kontrastprogramm von „Heart of Gold“ bis „Into the Black“
Dass darauf das denkbar größte musikalische Kontrastprogramm folgte, ist in der Logik der Youngschen Konzertdramaturgie nur konsequent. Harmonisch wohltönend und mit astreinem Chorgesang markierten die vier mit „Hole In the Sky“ den Schwenk zum Folk-Rock, quasi als Vorspiel zu einem akustischen Solo-Set, den Young mit unverstärkter Gitarre und Mundharmonika absolvierte. Auch das gehört zum ganzen Neil Young. Und so wurde die Arena bei „Heart of Gold“ und „Blowin‘ In the Wind“ kurzfristig zur Kathedrale mit tausendstimmigem Chor. Diesen Teil der Fans hätte man doch gerne einmal empirisch befragt, wie sie das Feedback-Gewitter ein paar Minuten zuvor ge- bzw. empfunden hatten – but seriously, folks! 

An den folgenden rund 15, wieder in elektrifizierter Bandbesetzung gespielten Minuten von „Ramada Inn“, mit seinem Rückblick auf die ups and downs eines nicht mehr ganz so jungen Lebens, dürften die recht zahlreichen schon in Ehren ergrauten Fans nichts auszusetzen gehabt haben. Leider flog danach der bis dahin überraschend passable Hallensound beim Cowpunk-Kracher „Cinnamon Girl“ und dem schnellen Hardrock-Stampfer „Sedan Delivery“ etwas auseinander. Beides Stücke, von denen man noch die großartigen Versionen der famosen Live Rust-LP im Ohr hatte. Dafür kam bei einem anderen Live Rust-Höhepunkt wieder Rockkathedralen-Stimmung auf: „Hey Hey, My My (Into The Black)“, druckvoll und wuchtig wie eh und je, entfaltete als letzter Song des regulären Sets mit seinen stark verzerrten Gitarren einmal mehr eine unwiderstehliche Sogwirkung. 

Viele gute Wünsche 
Das darob erneut enthusiasmierte Publikum erklatschte sich eine Zugabe von drei weiteren Stücken. Mit „Everybody Knows This Is Nowhere“ aus dem Jahr 1969 beendeten die vier den Abend formvollendet. In den Zugabenteil eingebaut hatte Neil Young noch eine von der Gitarre unterlegte Verabschiedung des Publikums: Aufpassen beim Nachhauseweg, gute Wünsche für Kind & Kegel und für die Sitzplatzbesucher den Tipp, nix unter den Sitzen liegen zu lassen. Nach getaner, mehr als zweistündiger Arbeit gab’s dann auch ein Lächeln ins Publikum, Verbeugungen im minutenlangen Applaus und Tschüss. Und es bleibt festzuhalten, dass sie zwei ihrer allergrößten Stücke, „Like a Hurricane“ und „Cortez the Killer“, von denen man sich zumindest eines in der Zugabe gewünscht hätte, nicht gespielt haben.

Es bleibt aber auch zu hoffen, dass die derzeit laufende „Alchemy-Tour“ noch nicht die Abschiedsvorstellung von Neil Young & Crazy Horse ist, wenngleich Frank Sampredo in Interviews vor Tourbeginn entsprechende Andeutungen gemacht hatte. Sicher, die Nahaufnahmen auf den beiden großen, über der Bühne aufgehängten Monitoren zeigten, dass sie nicht mehr die Jüngsten sind und die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. Ralph Molina und Billy Talbot werden dieses Jahr siebzig. Doch die Vitalität und Energie, die die Musik der vier an diesem Abend abstrahlte, lässt nicht vermuten, dass sie sich alsbald zur Ruhe setzen werden. Rock’n Roller dieses Kalibers gehen nicht einfach so in Rente mit 67. 

(16.07.2013, www.kultur-in-bonn.de)

Setliste Neil Young & Crazy Horse, Köln Lanxess Arena 12. Juli 2013:

Love And Only Love
Powderfinger
Psychedelic Pill
Walk Like A Giant
Hole In The Sky
Red Sun
Heart of Gold
Blowin' In The Wind
Singer Without A Song
Ramada Inn
Cinnamon Girl
Sedan Delivery
Mr. Soul
Hey Hey, My My (Into The Black)
--- Zugabe ---
Surfer Joe & Moe The Sleaze
Roll Another Number
Everybody Knows This Is Nowhere

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PS: Nicht versäumen möchte ich, die Vorgruppe Okta Logue zu preisen. Die vier noch recht jungen Musiker aus Frankfurt und Darmstadt zeigten in Köln, warum sie für ihre bisher zwei Alben viel Lob in der Fachpresse bekommen haben, und spielten ohne Angst vor großem Namen oder großer Kulisse ihren an Psychedelic und Progressive Rock der späten 1960er-Jahre orientierten Set. Okta Logue trauen sich auch längere Stücke zu, die sie mit wechselnden Sounds und Klangfarben von Keyboards und Leadgitarre ebenso abwechslungs- wie spannungsreich zu gestalten wissen. Dafür gab es zur Verabschiedung zu Recht großen Beifall. Im Dezember sind sie mit komplettem Program im Kölner Luxor zu sehen und zu hören.

PPS: Und die Gelegenheit, auf einen der größten und besten langen Rock-Jams hinzuweisen, möchte ich auch noch mitnehmen: „Carry On“, 1971 von Crosby, Stills, Nash und Young (CSN&Y) für das Live-Album 4 Way Street eingespielt. Bei aller Ehrfurcht vor Neil Young muss auch einmal Platz sein, den häufig unterbewerteten Stephen Stills zu loben. Der hat nicht nur mit seiner späteren Band Manassas tolle Musik gemacht, sondern auch einige der herausragenden CSN(&Y)-Stücke geschrieben, unter anderem „You Don’t Have to Cry“ und eben jenes fulminante „Carry On“. Das ist auf dem gemeinsamen Studioalbum Déjà Vu rund viereinhalb Minuten lang und wird in der 4 Way Street-Liveversion auf 13 Minuten ausgedehnt. Und es funktioniert einfach glänzend, weil die sich nicht immer grünen Herren Crosby, Stills, Nash und Young hier nicht nur den charakteristischen glockenreinen Chorgesang liefern, sondern beim Improvisieren mit bis zu vier Gitarren einander zuhören und sich die eingängigen Themen und Rhythmen gegenseitig nur so zufliegen lassen. 
 

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Festtagsstimmung

Konzert: The Dream Syndicate im Kölner Stadtgarten am 26.05.2013 

Zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug und Gesang können immer noch und immer mal wieder für herausragende Rock-Konzerte sorgen. Das reformierte Dream Syndicate gab im Kölner Stadtgarten eines von dieser Sorte – energetisch, treibend und spielfreudig. 


Bringen wir den naheliegenden Kalauer gleich hinter uns: Dass Steve Wynn 2012 den 30. Jahrestag der Veröffentlichung von The Days of Wine and Roses zum Anlass genommen hat, The Dream Syndicate nach über zwanzig Jahren wieder ins Leben zu rufen, ist für alle Beteiligten eine Wynn-Wynn-Situation. Das Album zählt längst zu den kanonisierten Klassikern des Alternative Rock, Sparte Paisley Underground, und verdient es, wieder zu Gehör gebracht zu werden. Wie andere 80er-Veteranen nutzen so auch Dream Syndicate ein Jubiläum, um wieder auf Tour zu gehen. Verbliebenes Gründungsmitglied neben Gitarrist und Leadsänger Wynn ist Schlagzeuger Dennis Duck. Nicht dabei aus der Urbesetzung sind Bassistin Kendra Smith und Leadgitarrist Karl Precoda, der längst seinen PhD gemacht hat und inzwischen als „Advanced Instructor, Cinema Studies“ an der Virginia Tech-Universität tätig ist. Karrieren gibt’s ...

Dafür stand adäquater Ersatz auf der Bühne des Stadtgartens. Mark Walton, der bereits 1984 den Bass von seiner Vorgängerin übernommen hatte, tat effektiv, was Bassisten gemeinhin tun: sich um den Roll im Rock‘n Roll kümmern. Jason Victor, schon seit 2001 in Wynns Begleitband The Miracle 3 aktiv, machte seine Sache als Duellpartner an Rhythmus- und Leadgitarre ebenfalls sehr gut, wenn sein Instrument nicht gerade mal kurzfristig im Mix verschwunden und kaum zu hören war. 

Hemden mit den coolen Paisley-Mustern trug im Übrigen keiner der vier. Dennis Duck musste allerdings ein paar freundliche Scherze des Bandchefs wegen seines T-Shirts über sich ergehen lassen, das den Schriftzug des legendären New Yorker CBGB-Clubs trägt. Der gilt als Nukleus des Punk und allerlei anderer Rock-Alternativen in den 70ern und 80ern und lässt bei der alten Garde immer eine gewisse Wehmut aufkommen. 

Rock mit Schlenkern, Haken und Ösen
Alles anderes als nostalgisch klang die Musik, die das reformierte Dream Syndicate auf die Bühne brachte. Steve Wynn ist ein äußerst einfallsreicher Songwriter und Gitarrist, der das Strophe-Refrain-Solo-Muster gerne variiert und ausbaut. Seine Stücke basieren auf den üblichen Kadenzen, doch ist er immer in der Lage, überraschende, unvermutete Schlenker, Haken und Ösen einzubauen – hier ein Lick der Gitarre, da ein Break, um dem Song eine andere Richtung zu geben – oder mehrere Gitarrenlinien übereinander zu schichten. Differenzierter und gleichzeitig kraftvoller Rock‘n Roll, meist im mittleren bis schnelleren Tempobereich angesiedelt, der Melodiöses mit Verzerrtem und Dissonantem, Folk- mit Garage und Psychedelic Rock mixt, so ungefähr kann man sich Dream Syndicates Spielart des Paisley Underground vorstellen. Zu den gitarristischen Ahnen zählt überdies Neil Young. Ähnlich wie der Übervater, der gleich mehrere Rock-Generationen beeinflusst hat, zieht, zerrt und dehnt Wynn gerne mal die Töne (und gelegentlich auch die Stücke) in die Länge. 

The Dream Syndicate ließen im Stadtgarten keine Wünsche offen. Neben den Days of Wine and Roses stand ihr zweites Album The Medicine Show im Mittelpunkt, inklusive des Titelstücks, dessen Refrain an diesem Sonntag vom durchweg begeisterten Publikum im Chor mitgesungen wurde. In der Zugabe dann das lautstark geforderte "When You Smile", balladesk, schön schräg mit Feedback versetzt und an einen weiteren Haupteinfluss (The Velvet Underground) erinnernd. Zum Ausklang kam wie erwartet ihr langer, collagenhafter Jam "John Coltrane Stereo Blues", in den sie – Stichwort unverhoffter Schlenker – offensichtlich als Reverenz an den wenige Tage zuvor verstorbenen Doors-Keyboarder Ray Manzarek einige Takte aus "Break on Through to the Other Side" einbauten. Das Zentrum des Stereo Blues bildeten die beiden Gitarren von Steve Wynn und Jason Victor, deren Linien und Geräuschkaskaden tatsächlich sehr improvisiert und „free“ klangen, wenngleich weniger an John Coltrane als an die Kollegen Lee Ranaldo und Thurston Moore von Sonic Youth denken ließen, wenn diese mit ihren Instrumenten und Effektgeräten neue Noise- und Feedback-Gefilde erkundeten. 

„Die Zukunft des Rock’n Roll liegt in der Vergangenheit“
"John Coltrane Stereo Blues" ist konzertdramaturgisch ein perfekter Abschluss. Danach konnte nichts mehr kommen – obwohl Material genug vorhanden wäre, sowohl aus dem weiteren Dream-Syndicate-Repertoire als auch aus Steve Wynns Solo-Werk. Glücklicherweise tourt der Mann seit Jahren fleißig und dürfte Köln bald wieder eine Visite abstatten. Ein paar mehr Zuschauer als im ordentlich, aber nicht gut gefüllten Stadtgarten könnten es dann allerdings schon sein. 

Bleibt zu hoffen, dass auch andere Veteranen aus dem Alternative-Sektor, die ähnlich wie Dream Syndicate und Steve Wynn Blues und Rock’n Roll neu zusammensetzten und mit diversen anderen musikalischen Bezügen von Country über Folk bis (Post-)Punk anreicherten, noch einmal den Weg auf die Bühne finden, allen voran die großartigen Green on Red (Gas Food Lodging, 1985) und Long Ryders (State of Our Union, 1985). Es ist schon ein Jammer, dass Steve Wynn, Chris Cacavas, Chuck Prophet, Sid Griffin & Co. zu den großen Unterbewerteten der Rockgeschichte gehören. 

(29.05.2013, www.kultur-in-bonn.de)
 

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Die wunderbare Welt des Pop

Konzert: Erdmöbel im Kölner Gloria am 09.12.2011

Zum Abschluss ihrer „Retrospektive“-Tournee spielten Erdmöbel im Kölner „Gloria“. Ein stark beklatschter Auftritt einer Band, die offensichtlich nichts verkehrt machen kann. 


Es hilft Musikern nicht unbedingt, wenn sie als Kritikerlieblinge oder in Kollegenkreisen hochgeschätzte „musicians’ musicians“ gelten. Viele Hörer übersetzen solche Attribute mit „zu kompliziert, zu verkopft“. Nicht so in Erdmöbels (Wahl-)Heimatstadt. So viele Feuilletonautoren kann es selbst in der Medienmetropole Köln gar nicht geben, dass sie allein das an diesem Freitagabend gut besuchte „Gloria“ hätten füllen können. 

Keine Frage: Erdmöbel werden vom Heimpublikum geliebt, trotz oder gerade wegen ihrer künstlerisch anspruchsvollen Verbindung von Wort und Musik, und obwohl sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie eine Hymne auf den 1. FC Köln schreiben werden. An Fußball ist ihr wortmächtiger Texter, Sänger und Gitarrist Markus Berges eher weniger interessiert, wie er unlängst bei einem Erdmöbel-Liveauftritt in Arnd Zeiglers Küche im Rahmen der Fernsehsendung „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ bekannte. 

Dafür ist Arnd Zeigler offensichtlich umso mehr an Popmusik interessiert. Als Stargast des Abends legte er bei der Aftershow-Party im „Gloria“ Platten auf – unter dem nicht völlig überraschenden Motto „Zeiglers wunderbare Welt des Pop“. Dass diese Popmusikwelt tatsächlich ganz wunderbare Momente hat, demonstrierten Erdmöbel während ihres rund zweistündigen Auftritts nachdrücklich. Verstärkt wurden Markus Berges, Produzent Ekki Maas (E-Bass, Gesang), Wolfgang Proppe (Tasten und Gesang) und Christian Wübben (Schlagzeug und Gesang) dabei vom bewährten Live-Posaunisten Henning Beckmann. 

Hotel Erdmöbel
Vor Beginn der Live-Darbietung hatte es zur Einstimmung den viertelstündigen Kurzspielfilm Das Senatshotel gegeben, in dem die vier Bandmitglieder eine Art Hotel Erdmöbel betreiben und Liedzeilen aus ihren Stücken lippensynchron in die Dia- und Monologe der Gäste eingeflochten werden. Ein witzige Fingerübung im Stil von Alain Resnais’ Das Leben ist ein Chanson (der darin wiederum Jacques Demys Die Regenschirme von Cherbourg und Die Mädchen von Rochefort zitiert), die im Übrigen auch im Erdmöbel-Kanal auf youtube zu besichtigen ist. 

Mit einer naheliegenden Begrüßung leitete Markus Berges dann über zum musikalischen Teil des Abends: „Hallo Mitbewohner!“ Es folgte ein sehr unterhaltsamer Streifzug durch 16 Jahre Bandgeschichte, entlang der Titelliste des aktuellen Best-of-Albums Retrospektive. Einflüsse, die sich in dieser Musik wiederfinden, gibt es zuhauf. Eine verschwindend geringe Rolle spielt darunter der klassische Rock – aber zwei, drei schnellere Pop-Stampfer im durchgeklopften 4/4-Takt waren schon dabei, wie das umjubelte Erster Erster mit seinem hymnischen, eingängigen Refrain. 

Abwechslungsreicher Stilmix 
Erdmöbels Konzept-Popmusik hat ihre Wurzeln unter anderem in der Zeit der großen Konzeptalben, und so wehte auch der eine oder andere Beatles-Anklang durch die Melodien. Im Unterschied zum Auftritt vor etwas mehr als einem Jahr an gleicher Stelle war ein höherer Anteil an leichtfüßigen, poppigen Stücken zu registrieren, die eher der Singer/Songwriter-Tradition zuzurechnen sind. Herausragend hierbei die Coverversion des Gilbert O’Sullivan-Songs Alone Again (Naturally), zu Deutsch konsequent Wieder Allein (Natürlich) betextet. An einer deutschen Fassung des Liedes habe sich in den 70er-Jahren auch Rudi Carrell schon einmal versucht, so Ekki Maas, jedoch: „Unsere Version ist besser!“ 

Zu den weiteren Zutaten ihrer ausgefeilten und bisweilen sperrigen kleinen Kunstwerke gehören neben Versatzstücken aus Film- und Fernsehmusiken auch lateinamerikanische Stile wie Bossa Nova, und nicht zuletzt Soul und Jazz. Die Klangfarbe der im Pop-Umfeld nicht so stark verbreiteten Posaune passt zu diesem Stilmix anscheinend perfekt und wirkt wie ein organischer Teil des Band-Sounds. Die Spielarten elektronischer Musik sind an Erdmöbel ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen; sachkundige Konzertbesucher identifizierten beispielsweise eine „Scooter“-Parodie. 

Und keine Erdmöbel-Besprechung ohne gesonderten Hinweis auf die Qualität der Texte: Markus Berges hat in der Tat eine außergewöhnliche Begabung, von der im Konzert Titel wie Ausstellung über das Glück im Hygienemuseum Dresden, In den Schuhen von Audrey Hepburn, Wort ist das falsche Wort, 77ste Liebe, Lied über gar nichts und natürlich das Vergnügungslokal mit Weinzwang Zeugnis ablegten: „Ich lachte mal / eine Nacht lang / in einem Vergnügungslokal / mit Weinzwang“. Was sie tun, hat Hand und Fuß, Stil und Klasse, und wirkt wie aus einem Guss. Erdmöbel liegen fast immer richtig.

Gutes Publikum, schlechtes Publikum
Probleme verursachte an diesem Abend nur eine Gruppe von Besuchern – die Bezeichnung Zuhörer wäre unangemessen –, die bei dieser Veranstaltung offensichtlich fehl am Platze waren und sich mit einer Ausdauer und in einer Lautstärke unterhielten, die insbesondere während einiger ruhiger, getragener und sparsam instrumentierter Stücke, zu denen die Band am Bühnenrand auf Stühlen Platz genommen hatte, für eine extrem aufdringliche Geräuschkulisse sorgte. In einem nicht allzu großen Club wie dem „Gloria“ versendet sich so etwas nicht, sondern hängt wie ein lästiger Fliegenschwarm in der Luft. Immerhin gelang es der großen Mehrheit der nicht zum Plappern, sondern wegen der Band zum Konzert gekommenen Zuhörer/innen nach einer Weile, die Schwätzer mit gezielten „Schhh!“-Zischattacken zum Schweigen zu bringen. Man hätte sie ja auch schlecht alle ver(erd)möbeln oder auf den nahe gelegenen Weihnachtsmarkt expedieren können, von dessen Besuch Ekki Maas zuvor in einer Ansage abgeraten hatte: „Geht da nicht hin!“ 

Abgesehen von dieser Episode präsentierte sich das Publikum genauso textsicher und kompetent wie im Jahr zuvor. Souverän meisterte der Zuschauerchor das Lied über gar nichts, und die inzwischen zum Erdmöbel-Standard gewordene Coverversion von Burt Bacharachs Close To You namens Nah bei dir sangen die „Fischer-Chöre“ (Markus Berges) ohne Bandbegleitung minutenlang weiter, bis die vier plus eins zur zweiten Zugabe wieder auf die Bühne kamen. Und zum passenden Abschluss Ich will gute Erinnerungen haben spielten. 

Wer’s verpasst hat oder seine Erinnerung überprüfen möchte, kann das Konzert aus dem „Gloria“ übrigens im Radio nachhören. Am 22. Januar 2012 sendet WDR Funkhaus Europa einen Mitschnitt. 

(13.12.2011, www.choices.de)
 
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Ins Schwarze getroffen: Das große 80er-Veteranentreffen

„Sinner’s Day“ am 31.10.2010 in der Ethias Arena in Hasselt (Belgien). Mit den Psychedelic Furs, Heaven 17, Echo and The Bunnymen, The Fall, U.K. Subs, Marky Ramones Blitzkrieg, Jah Wobble, Marc Almond u.a.


Ein grauer und verregneter Sonntagmorgen am Reformationstag der Evangelen scheint bestens zu einer Veranstaltung zu passen, die sich Sinner‘s Day nennt. Allerdings wirkt das trübe Wetter nicht unbedingt aktivitätsfördernd, und so geht’s eine halbe Stunde später als geplant auf die Autobahn. Das rächt sich sofort: Zwei Staus an Baustellen auf der A4 sorgen dafür, dass das Auftaktkonzert von Red Lorry Yellow Lorry beim Eintreffen in der Halle um Viertel nach Eins schon beendet ist. Ärgerlich, aber zu verschmerzen, da ich die Band bereits einmal zu ihren Glanzzeiten 1988 live gesehen hatte (Nach einer Veranstaltung wie dem Sinner‘s Day konsultiert man geradezu zwanghaft den Schuhkarton mit den uralten Eintrittskarten). Ihren charakteristisch düsteren, moll-lastigen Dröhn-Sound aus zwei Gitarren dürften sie auch in Hasselt 2010 zum Besten gegeben haben. Sicher wird noch der eine oder andere Konzert-Clip von diesem Gig bei YouTube veröffentlicht werden und die Möglichkeit geben, diese ungesicherte Information zu überprüfen.

Auf zwei Bühnen verteilt traten 17 Bands beziehungsweise Solokünstler mit Bandunterstützung auf. Die Zeitpläne für „Main Stage“ und „Club Stage“ wurden, wie sich schon bei den Lorries angedeutet hatte, fast auf die Minute genau eingehalten. Bis 18.15 Uhr hieß das eine Dreiviertelstunde pro Auftritt plus 30 Minuten Umbaupause je Bühne, danach jeweils eine Stunde Spielzeit mit anschließendem Umbau. Befürchtungen, die kleine Club-Halle mit etwa 3000 Stehplätzen könnte für Acts wie The Fall und die Psychedelic Furs zu klein sein und zur Sardinenbüchse werden, sollten sich nicht bestätigen. Die Ethias Arena bietet genügend Auslaufzonen, so dass sich die mehr als 10.000 Besucher ohne Staus und Stockungen gut verteilen. Wir sind hier schließlich nicht auf der A4. 

Die meisten Zuschauer/innen befinden sich irgendwo zwischen 40 und 50, aber erfreulicherweise lassen sich auch eine Reihe jüngerer Gesichter ausmachen, ohne die Festivals wie dieses keine große Zukunft haben dürften. Generationenübergreifende Klamottengrundfarbe Schwarz in diversen Abstufungen, viele – um es höflich zu formulieren – pflegeleichte Ganzkurzhaarfrisuren bei den (älteren) Herren, geschlechterunabhängig kaum Iros und nur wenige „ungustiöse New-Wave-Frisuren“ bei den Damen. Und ein Tusch für Max Goldt, der die schöne Wendung mit den ungustiösen New-Wave-Frisuren erfunden hat. Er hätte übrigens mit seinem NeueDeutscheWelle-Duo Foyer des Arts auch gut in das Line-Up für eine solche Veranstaltung gepasst. 

Das mir unbekannte belgische Trio Poésie Noire (Zwei Männer, eine Frau, wechselnder Lead-Gesang) eröffnete dann den Nachmittag auf der Hauptbühne. Belgien war/ist, insbesondere vertreten durch Front 242, eines der Zentren des Industrial Sound und der so genannten Electronic Body Music, und da würde ich Poésie Noire auch verorten, irgendwo zwischen Front 242 und Anne Clarke. Viel aggressives Basswummern aus Synthesizer und Sequenzer, direkt aufs Bauchfell gezielt. Eine Erinnerung daran, dass es Essenszeit ist und eine erste Nahrungsaufnahme im weitläufigen Catering-Bereich fällig wird. Zu den in etwa zeitgleich spielenden Department S kann ich daher nichts sagen und verweise auf entsprechende Internetseiten. 

Auf der großen Bühne ging es dann mit den U.K. Subs weiter, einer britischen Punk-Band der ersten Stunde, 1976 gegründet. Aus der Originalbesetzung ist nur noch der mittlerweile 66-jährige Sänger Charlie Harper übrig geblieben, und eine seiner Ansagen macht vielleicht am besten deutlich, wie sehr sich die Zeiten im Musikgeschäft geändert haben. Nachdem er einen Schluck aus einem Becher Mineralwasser genommen hat, erklärt er diese für ihn offensichtlich recht ungewohnte Form der Flüssigkeitsaufnahme mit einem bedauernden Grinsen: „No beer on stage!“ Das könnte man jetzt im Boulevardpresse-Schlagzeilen-Stil kommentieren: WAS HAT DAS NOCH MIT PUNK ZU TUN?? Bier her, oder … Bier hin, der Auftritt der U.K. Subs war ganz nett, eben Rumpelpunk mit knüppelndem Schlagzeug. Besser als Schunkelpunk mit Marschtrommel. 

Hinüber zur Club-Stage, wo der bis dato interessanteste Auftritt stattfand. Jah Wobble, den meisten aus seiner Zeit mit John Lydon und Public Image Ltd., kurz PIL bekannt, gab eine ziemlich wilde weltmusikalische Crossover-Mixtur zum Besten, zu deren Hauptbestandteilen Reggae und traditionelle japanische Klänge gehörten, gespielt auf traditionellen japanischen Instrumenten, deren Namen ich nachschlagen musste. Die Flöte heißt Shakuhachi, das Zither-ähnliche Saiteninstrument Koto, hinzu gesellte sich eine Batterie von Perkussionsinstrumenten. Des Weiteren eine E-Gitarre, ein herkömmliches Schlagzeug und Wobble himself am E-Bass. Bis zu acht Musikerinnen und Musiker standen auf der Bühne, auch hier wechselte der Lead-Gesang zwischen zwei Sängerinnen und Meister Wobble. Der übrigens einen ziemlich derben Akzent hat, so dass von seinen diversen Ansagen wenig haften blieb. Vermutlich handelte es sich um einführende, erklärende Worte zu den Stücken, so wie es bei Konzerten von Neutönern inzwischen üblich ist, das Publikum auf das möglicherweise Ungewohnte vorzubereiten, das ihm gleich zu Gehör gebracht wird. Nützte aber nur bedingt etwas, eine Reihe von Leuten konnten mit Jah Wobbles „Japanese Dub“ nichts anfangen und verließen den Saal. Die wichtigste Erkenntnis aus diesem Konzert: Ein E-Bass muss nicht unbedingt hell und funky klingen, auch die eher dunklen Klänge aus Jah Wobbles Instrument vermögen im Verein mit dem typischen Reggae-Schlagzeug den Bewegungsapparat des Zuhörers zu überzeugen. 

Nach diesem etwas aus dem sonstigen Rahmen fallenden Auftritt folgte auf der Hauptbühne das denkbar größte Kontrastprogramm mit dem spaßigsten Gig des Tages: Marky Ramones Blitzkrieg, Abteilung beschleunigter Rumpelpunk mit Knüppelschlagzeug. Der 54-jährige Marky Ramone gehörte zwar nicht zur Gründungsbesetzung der legendären Ramones, ist aber so etwas wie der letzte Mohikaner aus der klassischen Phase Ende der 70er/Anfang der 80er, nachdem seine drei Kollegen Joey, Johnny und DeeDee zwischen 2001 und 2004 das Zeitliche gesegnet haben. Ihre in löchrige Leder- und Jeansklamotten gewandeten Klone auf der Bühne gaben drei ungefähr halb so alte Musiker, die zum holzenden Schlagzeug und den Ramones-typischen „One-Two-Three-Four!“-Ansagen von Marky Ramone den vertrauten lauten Krachsound mit verzerrter, Akkorde dreschender Gitarre und meist in Grundton-Nähe rollendem Bass reproduzierten. Sänger Michale (Künstlername, kein Buchstabendreher) Graves turnte munter auf der Bühne herum und erinnerte weniger stimmlich als mit Sprüngen und staksigen Schritten an Joey Ramone. Natürlich gab’s ein Best-of, unter anderem mit Blitzkrieg Bop, Sheena is a Punk Rocker, Judy is a Punk, Cretin Hop, Teenage Lobotomy, Havanna, Commando, I Don’t Wanna Walk Around With You, Pinhead (“gabba-gabba-hey”), Do You Remember Rock’n Roll Radio und Rock’n Roll Highschool sowie einer Version von Louis Armstrongs It’s A Wonderful World

Das alles in einer Dreiviertelstunde heruntergespielt, was automatisch Erinnerungen an das hoch geschätzte Doppelalbum It’s Alive weckte, das am Silvestertag 1977 in London (noch mit Marky Ramones‘ Vorgänger Tommy am Schlagzeug) entstand und in knapp einer Stunde Spielzeit 28 Songs versammelt. Pikante Fußnote: Wie erst sehr viel später herauskam, wurden Gesang sowie sämtliche Gitarren- und Bassspuren dieses „Live“-Albums im Studio neu aufgenommen. Was dem Spaß aber keinen Abbruch tut. Dass diese ganzen alten Stücke immer noch so gute Laune wie in Hasselt verbreiten, liegt nicht zuletzt an einer nicht unbedingt Punk-typischen Eigenschaft: Sie haben – Widerspruch in sich – jedes für sich unverwechselbare, eingängige Melodien, obwohl der Ramones-Sound doch eigentlich immer gleich klingt. One-Two-Three-Four ...

Nach der Ramones-Wiederauferstehung blieb noch kurz Zeit, um auf der kleinen Bühne eine Viertelstunde der Schweizer Young Gods mitzunehmen. Düster-Indie beziehungsweise Industrial Rock mit Gesang, Synthie, Sampler und Schlagzeug, aber für eine faire Beurteilung reichen zweieinhalb Songs nicht aus. Zudem stand danach ein ausgiebiger erster Meinungsaustausch mit den Sinnern und Sinnerinnen aus Bonn an, die inzwischen ebenfalls eingetroffen waren. Daher kann ich zu dem belgischen Trio Arbeid Adelt! nicht viel sagen, außer dass es stilistisch und klanglich an ähnlicher Stelle einzuordnen ist wie Poésie Noire. Bei The Kids, die etwas später auf der kleinen Bühne begannen und den Hörstichproben nach zu urteilen einen recht munteren Punk-Rock-Set hinlegten, scheint es sich um ziemlich beliebte belgische Lokalmatadoren zu handeln. Sie ersetzten kurzfristig das ursprünglich angekündigte britische Punk- und Gothic-Urgestein The Damned, deren Sänger Dave Vanian wegen Rückenproblemen passen musste. RÜCKENPROBLEME? WAS HAT DAS NOCH MIT PUNK ZU TUN?? 

Die nächste Band hatte jedenfalls gar nichts damit zu tun. Und im Gegensatz zu seinem Haaransatz ist der Stimmumfang bei Heaven 17-Sänger Glenn Gregory noch kein bisschen zurückgegangen. Seine klare, wohl klingende Stimme schraubt sich bei Bedarf immer noch scheinbar mühelos in die Höhe. Flankiert wurde er auf der Bühne von der stimmgewaltigen, kongenialen Sängerin Billie Godfrey. Heaven 17, 1980 aus dem Split der Human League hervorgegangen, werden meist dem Synthie-Pop zugerechnet. Das geht im Großen und Ganzen in Ordnung, doch hat Songwriter Martyn Ware in seinen Kompositionen auf abwechslungsreiche Weise unterschiedlichste stilistische Elemente verarbeitet. Gerade live zeigt sich, wie viel Soul und Funk in manchen Stücken steckt, speziell im Opener Fascist Groove Thang und den anschließenden Play To Win und Penthouse & Pavement vom kanonisierten gleichnamigen Debütalbum. E-Bass und elektronisches Schlagzeug unterstrichen den tanzbaren Charakter solcher Stücke. 

Ohne Spannungsabfall folgten die ruhigeren, von den Keyboards geprägten Balladen Geisha Boys & Temple Girls (da klingelt‘s auch ein bisschen fernöstlich), Let Me Go und Come Live With Me. Refrains und einzelne Zeilen der Songtexte haben sich gut im Langzeitgedächtnis gehalten, man ertappte sich des Öfteren beim Mitsingen. Insbesondere beim grandiosen, streckenweise Gänsehaut hervorrufenden Finale mit dem größten H17-Hit Temptation und einem der düsteren Synthiepop-Gassenhauer überhaupt: Being Boiled, von Martyn Ware und Ian Craig Marsh 1978 für ihre damalige Band Human League geschrieben. Bei beiden Stücken warf Martyn Ware mächtige Synthie-/Keyboard-Druckwellen durch die Halle, ähnlich wie es in diversen Spielarten des Rock betonschwere Gitarren tun würden. Ein intensives, musikalisch facettenreiches und ziemlich beeindruckendes Konzert. 

Dramaturgisch korrekt musste danach ein Absturz folgen. Den lieferte zuverlässig Mark E. Smith. Ich hatte lange geschwankt, welches Konzert denn nun das wichtigere sei, und mich angesichts des Zwischenstands von 2:0 für The Fall (1984 Köln/1988 Bonn, as later confirmed by Schuhkarton) dafür entschieden, dem bislang noch nicht live gesehenen Act den Vorzug zu geben. Außerdem hätte ich ja nach dem pünktlichen Ende des H17-Konzerts noch immerhin eine knappe halbe Stunde, also fast die komplette zweite Konzerthälfte Fall vor mir. 

Denkste. Beim Betreten der kleinen Club-Halle konnte man zwar noch das aus vielen Jahren und Platten vertraute, schräge bis schrille (Post-)Punk-Geschrammel und -Gesäge von The Fall vernehmen. Aber nur für rund drei Minuten, dann war Schluss. Mark E. Smith hatte offensichtlich keine Lust mehr. Und so, wie man den Sänger, Frontmann und Banddiktator in diesen paar Minuten erlebt hatte, über die Bühne schwankend, dem Publikum meist dem Rücken zukehrend und Satzfetzen sprechsingend, musste man wohl annehmen, dass er die Devise „No beer on stage“ zuvor durch ausgiebiges backstage beer unterlaufen hatte. Ein Eindruck, den zwei der größten Fall-Fans unter der (Bonner) Sonne, die sich das Konzert in voller Länge gegeben hatten, kurz darauf bestätigten: Musikalisch okay, aber was MES angehe, sei das ein Auftritt gewesen, den man nicht ernst nehmen und nur unter der Rubrik „Amüsement“ verbuchen könne. 

Konzerte von The Fall sind häufig Gratwanderungen dieser Art. Der Meister gilt als launisch – manche würden sagen: permanent schlecht gelaunt – und beratungsresistent. Angesichts der Verdienste von The Fall wollen wir aber an dieser Stelle gnädig den Mantel des WAS HEISST HIER VERDIENSTE?? WAS HABEN VERDIENSTE MIT PUNK …

Und jetzt wird’s ganz bitter, denn die nahe liegende Vorlage für die Überleitung zum nächsten Konzert darf nicht ausgelassen werden: Von Mark zu Marc. Bei Marc „Und die Hände / zum Himmel“ Almond handelt es sich offensichtlich um ein geglücktes Kryonik-Experiment: Stimme und Aussehen, als ob die Zeit irgendwann Ende der 80er stehen geblieben wäre. Der Empfang in Hasselt war ausgesprochen freundlich; seitdem er unter dem Titel Jacques ein Album mit Brel-Chansons herausgebracht hat, betrachten die Belgier ihn offensichtlich als einen der ihren. Ausgiebig mit den Händen arbeitend und das Bühnen-Rumpelstilzchen gebend, lieferte Almond neben Brel-Chansons (herausragend: The Devil/Le Diable) einen Querschnitt durch das eigene Werk. Die bisweilen übertrieben theatralisch wirkenden Gesten passen zu seinen dramatischen, teils zum Schwulst, teils zum Zirzensischen neigenden Pop-Balladen, von denen das natürlich auch in Hasselt gespielte Torch am bekanntesten sein dürfte. Die typische Atmosphäre eines Almond-Stücks fassen die Zeilen „Glamorous, beautiful, tragic and doomed“ aus dem ebenfalls dargebotenen Child Star hübsch zusammen. Geprägt wird das das Ganze durch einen mal Streicher, mal Bläser simulierenden orchestralen Keyboard-Sound oder den schlichten, aber genauso effektiven Konzertflügel. Die komplette Begleittruppe, zu der auch Bass, Gitarre und Schlagzeug gehörten, dürfte zu den handwerklich versiertesten des Tages gezählt haben. Gegen Ende des Sets erwies Almond dann noch einem anderen Einfluss Reverenz, als er seinen Titel Sleaze in Lou Reeds Walk On The Wild Side übergehen ließ.

The Selecter im kleinen Saal fielen danach größtenteils der Abendmahlzeit zum Opfer. Ausgehend von den letzten drei Stücken, darunter der recht bekannte Titelsong ihrer Debüt-LP Too Much Pressure, und der Stimmung im Publikum muss es ein ziemlich unterhaltsames Ska-Konzert mit reichlich Tanzgelegenheit gewesen sein.

Direkt im Anschluss an The Selecter fing auf der Main Stage das Konzert der Nina Hagen Band an. Dafür war allerdings keine Zeit, galt es doch die Umbaupause auf der Club Stage zu nutzen, um sich die besten Plätze für die Band zu sichern, wegen der man vor allem nach Hasselt gekommen war: Die Psychedelic Furs

Auch Richard Butler gehört zu den schauspielernden und entertainernden Sängern, die gerne mal einen Ausfallschritt auf der Bühne machen und ihre Texte mit ausladenden Gesten untermalen. Das unverwechselbare Markenzeichen ist jedoch seine – hier sei es ausnahmsweise einmal gestattet, den Sinner’s-Day-Pressetext zu zitieren, weil die Beschreibung auf Englisch so schön klingt – „great abrasive voice“. Mit dieser Mischung aus Schmirgelpapier und Rasierklinge hatten Mikrofon und PA allerdings so ihre Probleme; bisweilen übersteuert und verzerrt klang Butlers Organ über die Boxen. 

Das ist allerdings der einzige Kritikpunkt an einem Auftritt, der ansonsten alle hohen Erwartungen erfüllte. Denn die PsyFurs haben nicht nur einen Sänger mit Trademark-Stimme. Sie verfügen auch – als eine der wenigen Bands aus der New Wave-/Post-Punk-Phase, die ein Saxophon als tragendes Element einsetzen – über einen charakteristischen, eigenen Sound. Nachdem von den zwei Gitarren der Anfangsformation nur eine übrig geblieben ist, die inzwischen Richard Good anstelle von Gründungsmitglied John Ashton bedient, erhält das Horn noch mehr Spielraum. Saxophonist Mars Williams nutzte ihn bestens aus, um Akzente zu setzen, Melodielinien einzustreuen und bei Dumb Waiters, das wie gemalt ist für den Einsatz des Tenorsaxophons, in einem ausgedehnten Solopart die Bandbreite des Instruments vorzuführen. Es passt zu dem Teppich, den Good an der häufig mit Chorus-Effekten operierenden Gitarre und Amanda Kramer an den Keyboards legen, während Bassist und Butler-Bruder Tim sowie Schlagzeuger Paul Garisto die im mittleren bis schnellen Tempobereich angesiedelten Stücke rhythmisch souverän kontrollieren. 

Die PsyFurs boten an diesem Abend einen Querschnitt durch ihr Schaffen, angefangen von Dumb Waiters, dem Opener ihres grandiosen zweiten Albums Talk Talk Talk (bin Vinylbesitzer), bis zu einem dieser Sog-Stücke, die den Hörer hereinziehen und nicht mehr hinauslassen: India, mit langsamem Vorspiel von Gitarre und Schlagzeug, bis ein treibendes Riff einsetzt und den Song Richtung Refrain auf Touren bringt. Dazwischen natürlich der größte Hit Pretty in Pink von TTT, außerdem Heaven, President Gas, Sister Europe, Love My Way, Heartbeat und Highwire Days.

Nach einer Stunde war zeitplangemäß Schluss. So konnte man anfangen, eine Liste der Songs zu erstellen, die man auch gern noch gehört hätte. Etwa weitere Favoriten von TTT wie So Run Down und It Goes On, oder We Love You, Mack The Knife, Valentine, All That Money Wants, das Lied über die seltsame Susi Susan‘s Strange, Imitation of Christ usw. usf. ... Es bleibt zu hoffen, dass die PsyFurs in absehbarer Zeit auch für einen Soloauftritt auf den Kontinent kommen. In den Wochen vor ihrem Gig in Hasselt hatten sie eine Reihe von Shows in Großbritannien gespielt, die in jeweils zwei Teile zerfielen: Zunächst das Meisterwerk TTT in voller Länge, nach der Pause ein best of the rest. Gemessen an dem Zuspruch, den die Band in Hasselt erhielt, müsste auch genügend Nachfrage für ein solches Konzert auf belgischem Boden bestehen. Dann sollte sich doch in Brüssel oder anderswo eine geeignete Location dafür finden lassen. 

Auf ihre Weise ist also die New Wave/Post-Punk-Musik, die zwischen 1980 und 1982 ihre wohl intensivste Phase hatte, gleichwohl unter dem Signet „Indie“ in den 80er-Jahren fortdauerte und bis in die Gegenwart hinein (nach-)wirkt, inzwischen kanonisierte Pop-Klassik. Und selbstredend hat es auch etwas mit dem Zwang zum Geldverdienen und einer vorhandenen Nachfrage zu tun, wenn heutzutage Sonic Youth auf Tournee gehen, um ihr Opus Magnum Daydream Nation aus dem Jahr 1988 live in voller Länge zu präsentieren, und Heaven 17 mit Penthouse & Pavement (1980), die Schrammelrock-Weltmeister Wedding Present mit Bizarro (1989) oder eben die Psychdelic Furs mit Talk Talk Talk (1981) Gleiches tun. 

Die Praxis, Paradestücke des New Wave-Zeitalters live auf der Bühne zu präsentieren, hat fraglos etwas Zweischneidiges. Einerseits bedeutet sie das Eingeständnis, dass der kreative Zenit überschritten ist und nichts grundlegend Neues beziehungsweise Besseres mehr zu erwarten ist. Andererseits spricht nichts dagegen, Gutes wieder zu Gehör zu bringen. Ähnlich verfahren seit je klassische Orchester, die die kanonisierten Meisterwerke von Mozart, Beethoven, Mahler & Co. immer wieder aufführen, weil es ein Publikum dafür gibt – und ihre Programme meist geschickt mischen, um neben dem kanonisierten Repertoire-Stück, das als Köder dient, weniger Bekanntes der Meister und weniger bis gar nicht Bekanntes von weniger bis gar nicht bekannten und zeitgenössischen Komponisten aufführen zu können. 

Auch Echo & The Bunnymen, die vorletzte Band des Abends in Hasselt, wollen zwei ihrer Klassiker in voller Länge wieder auf die Bühne bringen. Angekündigt war für Dezember 2010 eine Tour (vermutlich hauptsächlich durch Großbritannien) mit Crocodiles (1980) und Heaven Up Here (1981), zwei Alben, die zum Erinnerungswürdigsten gehören, das die Ära hervorgebracht hat. Eher befremdlich wirkte allerdings, wie Echo & The Bunnymen nun Rescue und Villiers Terrace in Hasselt interpretierten, gerade wenn man die klare, transparente und sparsame Produktion der Originalaufnahmen von Crocodiles (und der Peel-Session-Version von Villiers Terrace) im Ohr hat. Mit fettem Breitwanst-Sound aus zwei Gitarren plus Keyboards waren die Stücke kaum wiederzuerkennen. 

Danach ließen sie es etwas ruhiger angehen und spielten neueres, mir nicht geläufiges Material. Nach einer Weile kam wieder mehr Gitarrendonner auf, unter anderem boten sie All My Colours von Heaven Up Here in einer ziemlich schroffen, lärmigen Version, um dann ihr kommerziell erfolgreichstes Stück The Killing Moon so darzubieten, wie man’s kennt. Erwähnenswert außerdem noch The Cutter, ebenfalls eines ihrer größeren Hits. Unter dem Strich ein in seiner Qualität schwankender, nicht ganz überzeugender Auftritt. Vielleicht üben und überlegen sie ja noch, wie sie Crocodiles und Heaven Up Here am besten in einem „zeitgemäßen“ Gewand spielen könnten. 

Die letzte Band des Abends The Orb fand dann ohne mich statt. Nach rund zehn Stunden Musik war die Luft raus. Und ohne Stau zurück nach Haus.

Hasselt hat gute Chancen, ein fester Termin im Musikkalender zu werden. Es ist allerdings nichts für Genre-Puristen oder Indie-Stalinisten. Wer offen ist für ein breites Stilangebot von Industrial und Düster-Rock über „Old School“-Punk, Synthie-Pop und Crossover-Experimente bis hin zu diversen Spielarten von New Wave und Post-Punk, dürfte auf seine Kosten kommen. Die sich heuer mit 55 € pro Eintrittskarte für ein Line-Up von dieser Güte in erstaunlich niedriger Höhe hielten, was natürlich durch entsprechende Preise für die Verpflegung (das Viertelliter-Fläschchen koffeinhaltige Brause für € 2,50) und das Sponsoring ausbalanciert werden muss, damit die Gesamtkalkulation für Veranstalter und Bands aufgeht, diverse Merchandising-Stände in den Gängen inklusive. 

Die Hauptfunktion einer solchen Multifunktionsarena ist nun einmal das Geldverdienen. Man kann es als weiteren Ausverkauf und weitere Kommerzialisierung dessen beklagen, was „Indie“ einmal bedeutet hat, wenn eine Veranstaltung wie der Sinner’s Day sich in einem solchen Rahmen abspielt. Allein, es scheinen keine Alternativen in Sicht. Und für den Durchschnittszuschauer jenseits der Vierzig haben Kriterien wie gute Organisation und störungsfreier Ablauf, die der Sinner‘s Day in Hasselt beide erfüllte, einen anderen Stellenwert als früher. Es geht bei NewWave/Post-Punk/80er nicht mehr um große Dinge. In erster Linie geben einem solche Veteranentreffen Gelegenheit, noch einmal Musik live zu hören, die sich auf Platte zuhause gut gehalten hat, und "Neues" zu entdecken, dass einem seinerzeit durchgeflutscht ist.  

Der Termin für den nächsten Sinner’s Day steht bereits fest. Am 30.10.2011 soll er stattfinden, und mit The Mission hat bereits eine prominente Schwarzkittel-Band ihr Kommen zugesagt. Nun denn. Wollen hoffen, dass es den Veranstaltern gelingt, um sie herum ein ähnlich abwechslungsreiches und unterhaltsames Programm wie 2010 zusammenzustellen. 

(05.11.2010)
 
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Versuch einer Erdmöbel-Exegese

Konzert: Erdmöbel im Kölner Gloria am 23.10.2010

Die Kölner Band stellte ihr viel gepriesenes neues Album „Krokus“ live vor. Kunstvolle Popmusik mit Widerhaken und Texte mit unsingbaren Wörtern. 


Erdmöbel konnten an diesem Abend beim Heimspiel im fast ausverkauften Gloria nichts falsch machen. Das bekanntermaßen klatsch- und sangesfreudige Kölner Publikum feierte die Band zum Abschluss ihrer zweiwöchigen Herbstferien-Tournee, die sie zuvor auf solch schwierig zu bespielendes Terrain wie Dresden und Magdeburg geführt hatte, und betätigte sich in der Zugabe gar als veritables Percussion-Orchester, nachdem die Musiker ihre Restbestände an Streichholzschachteln mit der ausdrücklichen Aufforderung zum rhythmischen Krachmachen in die Menge geworfen hatten. So ein paar hundert Streichholzschachteln klingen schließlich nicht schlechter als Rumbarasseln. 

Es ist halt bald wieder Karneval in Köln, und damit auch klischeemäßig alles seine Ordnung hatte, riefen an dieser Stelle ein paar Zuhörer pflichtschuldigst nach Strüssjer und Kamelle. Gehört alles zur selbstironischen Heimattraditionspflege, derer Kölner sich gerne rühmen. Die Erdmöbel-Musiker sehen das wohl eher mit gemischten Gefühlen. Nimmt man die Texte mancher Songs als Maßstab, dann verbindet sie offensichtlich eine ebenso gründliche wie gepflegte Hassliebe mit ihrer Stadt. 

Einen Fehler macht indes, wer als Rezensent nahezu bar jeder Erdmöbel-Kenntnisse zum Konzert geht und auf den ausgezeichneten Ruf vertraut, der der Band vorauseilt. Denn die Qualität von Musik und Texten erschließt sich nicht unbedingt schon beim ersten Hören. Manche Stücke im Konzert ließen ahnen, dass es sich dabei um etwas handelt, das im Englischen so schön als grower bezeichnet wird: Musik, die eine gewisse Zeit braucht, die mehrmals gehört werden will und muss, damit ihre bisweilen sperrige Schönheit einwirken kann. 

Meist hat oder nimmt man sich diese Zeit nicht mehr, die man in jüngeren Jahren jederzeit aufzubringen bereit war, um einer Band beziehungsweise Platte auf den Zahn zu fühlen, die beim ersten Anhören schon gewisse Spuren, aber noch keinen tieferen Eindruck hinterlassen hatte. Wie gut, dass heutzutage mithilfe einschlägiger Internetseiten wie YouTube eine schnelle Nachbereitung von Konzerteindrücken möglich ist. Spätestens da nämlich bestätigt sich, dass Erdmöbel durchaus eine Reihe grower im Repertoire haben. 

Muss reifen, wie Krokusse
Was die vier Bandmitglieder Markus Berges (Gesang, Gitarre) Ekki Maas (E-Bass, Gesang), Wolfgang Proppe (Tasten und Gesang) und Christian Wübben (Schlagzeug und Gesang) zusammen mit Live-Posaunist Henning Beckmann musikalisch und textlich veranstalten, hat mit Rock wenig bis nichts zu tun. Es handelt sich um Pop-Kunstmusik mit allerlei Zutaten aus diversen Stilrichtungen, Breaks, Soloteilen, vertrackten Akkordmotiven, Rhythmen und Melodielinien, die nicht immer unmittelbar eingängig sind und den direkten Weg ins Hörergedächtnis finden. Komplexe, ausgefeilte Stücke, deren Referenzpunkte sich unter anderem in der üppig bis orchestral arrangierten Popmusik aus der zweiten Hälfte der 1960er Jahren finden lassen. Beatles-Alben wie Rubber Soul, Revolver und Sgt. Pepper, die in etwa zeitgleich entstandenen Platten aus der Post-Surfpop-Phase der Beach-Boys, aber auch die kunstvoll ausgearbeiteten Songs der 80er-Jahre-Ikonen Prefab Sprout könnten hier und da Pate gestanden haben. Ja, man sollte sie – wenn der Kalauer erlaubt ist – auch Nerdmöbel nennen dürfen (Der Kalauer ist erlaubt, es gibt zumindest im Zusammenhang mit der Band dafür noch keine Fundstellen im Netz). 

Vergleichsweise schnell anfreunden kann man sich mit dem leicht hymnenhaften, in seiner Intensität anschwellenden Krokusse oder auch mit Das Leben ist schön (beide vom neuen Album Krokus) und der Coverversion des von Burt Bacharach geschriebenen 60er-Jahre-Hits Close to You namens Nah bei dir, dessen Refrain das Publikum gar nicht mehr aufhören wollte mitzusingen (Kommentar von Markus Berges: „Ihr braucht uns gar nicht!“). Indes wecken schon die Titel von Stücken wie 77ste Liebe oder In den Schuhen von Audrey Hepburn Zweifel an ihrer Eignung zum gesanglichen Vortrag, aber – es geht: „Mein Film beginnt / Mit Abspann und Vorhang / Das Licht geht an / Eine geht durch den Gang / nicht Fee nicht Reh / Aber durch das Foyer / In den Schuhen von Audrey Hepburn“. Und das wohl beliebteste Beispiel für Markus Berges‘ oft gepriesene Fähigkeit, langsilbige Wörter in einen singbaren Refrain zu packen, liefert Vergnügungslokal mit Weinzwang: „Ich lachte mal / eine Nacht lang / in einem Vergnügungslokal / mit Weinzwang“. Den unterhaltsamen Abend im Gloria beendeten Erdmöbel nach knapp zwei Stunden mit Leben ist trivial, dem Eröffnungsstück ihrer Debüt-LP Das Ende der Diät. Ob das nun irgendwie wegweisenden oder symbolischen Charakter hat oder der Titel einfach nur als Rausschmeißer geeignet ist, um das Publikum wieder zu, nun ja, erden, mögen die Erdmöbel-Exegeten entscheiden. 

(28.10.2010, www.kultur-in-bonn.de)
 
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Caruso hätte sich aufgehängt

Konzert: Nils Koppruch & Band am 09.09.2010 im Blue Shell, Köln

Der kulturbeflissene Mensch wird zwangsläufig immer wieder an seinem Anspruch scheitern, alles im Blick zu haben, was kulturell interessant und wichtig sein (oder werden) könnte. Gleichwohl ist es schon erstaunlich, dass eine Band, deren Alben so schöne Titel tragen wie Vogelbeobachtung im Winter oder Haiku-Ambulanz, völlig an einem vorbeirauschen kann. So ging es dem Rezensenten mit den 2006 aufgelösten Fink, deren Sänger, Gitarrist und Songschreiber Nils Koppruch nun mit vierköpfiger, vorwiegend aus ehemaligen Fink-Kollegen bestehender Band im Kölner Blue Shell aufspielte. 

Das Blue Shell ist ebenso legendär (80er! Spex!) wie in seinen Ausmaßen überschaubar. Viel mehr als hundert Leute finden vor der kleinen, nur minimal über dem Parkett liegenden Bühne nicht Platz. Wer sich da noch nach Konzertbeginn direkt vor des Sängers Nase unterhält, muss damit rechnen, eine Ansage zu bekommen, entweder das Gespräch einzustellen oder sich weiter nach hinten zu begeben. Mehr an Dissens zwischen Frontmann und Publikum gibt es allerdings nicht zu vermelden. Die gut aufgelegte und in der Fink- und Koppruch-Diskographie offensichtlich bestens bewanderte Zuhörerschaft erklatschte sich einen ausgiebigen Zugabenteil inklusive alter Fink-Titel.

Lakonischer Witz
Den Anfang machten indes Stücke vom neuen Solo-Album Caruso. Ein Titel, den man, wie Koppruch erläuterte, nicht ohne Hintergedanken gewählt habe: „Vielleicht wird die Platte dann unter Klassik einsortiert und verkauft sich besser.“ Eine wahrlich bahnbrechende Idee, wie sich Popmusiker sanieren könnten; schließlich sind Klassik-Fans viel eher bereit, noch Geld für CDs auszugeben anstatt ihre Musik gratis aus dem Netz herunterzuladen. Ob der trockene Humor des Titelstücks sie auch ansprechen würde, sei dahingestellt: „unterm neonröhrenlicht in hinterzimmern sitze ich / stumpf unter der neonlampe und seh’ auf eine tote pflanze / ein tisch ein stuhl ein kleiderhaken, bis die zeit kommt muss man warten / du kannst das tier zum brunnen bringen, nur kannst’ es nicht zum trinken zwingen / das essen ist komplett gestrichen, der mischer ist nicht da zum mischen / die poster liegen in der ecke und neonlicht kommt von der decke / der clubchef hat deinen namen vergessen und will ihn wohl auch gar nicht wissen / im mantel sitz ich da und denk: caruso hätt’ sich aufgehängt“.

Caruso ist ein für Koppruchs irgendwo zwischen Indie, Pop, Rock, Folk, Alternative Country und Blues angesiedelte Musik charakteristisches, balladeskes Stück im mittleren Tempobereich, das den mit dem Fink-Schaffen nicht vertrauten Zuhörer unwillkürlich an Element of Crime erinnert. Nun dürfte Nils Koppruch Vergleiche mit EoC, die laut Eintrag im Internetlexikon schon zu Fink-Zeiten häufig als Referenzpunkt zitiert wurden, inzwischen wohl leid sein. Sie stimmen ohnehin nur zum Teil und gelten vor allem für den Aufbau der getrageneren, ruhigeren Stücke. Und abgesehen davon, dass Sven Regeners Stimme kehliger und härter als Koppruchs klingt: Wo bei Element of Crime oft der Einfluss des französischen Chansons mitschwingt, liegen die Hauptbezüge der Musik von Nils Koppruch eher in den USA, und das nicht zu seinem Nachteil. Die dortigen musikalischen Verwandten dürften unter Gruppen wie Wilco und Lambchop zu finden sein, oder auch (abzüglich Bläser und Tex-Mex-Einsprengseln) Calexico. 

Ausgefeilte Arrangements 
Hinter ihnen zu verstecken brauchen sich Koppruchs Kollegen mitnichten. Christoph Kähler (Schlagzeug), Lars Paetzelt (Bass), Oliver Stangl (Gitarre, Banjo) und Hans Wagner (Orgel, Cello) legten einen mal federleichten, mal bluesig schweren Teppich aus. Könner allesamt, die ihre Möglichkeiten nutzen, um den Stücken ein je individuelles Gepräge zu geben. Da ersetzt das Cello schon einmal die Country-typische Geige oder muss auf Anweisung des Bandchefs eine Mundharmonika imitieren, pluckert das Banjo oder produziert die Gitarre singende, Hawaiigitarren-ähnliche Klänge, während das Schlagzeug abwechslungsreiche und nie aufdringliche Rhythmusarbeit leistet, subtil mit den Blechen umgeht und ohne donnernde Hallowach-Effekte auskommt. Gegen Ende des regulären Sets zogen sie Tempo und Druck an, durfte die Gitarre auch hie und da schroff verzerrte Akkorde rumpeln, besonders schön im schnellen, swingenden und im Shuffle-Rhythmus gehaltenen Talking darum Blues. Und bei Zeilen wie den folgenden aus Stadt und Angst freut sich auch der Cineast im Musikfan: „stadt in angst komm sag mir dass du deine tür aufmachst, der teufel jagt mir mit der gabel nach / die straße brennt und meine frist läuft ab, sag mir das du deine tür aufmachst / es gibt kein bett in der ganzen stadt, dass lee marvin nicht gemietet hat / verloren in der wüste und der arzt ist krank, genau wie spencer tracey in die stadt in angst“. 

Kirsche und Ananas
Geboten wurde nahezu das komplette neue Album sowie neben dem Titeltrack Den Teufel tun einige weitere Stücke von Nils Koppruchs erster Solo-Platte, nebst einer Auswahl aus dem Fink-Katalog. Herausragend in der Zugabe: Staub und Gold, das mit minimalen Mitteln, getragen von ein paar Gitarrenlinien und -akkorden, einen gut zehn Minuten langen, geradezu hypnotischen Spannungsbogen aufbaute. Ebenfalls erwähnt werden sollten Armes Mädchen weint armer Junge auch, Hamburger Berg, Kirschen (wenn der Sommer kommt) – und natürlich die Über- bzw. Rückgabe einer als Geschenk verpackten Ananas an die Mitarbeiterin eines Kölner Lokalfernsehsenders. Die Frucht war Koppruch nach einem Interview versehentlich als Give-away überreicht worden war. Er trug’s mit Fassung und einem Lächeln.

„Heiter-melancholisch“ ist eine häufig be- und daher auch schon reichlich abgenutzte Phrase. Sie passt gleichwohl, wenn man die Grundstimmung von Koppruchs – natürlich muss das Wort jetzt hier fallen: „gefinkelten“ – Texten und Ansagen in zwei Begriffen zusammenfassen soll. Nun ist das heiter-melancholische für Leute von Mitte Vierzig keine Schande. Und für die nächste Kritiker-Phrase „heiter-besinnlich“ hat er noch gut fünfundzwanzig Jahre Zeit. Kaum vorstellbar, dass Nils Koppruch dann als Weihnachtslieder-Onkel beim „Kukident-Sender“ ZDF die Rente aufbessern wird. 

Und übrigens: Der Sänger sucht noch einen Namen für seine Band. „Sieben warme Mahlzeiten“ sei derzeit in der Diskussion. „Linksabbiegerschweine“ wiederum geht nicht, die gab es nämlich schon. Bei einer Band dieses Namens spielte einst Nils Koppruchs Bassist, weshalb er ihn auch vom Fleck weg engagierte. Wer ihm einen Vorschlag schicken wolle, solle dies bitte per Post tun, er sei nämlich Briefmarkensammler. Kleiner Tipp vom Rezensenten: Unter den Jugendmarken der Post finden sich zahlreiche schöne Vogel-Motive.

(13.09.2010, www.kultur-in-bonn.de)
 
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Fehlklang

Konzert: Die Fehlfarben am 10.04.2010 im Zakk, Düsseldorf 

Wenn die Fehlfarben an einem Samstagabend in ihrer Heimatstadt Düsseldorf zum Abschlusskonzert ihrer Deutschland-Tour aufspielen, sagt Sänger Peter Hein als erstes mal die Fußballergebnisse durch. Die Niederlage des aufstiegswilligen einheimischen Zweitligisten fällt Fan Hein da um so leichter zu ertragen, weil die benachbarten Reviergrößen aus Schalke und Dortmund ihre Erstligaspiele gerade ebenfalls vergeigt haben (der Kölner Sieg in Hoffenheim bleibt selbstredend unerwähnt). Das war allerdings auch für einige Zeit die letzte akustisch verständliche Ansage – mit Ausnahme einer kleinen, gemeinen Spitze Richtung Hamburg und dortige „Schule“, die ja genauso klänge wie die Fehlfarben vor dreißig Jahren schon geklungen hätten. Es scheint wirklich, als ob Peter Hein mit Tocotronic & Co. nicht allzu viel anzufangen wüsste …(Siehe dazu: http://www.ard.de/kultur/musik/rock-und-pop/interview-fehlfarben-gluecksmaschinen/-/id=825782/nid=825782/did=1381144/1usypow/index.html)

Man hätte gerne mehr von Heins Kommentaren, Mutmaßungen, Erzählungen und vor allem Liedtexten gehört, doch der Sound im Düsseldorfer Zakk war eine mittlere Katastrophe. Ungebremst wummerten die Bässe aus den Verstärkern, sodass man sich als Zuhörer eher wie ein Resonanzkörper vorkam, derweil des Sängers Stimme irgendwo zwischen Keyboards und Gitarre verschwand und Schlagzeugerin Saskia von Klitzing tapfer und druckvoll gegen die Tücke des Objekts (in ihrem Fall kamen noch anfänglich falsch eingestellte Mikrofone hinzu) antrommelte, um dem Sound-Wildwuchs eine solide rhythmische Grundlage zu geben. 

Es ist schon ein Kreuz mit dem Live-Klang der Fehlfarben. Der war auch bei ihrem Konzert in der Kölner Live Music Hall 2003 ein Ärgernis erster Güte, drei Jahre später im ebenfalls domstädtischen Bürgerhaus Stollwerck dann immerhin passabel. Am für Düsseldorfer Bands potenziell schlechten Karma Kölner Hallen kann es aber nun dieses Mal beim Heimspiel im Zakk definitiv nicht gelegen haben. Bleibt nur die Hoffnung auf den nächsten Versuch. Es muss sich doch im Großraum Düsseldorf/Köln/Bonn irgendeine Halle finden lassen, die dem speziellen Wall-of-Sound der Band mit ihren regelmäßigen Lärm- und Feedback-Attacken nebst Peter Heins stimmlichen Ausflügen und Extravaganzen gewachsen ist. 

Da war mehr drin
So blieben die Fehlfarben an diesem Abend unter ihren Möglichkeiten. Allenfalls äußerst textsichere Fans können das Konzert ohne Abstriche genossen haben; der Rest dürfte wie der Rezensent Mühe gehabt haben, insbesondere bei den Liedern des neuen Albums Glücksmaschinen den Satz- und Wortfetzen zu folgen. Dass Peter Hein immer noch ein begnadeter Entertainer und Frontmann ist, konnte man gleichwohl bei einer Reihe von Stücken erleben beziehungsweise erahnen. Zu diesen Höhepunkten des Sets zählten auch drei Nummern von der aktuellen CD, an erster Stelle zu nennen: Neues Leben, ein Ohrwurm mit zwingendem Beat und schöner Refrainzeile: „Wir haben Angst / aber keine Zeit dafür“, in dem sich Original-Keyboardklänge aus Neue Deutsche Welle-Zeiten mit Elektro- und Postpunk treffen und der Sound einmal so gut ausbalanciert war, dass Strukturen und Instrumental-Linien erkennbar wurden. Außerdem das fast schon hymnische Wir warten („Ihr habt die Uhr / Wir die Zeit“, offensichtlich eine Abwandlung des laut Zeitungen besonders unter afghanischen Taliban beliebten arabischen Sprichworts „Ihr habt Uhren, wir haben Zeit“) und der, wenn ich Heins Geleitworte zum Lied richtig rekonstruiert habe, ganz sicher kommende, weil Mallorca-kompatible Sommerhit Im Sommer. Die Internationale und Schnöselmaschine vom 2002er-Album Knietief im Dispo sind ebenfalls eingängige, treibende und daher für die Live-Darbietung bestens geeignete Stücke, und auch sie schafften es, im Soundbrei nicht unterzugehen. 

Zum souverän absolvierten Pflichtprogramm gehörten das Fehlfarben-Satisfaction Paul ist tot („Was ich haben will / das krieg ich nicht / und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht“) und ihr größter Hit (Ein Jahr) Es geht voran, letzteres wieder näher dran am transparenten, Funk-orientierten 1980er-Urklang als beim Konzert 2006, und das wohl speziell „für die „Minderjährigen im Publikum, die uns nur von Youtube kennen“ - da, endlich mal wieder ein komplett verständlicher Satz von Peter Hein! Ich hätte ja gerne mehr davon zitiert und bin auch überzeugt davon, dass er im Laufe des Abends einiges Zitierenswerte von sich gegeben hat – allein, es war akustisch nicht zu verstehen. So ähnlich muss es wohl auch den Jüngern Mystisches vor sich hin murmelnder Gurus ergehen. Das Nicht-Verständliche erhält in jedem Fall die Spannung und ist gut fürs Geschäft – gerade für „abgefeimte Business-Typen“ (noch ein vernehmlicher Hein-O-Ton) wie die Fehlfarben...

Gleichwohl war es kein schlechtes Konzert. Es hätte allerdings auch ein richtig gutes werden können. Nur eben nicht mit diesem Sound in dieser ansonsten übrigens recht ansprechenden Räumlichkeit. 

(12.04.2010, www.kultur-in-bonn.de)
 

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One hell of a groove 

Konzert: Kraan am 11.03.2010 im Yard club, Köln

Es müsste eigentlich eine neurobiologische Erklärung dafür geben, warum ein elektrischer Bass solch unwiderstehliche Schwingungen aussenden und unmittelbar auf den Bewegungsapparat eines Zuhörers einwirken kann. Allerdings sind Erklärungen vollkommen überflüssig, wenn das Instrument von Helmut Hattler gespielt wird. Der Großmeister des E-Basses erzeugte schon in den 1970ern, als die meisten Rock- und Popbassisten kaum mehr als ein dumpfes Wummern zum Klangbild ihrer Gruppen beitrugen (Ausnahmen wie John Entwistle von The Who bestätigten die Regel), mit seinem virtuosen Plektrum-Spiel einen unglaublich druckvollen, hellen und funky klingenden Bass-Sound, lange bevor das Slappen mit dem Daumen in den 80er und 90er Jahren seuchenähnliche Ausmaße annahm. 

Kraans Musik war schon damals aus der Zeit gefallen. Ihre ganz spezielle Mischung aus Rock, Jazz, Funk und Pop mit vereinzelten orientalischen Spurenelementen haben die Kraaner früher gerne als „Wintrup-Musik“ bezeichnet, benannt nach dem Landgut im Teutoburger Wald, auf dem die Band einige Jahre lebte und arbeitete. Beschreiben wir die Wintrup-Musik zum besseren Verständnis als eine Art von Groove-Musik, dann kommen wir der Sache schon näher: Eingängige bis komplexe Riffs beziehungsweise Patterns von Helmut Hattlers Bass bilden meist die melodische und rhythmische Grundlage der Stücke, werden im Verein mit Peter Wolbrandts Gitarre und Jan Fride Wolbrandts Schlagzeug wiederholt, variiert, gerne auch einmal perkussiv verdichtet und als Grundlage für Solo-Exkusionen und Live-Improvisationen genutzt, oder auch nach Breaks in ganz andere Richtungen vorangetrieben. Gelegentlich setzen sie noch ein paar Nonsens-Texte (wie in Hallo ja ja, I don't know) auf ihren eindeutig von den Instrumenten dominierten Kraan-Klang drauf. 

Höhepunkt der ersten Kraan-Phase war sicher ihr 1975 erschienenes Live-Doppelalbum, von dem der Rezensent ganz stolz ein Vinyl-Exemplar sein eigen nennt. Kraan Live ist ein auch heute noch beeindruckendes Zeugnis des ungeheuren Potenzials und der enormen Spielfreude der Band. Was lag also näher, als nun die Gelegenheit im Kölner Yard club zu nutzen und zu überprüfen, ob das auch 35 Jahre später noch gilt?

It's electric
Und wie es gilt! Zwar entschleunigten Kraan nach uptempo-Start mit dem alten Hit Andy Nogger einen Tick, um ruhigeren, getrageneren Stücken aus der jüngsten Schaffensphase wie Club 20 und Silver Buildings Raum zu geben. Dramaturgisch geschickt streuten sie dabei mit Jerk of Life sowie einem ausgedehnten Holiday am Marterhorn weitere Klassiker aus ihrem Repertoire ein, die die Spannung hoch hielten. Doch spätestens als Helmut Hattlers E-Bass ungefähr nach einem Drittel des Sets volle Fahrt aufzunehmen begann, war jene Groove-Stimmung im Publikum zu verspüren, die man in Ermangelung eines besseren Wortes als des abgenutzten Vergleichs mit der Stromquelle des Bassklangs eben nur als „elektrisiert“ bezeichnen kann. 

Da gaben sie – im Anschluss an einen kurzen, schnellen, aber freundschaftlichen Gitarre-Bass-Contest ohne Schlagzeugbegleitung – eines der Paradebeispiele für den Kraan-Groove zum Besten, das furiose Vollgas Ahoi (Einen 2009 mitgeschnittenen Live-Clip dieses Stücks finden Sie hier: http://www.youtube.com/watch?v=A11bAJOOqF8). Der Titel stammt aus dem Jahr 1977 und mithin aus einer Zeit, als vom Ende der fossilen Brennstoffe nur die wenigsten eine Vorstellung hatten und das Fahr'n Fahr'n Fahr'n auf der Autobahn noch als Spaß galt. Es wäre nun aber auch zu viel verlangt, anno 2010 die Benamsung an die veränderten Zeitläufte anzupassen. „Hybridantrieb Ahoi“ klänge nicht wirklich prickelnd.

Das sind Überlegungen, die das ziemlich enthusiasmierte Publikum im Yard club kaum interessiert haben dürften. Wohlgemerkt ein Publikum, dessen größerer Teil die Fünfzig doch schon hinter sich gelassen, aber noch keineswegs mit rhythmischem Zucken, Klatschen und Hüpfen abgeschlossen hat. Vielleicht gibt’s ja irgendwann einmal, wenn die FDP-Herrschaft im Bundesgesundheitsministerium zu Ende ist, bei altersbedingten Bewegungsleiden E-Bass auf Krankenschein. 

Spielfreude und Virtuosität
Um nicht das Hohelied Hattlers endlos weiterzusingen, hier nun die längst fällige ultimative Lobhudelei auf die Wolbrandts: Ganz und gar unangestrengt und flüssig klingt und gelingt Peter auf der Gitarre der Wechsel zwischen filigranen Einzelnoten-Läufen und flächigen Akkord-Kaskaden, im Klang meist verhallt und nur leicht angezerrt, bei Bedarf aber auch sehr funky, stakkato, kurz und trocken, während Bruder Jan Fride am Schlagzeug das Ganze zusammen (und am Kochen) hält. Und ein Meister seines Fachs wie Peter Wolbrandt bringt sein Werk auch auf fünf Saiten noch sicher und elegant zu Ende, wenn, wie im Yard club geschehen, ausgerechnet im letzten Stück des regulären Sets die e-Saite reißt. 

Eine Schlagzeugbatterie, ein Bass und eine Gitarre nebst ein paar Verstärkern und Effektgeräten reichen eben immer noch vollkommen aus, wenn Spielfähigkeit und Spiellust sich auf höchstem Niveau treffen. Das gilt vielen im Zeitalter von DJs, Remixen und Laptops natürlich als völliger Anachronismus. Der aber großen Spaß gemacht hat und nach insgesamt zwei Stunden Kraan-Musik keine Wünsche offen ließ.

Entspannter Erzähler
In einem Punkt allerdings sollten Kraan dem Wandel der Zeiten schon etwas stärker Rechnung tragen: Auf den Werbeplakaten für die laufende Tour schauen die drei dermaßen griesgrämig drein beziehungsweise weg, als ob sie nicht die geringste Lust aufs Musizieren vor Publikum hätten. In den Siebzigern und Achtzigern hätten Fans solche Gesichtsausdrücke wohl einfach als Ausweis coolen Muckertums goutiert, heute kann man sich da nicht mehr so sicher sein. Da möchte man ihrem Fotografen doch empfehlen, sie beim nächsten Mal mit etwas einladenderen Blicken abzulichten. 

Denn tatsächlich wirken die drei auf der Bühne alles andere als lustlos. Im Gegenteil, Helmut Hattler ist ein lässiger, entspannter und aufgeräumter Bühnenerzähler und -entertainer. Er traf im schmucken kleinen Kölner Yard club freilich auch auf ein gut gelauntes und jederzeit mitgehendes Publikum. Das, wie Hattler erfreut feststellte, nicht nur aus "alten Säcken" bestehe, sondern durchaus die eine oder andere Zufuhr "frischen Bluts" erfahren habe.

Da steht ein Musiker natürlich auch in der Fürsorgepflicht. Nachdem Kraan als Zugabe – wieder mit sechssaitiger Gitarre – schon eine schöne, ziemlich lange Version ihres populärsten Stücks Nam Nam gespielt hatten und die Zuhörer mit rhythmischen Klatschen ihrem Wunsch nach noch „mehr“ Ausdruck gaben, nahm Hattler die Vorlage auf und forderte nun seinerseits das Publikum auf, doch bitte zum Klatschen das Nam Nam-Riff mit zu „singen“ bzw. zu artikulieren, um auf dieser Basis noch eine weitere Runde mit Peter und Jan Fride Wolbrandt zu improvisieren – und sozusagen einen „Remix“ in Handarbeit anzufertigen. Allerdings nicht, ohne vorher angesichts der vorgerückten Stunde gefragt zu haben, wie es denn mit der „Vollbeschäftigung“ unter den Konzertbesuchern so aussähe. 

Nun, sowohl die Band als auch das Publikum hatten Zeit, also jammte man „hippiemäßig“ (Hattler) noch eine weitere Viertelstunde zusammen. In gewisser Weise ein Rücksturz in eine Epoche, die man selbst aktiv als Konzertbesucher nicht erlebt hat und nur von Schallplatte und aus Erzählungen kennt, eine Zeit, in der Konzerte auch schon mal zu Musik-“Happenings“ wurden ... anno 2010 gehört es jedoch zur Lebenswirklichkeit und (Voll-)Beschäftigung professioneller Musikmacher, nach dem Ende von Konzerten höchstpersönlich ihre CDs zu verkaufen. Da machen auch Kraan keine Ausnahme. Ansonsten aber bleiben sie eine der großen Ausnahmeerscheinungen im Lande. 

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Die in hiesigen Gefilden produzierte (Rock-)Musik der 1970er wird unter dem seltsamen (und früher meist abwertend gemeinten) Etikett „Krautrock“ zusammengefasst. Seltsam, weil gerade die neben Kraan wichtigsten und wegweisenden Gruppen Kraftwerk, Neu!, Tangerine Dream und Can mit „Rockmusik“ im herkömmlichen Sinne wenig bis nichts zu tun hatten/haben, sie teilweise eher überwinden wollten. Die Entwicklungsgeschichte von Pop und Rock und der Platz des 'Krautrock' darin lässt sich übrigens auch gut durch einen Besuch im eine Bahn- oder Autostunde von Münster entfernten Rock'nPopmuseum in Gronau audiovisuell und multimedial nachvollziehen, wobei anzumerken bleibt, dass gerade Kraan hier ziemlich unterrepräsentiert sind, während Udo Lindenberg sehr viel Platz eingeräumt wird – Kunststück, ist Gronau doch des Sängers Geburtsstadt ... Lohnend ist der Besuch aber nicht zuletzt deswegen, weil das Museum die komplette Einrichtung (abzüglich zwischen den Matratzen gefundener Gras-Krümel) und das Equipment des „Inner Space Studio“ in Weilerswist bei Köln, in dem die großen Can in den 1970er Jahren so manchen Meilenstein Genre sprengender Prog-Musik aufnahmen, erworben und in einem gesonderten Raum der Original-Raumaufteilung entsprechend aufgebaut hat. Unter Anleitung eines kundigen Tonmeisters können nun auch Musiker und Bands dieses nach wie vor voll funktionsfähige Studio und sein Equipment zur Aufnahme eigener Stücke nutzen. And the beat goes on... 

(13.03.2010)
 

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Let there be Diskursrock

Konzert: Tocotronic am 04.03.2010 im Kölner E-Werk 

Welch ein Auftakt: „Das erste Stück ist ein Liebeslied!“, so lautete die Begrüßungsansage des freundlichen Ironikers Dirk von Lowtzow im fast ausverkauften Kölner E-Werk. Was man halt so unter Liebeslied versteht. In diesem Fall handelte es sich um Eure Liebe tötet mich, das Eröffnungsstück des neuen Tocotronic-Albums Schall und Wahn. Rund acht Minuten lang ist's, kommt im mittleren Tempo daher und verdichtet sich bei zunehmender Lautstärke immer stärker, um in mächtigen, ausladenden Noise-Attacken zu enden. Soll man das jetzt als Aufforderung zu 'Make love like war' interpretieren? 

Mit konsequenter Promotion-Arbeit für Schall und Wahn ging es weiter: Es folgten die Titel Nummer zwei und drei der neuen Platte, das schnelle, post-punkige Ein leiser Hauch von Terror und das baugleiche Die Folter endet nie. Letzteres gaben sie laut Dirk von Lowtzow – Achtung, Ironiesignal! – aus Anlass von 17 Jahren Bandgeschichte zum Besten (Und ein Zitat oder eine Anspielung muss im Titel wohl ebenfalls enthalten sein, wir befinden uns ja hier unter kundigen Diskursrockern. The Torture Never Stops von Frank Zappa käme da als Bezugspunkt in Frage.)

Konnte man den Tocotronic-Mitgliedern insbesondere in ihrer Anfangszeit nicht gerade ausgeprägtes instrumentales Virtuosentum nachsagen (was wohl auch nie ihr Ziel war), so muss man ihnen inzwischen bescheinigen, eine geschmeidig laufende Diskursrock-Maschine auf die Bühne zu bringen. Schließlich haben sie auch seit einigen Jahren mit Rick McPhail einen, nun ja, „richtigen“ Lead-Gitarristen, der nicht nur schrammeln, sondern unter anderem auch fein mandolinieren kann, wie er im Folter-Stück unter Beweis stellte. Immerhin, einen verpassten Einsatz bekamen die vier bei Verschwör dich gegen dich dann aber doch noch hin. Was den überzeugenden Gesamteindruck natürlich eher noch verstärkt. Man kann eben kapitalismuskritische Konzept- und Kunstmusik im Rock-Idiom machen und gleichzeitig eine mitreißende Live-Band sein. Doch, das geht. 

Ironie und guter Geschmack
Seinen Teil dazu bei trägt Frontmann und Conférencier Dirk von Lowtzow mit (selbst-)ironischen Ansagen, Posen und Gesten wie Kusshandwürfen oder einem tiefen Bückling vor dem Publikum, bei dem er fast den Boden schrammte, und als Gegenstück dazu dem Rock-Siegeszeichen schlechthin: die mit gestreckten Armen in die Luft gereckte Stromgitarre. Schade nur, dass sie im Kölner Konzert nicht auch den ersten Teil der Grenzen des guten Geschmacks ausloteten. Jene Passage dieses Stücks, in der Tocotronic mit zwei unisono gespielten Leadgitarren ein typisches Element des 70er-Jahre-Rocks zitieren, hätte für Rick McPhail und Dirk von Lowtzow sicher auch eine prima Posing-Vorlage hergegeben. 

So blieb es Schlagzeuger Arne Zank vorbehalten, für den humoristischen Höhepunkt des Abends zu sorgen. Nachdem Kollege McPhail vorübergehend die Stöcke übernommen hatte, bespaßte Zank das Publikum in Ich werde nie mehr alleine sein/Bitte gebt mir meinen Verstand zurück mit einer Sangeseinlage: „Oh Mädchen du bist alles / was mich hier noch hält / Doch die Zeit mit dir / und die Zeit ohne dich / ist gerade das / was mich verwirrt“; das Ganze so schief und krumm und komplett neben der (Instrumenten-)Spur „gesungen“, dass es wie eine Verhohnepipelung der um dramatische Expressivität bemühten, „intensiven“ Gesangsphrasierung gewisser Seele-aus-dem-Leib-Singer wirkte. Und wenn es sich doch um eine Hommage an dieselben gehandelt haben sollte, dann war sie wohl eher mokant als liebevoll gemeint. 

Lebendig und laut 
Kurz und laut, schnell und druckvoll wurde es wieder mit Jungs hier kommt der Masterplan und Aber hier leben, nein danke („Ich mag den Weg / Ich mag das Ziel / Den Exzess, das Selbstexil“), einem „Lied über die Heimat, das gefährlichste, was es gibt“, so die einleuchtende einführende Erläuterung von Lowtzows. Lang und laut dagegen das zweite vom Tocotronic-Frontmann explizit als „Love song“ angekündigte Stück namens Imitationen. Ganz ähnlich wie in Eure Liebe tötet mich türmten sich auch hier im ausgedehnten Finale Gitarrenwände zu hypnotischem Krach auf. 

Was gibt’s darüber hinaus zu vermelden? Zum Beispiel Diskursrock-Klassiker aus der Jugendzeit wie Let there be rock, Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen, Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit und Diskursrock-Neuheiten von Schall und Wahn. Neben dem Titelstück dabei besonders auffällig: Macht es nicht selbst, ein hämmernder Stampfer mit programmatischem Text: „Was du auch machst / Sei bitte schlau / Meide die Marke / Eigenbau / Heim- und / Netzwerkerei / Stehlen dir deine / Schöne Zeit / Wer zu viel selber macht / Wird schließlich dumm / Ausgenommen Selbstbefriedigung (…) Was du auch machst / Mach es nicht selbst / Auch wenn du dir / Darin gefällst“. Macht es nicht selbst würde übrigens mit einer kleinen Rhythmusverschiebung Richtung Boogie-Rock wie ein Stück von – pardon – „Status Quo“ klingen ... whatever you want, es sind von Tocotronic ja eh Keine Meisterwerke mehr geplant: „Keine Meisterwerke mehr / die Zeit ist längst schon reif dafür“. 

Bleibt noch zu sagen, was gesagt werden musste: „Ihr seid spitze, das muss gesagt werden.“ Mit solch uneigentlich überschwänglichen Worten lobte Dirk von Lowtzow das Kölner Publikum und verstieg sich bei der zweiten Zugabe auch noch zu einem „Ihr beschämt uns!“ Nach der obligatorischen Feedback-Orgie zum Abschluss des Sets kam als Rausschmeißer von der Festplatte („vom Band“ hätte es früher geheißen, aber es gibt ja keine Bänder mehr) noch ein Auszug aus dem Schlusschor von Beethovens Neunter: „Seid umschlungen, Millionen“. Dem Konzertverlauf nach zu urteilen darf man sagen, dass Tocotronic vom nicht ganz Millionen zählenden Publikum auch zurückgeliebt werden – ganz unironisch. 

(http://www.kultur-in-bonn.de/magazin/kritiken/anzeige/article/let-there-be-diskursrock-1268039903.html)

So viel zu den Live-Qualitäten der Band Tocotronic. Wissenwertes und Weiterführendes zu Diskursrock im Allgemeinen und Schall und Wahn im Speziellen finden Sie zum Beispiel im freitag (http://www.freitag.de/kultur/1004-tocotronic-schall-und-wahn) in einem Beitrag von Georg Seeßlen, auf dessen Filmkritiken und Schlagloch-Kolumnen in der taz hiermit ebenfalls hingewiesen sei. 

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Aus gegebenem Anlass noch ein Nachtrag zur Jochen Distelmeyer-Konzertkritik: Selbstverständlich gehören auch Tocotronic qualitativ in eine Reihe mit den genannten Blumfeld/Distelmeyer, Zitronen, Rocko Schamoni, Fehlfarben und Fanta Vier. Nur sind sie halt „erst“ 17 und nicht schon mindestens 20 Jahre dabei, und in diesem Punkt wollte ich in meiner Aufzählung genau bleiben. Dass mir dabei allerdings ausgerechnet Element of Crime in der Hall of Fame langlebiger deutschsprachig textender Musikartisten durchgeflutscht sind, muss wohl an ihrem englischen Bandnamen liegen und daran, dass Sven Regener auf ihrer ersten, sich doch tatsächlich in meiner Vinylsammlung befindenden und weniger bedeutsamen Platte Basically Sad aus dem Jahr 1986 noch alles auf Englisch gesungen hat. Also: Natürlich zählen auch EoC zu den Größen des Metiers. Schließlich hat Regener gerade im Titelstück des aktuellen Albums Immer da wo du bist bin ich nie wieder so richtig die Reimlust gepackt: 
„Immer wenn ich Lieder sang
und dazu auf- und nieder schwang
an Bändern, die elastisch war´n,
in Ländern die fantastisch war´n,
zum Lobe einer bessren Welt und ohne Geld 
und ohne großen Ehrgeiz, dass der Groschen fiel,
dachte ich, ich wär am Ziel.“

(07.03.2010)
 

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Mehr als Blumfeld 2.0

Konzert: Jochen Distelmeyer am 09.11.2009 im Kölner "Gloria"

Ex-Blumfeld-Kopf Jochen Distelmeyer gehört mit Rocko Schamoni, den Goldenen Zitronen, Ärzten, Fehlfarben und Fantastischen Vier zur nicht allzu großen Zahl deutschsprachiger Musiker, die sich auch nach 20 und mehr Arbeitsjahren noch souverän auf ihren jeweiligen Baustellen behaupten können. Zu Recht, denn sie alle haben nach wie vor Interessantes mitzuteilen und sind in der Lage, das Mitzuteilende treffend bis lustig zu formulieren und mit ansprechender Musik zu hinterlegen. Oder umgekehrt zu ansprechender Musik treffend bis lustig formulierte Texte zu finden. 

So changierte der Blumfeld-Sound seit Gründung der Band 1990 zwischen angenehm schroff und melodisch, die Texte waren ausgefeilte kleine Kunstwerke und dazu oft eminent politisch. Gerade Distelmeyers Diagnose von der Diktatur der Angepassten aus dem Jahr 2001 hatte etwas von einer unmittelbaren, schlagenden Erkenntnis und das Zeug zu einem geflügelten Wort. Dass dem Sänger und Gitarristen Natur- und Liebeslyrik auch nicht fremd war, wie die letzten beiden Platten vor Auflösung der Band 2007 zeigten, sorgte allerdings in der Anhängerschaft für reichlich Irritationen. Die Schlager-Anmutungen in Stücken wie Apfelmann oder dem großen Blumfeld-Heuler 1000 Tränen tief empfanden manche eher als Zumutungen. Davon unbeeindruckt gab Distelmeyer weiter gleichermaßen den Harten wie den Zarten, und auch gerne noch den (Halb-)Ironiker. 

Daran scheint sich nichts Grundlegendes geändert zu haben. Mit dem harten Halbironiker Distelmeyer und einer mehrminütigen, schrillen Feedback-Attacke ging es am Montagabend im gut gefüllten Kölner „Gloria“ los. Damit war der Weg bereitet für das drei Gitarren schwere Wohin mit dem Hass von seiner kürzlich veröffentlichten ersten Solo-Platte Heavy. Mit zwei, drei (post-)punkigen, schnellen neuen Songs wie Einfach so ging es weiter, ehe Distelmeyer dann den ersten von mehreren Wechseln zwischen elektrischen und akustischen Gitarren vornahm und zusammen mit seinen vier Begleitern an Gitarre, Gitarre/Tasten, Bass und Schlagzeug das Tempo drosselte, ohne dabei jedoch Abstriche am dichten, erdigen Klangbild zu machen. So kamen auch getragene, balladeske Stücke wie Lass uns Liebe sein und Murmel von der neuen Platte in einem satten, druckvollen Sound von der Bühne. Blumfelds Naturexkursion Schmetterlings Gang schwoll gar zu einer mächtigen Hymne an: „Sommervogel, flieg!“, anschließendes Ohrenfiepen inklusive.

Zu dieser Mischung passten auch die anderen Auszüge aus dem Blumfeld-Repertoire wie 2 oder 3 Dinge die ich von dir weiß, Ich wie es wirklich war und Eintragung ins Nichts, die Distelmeyer zur Freude der Konzertbesucher zum Besten gab. Ebenfalls bemerkenswert in einem durchweg gut gemischten Set: Eine eigene Geschichte, vorwärts treibend und mit einem an Mark E. Smith von The Fall erinnernden Stakkato-Sprechgesang, sowie eine schöne Coverversion von Dancing Barefoot, einem der eingängigsten und poppigsten Patti-Smith-Stücke. Das spielten die fünf denn auch in einem luftigen, transparenten Pop-Sound, bei dem die Keyboards zu ihrem Recht kamen. 

Kurz vor Schluss erhielten die Zuschauer dann noch eine „Aufgabe“, beziehungsweise Aufforderung zum Mitmachen: Unter Anleitung Distelmeyers legte das Kölner Publikum bei Quo Vadis einen derart text- und rhythmussicheren Wechselgesang hin (Männer: „Quo Vadis?“, Frauen: „Ich und Du“), dass der Maestro verblüfft – oder in gut gespielter Verblüffung – ausrief: „Ihr seid toll! Ihr seid – jeck!“ Nach rund zwei Stunden und mehreren Zugaben beendete Distelmeyer das Konzert dann mit dem ruhigen, als Rausschmeißer bestens geeigneten Old Nobody.

Gelungene Abendunterhaltung also mit einem gut aufgelegten Popstar, der, wie die Blumfeld-erfahrene Kollegin bemerkte, zwar weniger Zwischenansagen als bei früheren Konzerten machte, dafür aber wie gehabt zwischendurch einige Fluppen wegrauchen musste. Sehr schön – und passend zum Auftrittsdatum 9. November/Mauerfalljubiläum – geriet indes die Ansage, mit der der Chef sich und seine Mitstreiter vorstellte: „Wir sind Jochen Distelmeyer!“ Nur keine falsche Bescheidenheit. 

Dass er die in Zukunft an den Tag legen könnte, muss man nicht befürchten. Eine Standortbestimmung zu Beginn seiner Solokarriere liefert das Stück Ich will mehr Songtext, das die mindestens zwei Seiten des Jochen D. adäquat wiedergibt: „Das war's dann wohl mit der Postmoderne / Die guten alten Zeiten sind vorbei / Ich bleib' bei Dir und weiß so hast Du's gerne / Wo soll das alles enden mit uns zwei“. Distelmeyer solo wird in jedem Fall mehr als eine Blumfeld 2.0-Version sein, davon ist nach dem Konzert im „Gloria“ auszugehen. 

Man darf gespannt sein, welche Richtung(en) er dabei musikalisch und vor allem textlich einzuschlagen gedenkt. Immerhin ist der Mann vor einiger Zeit Vater geworden, und es ist unter Kinder erziehenden Künstlern und Schreibern durchaus verbreitet, in Ermangelung ausreichender Recherche-, Schaffens- und Schlafenszeit Kolumnen beziehungsweise Songtexte zu verfassen, die vom eigenen Nachwuchs handeln. Singt Jochen Distelmeyer also demnächst statt vom Apfel- vom Sandmann? Wenn, dann dürfte es sich wohl eher um ein Exemplar der Sorte handeln, von der Metallica in ihrem berühmten Enter Sandman erzählen.

(12.11.2009, www.kultur-in-bonn.de)
 

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Alternative Rock bleibt eine Alternative

Konzert: R.E.M. am 20.08.2008 auf der Loreley, St.Goarshausen

„Stimmungsvoll“, „atmosphärisch“ und „romantisch“ dürften zu den am häufigsten benutzten Eigenschaftsworten zählen, mit denen die Umgebung am Rheinfelsen zu St.Goarshausen beschrieben wird. R.E.M.-Sänger Michael Stipe macht da keine Ausnahme, wenn er, ganz amerikanischer Tourist, während des Konzerts der Loreley Reverenz erweist und den Panoramablick vom Felsen als „one of the most beautiful sights I’ve ever seen“ bezeichnet. Näher an pathetisches Geschwafel kam er an diesem Abend glücklicherweise nicht mehr heran. Der Poet mit der Lizenz zum Grübeln und dem Hang zu kryptischen, symbolschweren Bühnenansagen und -aktionen war samt Nadelstreifenanzug und Halstuch im Schrank geblieben. Stattdessen spielte Stipe in Jeans & Jacket eine Rolle, die ihm eindeutig besser steht, die der Rock’n Roll-Rampensau nämlich. Mit, man fasst es kaum, Anflügen von Selbstironie: Da machte er sich doch tatsächlich in einem kurzen Zwiegespräch mit Bassist Mike Mills über seine „immense strength on stage“ lustig. Gut gegeben! 

R.E.M. ließen von Anfang an nichts anbrennen. Ein Konzert eröffnet man am besten mit schnellen, nicht allzu langen Stücken, also stellten sie erst einmal zwei entsprechende Exemplare vom neuen Album Accelerate vor, auf die das rollende und stampfende „What’s The Frequency, Kenneth?“ aus Monster folgte. Danach kommt eine vertraute Ballade mit flächigem, transparentem Sound wie „Drive“ von Automatic For The People gut, ein Großteil des Publikums hob die Arme und schwang sie – ja, es hatte eine gewisse Ähnlichkeit zum Schunkeln – synchron zu Dirigent Stipe im Rhythmus. 

Sie haben ihren Laden eben immer noch gut im Griff. Abgenutzt oder verbraucht wirkten R.E.M. nicht, genauso wenig wie ihre Musik, jene eigentümliche Mischung aus Rock, Pop, Folk, Country, Blues und anderen Zutaten, die seit Anfang der Achtziger Jahre unter Bezeichnungen wie Alternative Rock oder Alternative Pop subsumiert wird. Wer R.E.M. schon fast genauso lange kennt und schätzt, aber im Gegensatz zu den eingefleischten Fans nicht alles von ihnen auf Tonträger vorrätig hat, freute sich im weiteren Verlauf des Abends besonders über gute alte Bekannte wie „Ignoreland“, „Fall On Me“, „Walk Unafraid“ oder „Imitation of Life“. Und ein Hit wie „The One I Love“, der nun auch schon rund zwanzig Jahre auf dem Buckel hat, ist mit seinem Intro, Riff, Solo und der bridge einfach unkaputtbar – was übrigens auch für die gesamte dazugehörige, auch heute noch gut hörbare LP Document gilt. Peter Buck war halt schon immer ein einfallsreicher Gestalter mit der Gitarre. Kollege Stipe nutzte „The One I Love“ derweil auf der Loreley zu einem ersten Bad in der Menge, inklusive Hutprobe. Der ausleihende Fan bekam seine Kopfbedeckung natürlich wieder zurück. Mike Mills behielt seinen Schlapphut indes die meiste Zeit über auf, für seine Gesangseinlage beim flotten, stark Country-angehauchten – beziehungsweise Country persiflierenden – „(Don’t Go Back To) Rocksville“ war er auch das passende Utensil. Unter den Stücken im mittleren und niedrigeren Tempobereich zählten indes „The Great Beyond“ mit eindringlicher Keyboard-Grundierung und die melancholische Verlierer-Ballade „Country Feedback“ zu den weiteren Höhepunkten. 

In der Zugabe spielten sie dann das unvermeidliche „Losing My Religion“. Nun ja, R.E.M. dürfte nicht die einzige Band sein, die mit einem ihrer schwächeren Stücke ihren größten Hit gelandet hat. Und wenn wir schon mal bei berüchtigten Hits sind: Zur Loreley-Folklore gehört auch ein bekanntes Liedchen, das mit den Worten „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ beginnt. R.E.M.-Ergänzungsspieler Scott McCaughey, der zwischen zweiter Gitarre, Keyboards und Bass wechselte, sang die erste Strophe in einem kaum akzentbelasteten Deutsch, Bill Rieflin, seit einigen Jahren ständiger R.E.M.-Begleiter am Schlagzeug, fing an, dazu einen Dreiviertel-Rhythmus zu klopfen. Da war die kleine Einlage auch schon wieder beendet und konnte als gelungener Gag durchgehen. Noch mehr rheinisches Liedgut, etwa im Stil von „Wenn das Wasser im Rhein goldener Wein wär’“, wäre an dieser Stelle eindeutig zu viel an Lustbarkeit gewesen. 

Stattdessen forderte Michael Stipe die Zuhörerschaft im Rahmen einer längeren Schlussansage noch einmal zu einem Sonderapplaus für die in der Tat beachtliche Vorgruppe „Elbow“ auf, die das Pech haben, als typische „musician’s musicians“ zwar in Kollegenkreisen hochgeschätzt, dem breiten Publikum jedoch weitestgehend unbekannt zu sein. Und er versäumte nicht, darauf hinzuweisen, dass neben den ganzen Fress- und Trinkbuden auf dem Gelände der Freilichtbühne auch Infostände von Oxfam und Amnesty International aufgebaut waren. Nun werden Musiker, die sich politisch engagieren oder auch nur einmal äußern, ja gerne belächelt, die oft als „Gutmenschen“ denunzierten R.E.M. sowieso. Michael Stipe beließ es an diesem Abend bei der Empfehlung, wer bereits Mitglied oder Unterstützer von AI oder Oxfam sei, solle doch andere animieren, es ihm gleichzutun. Wäre irgendetwas gewonnen, wenn er darauf verzichtet hätte? 

Im musikalischen Teil der Zugabe folgten noch „Seven Chinese Brothers”, „I’m Gonna DJ“ und zum Abschluss „Man On The Moon“, mit einem Gruß an den verstorbenen Komiker Andy Kaufman in den bewölkten und alles andere als sternenklaren Abendhimmel. Das war’s, danach begaben sich Stipe, Buck und Mills unter lang anhaltendem, starkem Beifall auf eine ausgedehnte Verabschiedungstour durch die vorderen Reihen des Publikums. Gutes Konzert, R.E.M. dürfen weitermachen und wiederkommen. 

(25.08.2008, www.kultur-in-bonn.de)
 

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Funkmaster trifft bestes Stück des WDR 

Konzert: Maceo Parker & die WDR-Bigband am 28.07.2008 im Kölner Stadtgarten 

Der erste Teil des Abends war ganz einem seiner erklärten Vorbilder gewidmet: Mit einem „Tribute to Ray Charles“ eröffnete Maceo Parker, in der Band von James Brown berühmt gewordener Altsaxofonist, Sänger und vielleicht nicht Godfather of Funk, aber einer seiner herausragenden Vertreter, das Konzert in Köln. Es war ein Treffen der Schwergewichtsklasse, denn neben der mehrfach (unter anderem mit dem Grammy) preisgekrönten WDR-Bigband standen beziehungsweise saßen auch noch Ex-Funkadelic Rodney „Skeet“ Curtis am E-Bass und Poogie Bell am Schlagzeug auf der Bühne. Die beiden dürften zusammen für ungefähr 300 Kilo Lebendgewicht gut sein. Unnötig zu erwähnen, dass dies ihrer musikalischen Klasse keinen Abbruch tut. 

Zum Auftakt also Ray Charles. Das bedeutete natürlich Klassiker wie „Hit The Road, Jack“ und „What’d I Say“, aber auch weniger Bekanntes wie „Busted“, das dank des fetten Bläsersatzes, mit dem es WDR-Bigband-Chef Michael Abene versehen hatte, nun nicht mehr ganz so unbekannt ist. Neben Uptempo-Nummern gönnte man sich auch Langsameres wie „You Don’t Know Me“ und selbstredend „Georgia On My Mind“, dies allerdings als Jazz-Ballade mit versetztem Rhythmus und schrägen Harmonien. Mal etwas anderes, es ließ sich hören. Und wer geglaubt hatte, ein äußerlich eher unscheinbarer, kleiner Mann mit Brille und schütterem Haar könne ein Haus nicht rocken, sah sich am Montagabend im Kölner Stadtgarten eines Besseren belehrt. Frank Chastenier, Keyboarder der WDR-Bigband, lieferte in „Hallelujah, I Love Her So“ eine fulminante Einlage an der guten alten Hammondorgel – mit vollem Körpereinsatz wie einst Jerry Lee Lewis, nur die Füße blieben unten – und sorgte so für einen von zahlreichen Sonderapplausen für die Instrumentalisten. Nicht geringer der Beifall für Maceo Parker, der mit seinen 65 Jahren noch immer glänzend in Form und bei Stimme ist. 

Zwischenbilanz im Pausengespräch: Dem stilistisch nicht festgelegten Kritiker hat’s bis hierhin gut gefallen, die echten Funkster (sagt man eigentlich noch so?) äußern, sagen wir mal, wohlwollende Zurückhaltung, denn sie wollen, na klar, Funk. Und Groove. Beides bekamen sie nach der Pause. Ein paar Akkorde bilden das Riff-Grundgerüst, werden wiederholt, verdichtet und angereichert, bis die Sache höllisch in Fahrt gerät. James Brown, George Clinton, Funkadelic, Parliament und Bootsy Collins hießen nun die Referenzen. Musik, die in den 70er und 80er Jahren ihre Blütezeit hatte, aber offensichtlich zeitlos Spaß macht und Partystimmung auslöst, wie das gar nicht einmal so durchschnittsalte Kölner Publikum am Montag unter Beweis stellte. „To Be Or Not To Be“ „Shake Everything You Got“ und „Pass The Peas“ gehörten zu den Höhepunkten in dieser noch schweißtreibenderen zweiten Halbzeit, während der ein einsamer Ventilator zumindest den Groove-Arbeitern auf der Bühne etwas Abkühlung brachte. 

Die WDR-Bigband-Musiker erwiesen sich dabei einmal mehr als die Berliner Philharmoniker des Nicht-Klassik-Bereichs (um den abgestandenen Begriff der „U-Musik“ zu umgehen): Sie können einfach alles. Ein ungeheuer kompakter und gleichzeitig geschmeidiger Klangkörper, dem jeder musikalische Anzug sitzt. Koordinationsprobleme hatten die Musiker eigentlich nur, wenn sie ihren Platz im Ensemble verließen und sich auf der viel zu kleinen Bühne ihren Weg zu den Mikrofonen für die Solisten bahnen mussten. Diese Soloeinlagen waren dafür erfreulich kurz und prägnant und orientierten sich zumeist lose am Prinzip Thema-Wiederholung-Variation. Keine endlosen und bis zur Unerträglichkeit ausladenden Egotrips, wie sie einem in Jazz-Improvisationen bisweilen begegnen. Und auch kein Schlagzeugsolo, dafür ein energetisches call & response zwischen Maceo Parker am Altsaxofon und Drummer Poogie Bell. In diesem Rahmen lässt man sich dann auch gern mal ein paar schnelle rolls über die Felle gefallen. 

So fiel das Konzert eindeutig unter die Rubrik „sich einen schönen Abend machen“. Das fand wohl auch Maceo Parker, der in seiner launigen Schlussansage allen dankte, die am Gelingen ihren Anteil hatten, von James Brown und Ray Charles selig bis hin zum Lastwagenfahrer, der das Equipment in den Stadtgarten gekarrt hatte. Ja, und die Stadt, in der er mit schöner Regelmäßigkeit auftritt, die möge er natürlich ganz besonders, sagte er mit breitem Grinsen und wies auf sein schickes Hemd, das er sich gerade erst in Köln gekauft habe. Der Mann weiß, wie man sein Publikum einwickelt. Ein würdiger Nachfahre des „Hardest Working Man In Show Business“. 


P.S.: Der Vergleich zu den Berliner Philharmonikern ist möglicherweise etwas erklärungsbedürftig: Wer die Berliner kürzlich im Fernsehen bei ihrem Auftritt auf der Waldbühne unter dem jungen venezolanischen Gastdirigenten Gustavo Dudamel verfolgt hat, dürfte sich beim für Klassikkonzerte völlig unüblichen rhythmischen Fingerschnipsen, Stampfen und Zucken erwischt haben. Die Philharmoniker waren mit großer Schießbude, sprich rund einem halben Dutzend Perkussionisten angetreten, und spielten, als ob sie nie etwas anderes täten als lateinamerikanische Orchestermusik des 19. und 20. Jahrhunderts zu interpretieren, caramba!
... aber jede Wette, dass die WDR-Bigband etwas Vergleichbares in Latin mood auch hinkriegen würde.

(02.08.2008, auf www.kultur-in-bonn.de auch mit Konzertfotos:
http://www.kultur-in-bonn.de/magazin/kritiken/anzeige/article/1217693054.html) 
 

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Die Party geht weiter

Konzert: The B-52’s am 16.07.2008 auf der Bonner Museumsmeile

Es war eines dieser Alte-Helden-Konzerte, an die man mit einer Mischung aus Vorfreude und banger Erwartung herangeht: Können sie’s noch, und wenn nicht, könnte es schlimmstenfalls richtig peinlich werden? Schließlich sind The B-52’s nicht irgendwer, sondern waren eine der aufregendsten Bands in jener Zeit zu Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, als sich die Popmusik in Form von Punk, New Wave und Post-Punk nahezu permanent neu erfand. 

Die B-52’s kreierten dabei einen ganz eigenen Stil, eine Art Sixties-Space-Punk-Disco (es lebe der Bindestrichbegriff!), und machten sich damit als ideale Wachrüttler für nicht recht auf Touren kommen wollende Partys einen Namen. Eine metallisch verhallt klingende Gitarre, deren Sound nach Sechziger-Vorbildern wie der Instrumental-Band The Ventures modelliert war, bildete das Zentrum und trieb die Songs mit unwiderstehlich eingängigen oder abgehackt-schrägen Riffs voran, hinzu gesellten sich eine flirrende Orgel und Fred Schneiders eigentümlicher Sprechgesang. D a s Markenzeichen der Band waren aber natürlich die Stimmen von Kate Pierson und Cindy Wilson, die mühelos von rotziger Göre über schrille Sirene auf glockenhelle Chorsängerin umschalten konnten. Dazu sahen die beiden damals einfach umwerfend aus in der lässig-selbstverständlichen Eleganz, mit der sie ihre jecken Fummel und steilen Frisuren trugen. 

Die ersten zwei Platten The B-52’s, auch unter dem Titel Play Loud! bekannt (das „gelbe Album“, 1979), und Wild Planet (das „rote Album“, 1980) gehören heute zum Popmusik-Kanon – soll heißen, sind „amtlich“ – , doch auch auf den späteren Scheiben finden sich noch Hits und große Momente wie etwa „Song For A Future Generation“ von Whammy. Nach der 1992 erschienenen LP Good Stuff waren die B-52’s erst einmal für 16 Jahre Popgeschichte. In diesem Jahr dann das unverhoffte Comeback mit dem Album Funplex, das eher verhaltene Kritiken erhielt. Das, was man erwarten konnte, nichts aufregend Neues, so lauteten die Einschätzungen. Die Platte also nur der Anlass, um auf Tour gehen und schon einmal die Rentenkasse füllen zu können? 

So wirkte es ganz und gar nicht an diesem Mittwochabend in Bonn. Kate Pierson (60), Fred Schneider (57), Keith Strickland (54) und Cindy Wilson (51), verstärkt von drei jüngeren Gastmusikant/inn/en, die Tasteninstrumente/Gitarre, Schlagzeug und Bass bedienten, machten das, was sie schon immer am besten konnten: für gute Laune sorgen. Das von Anfang an freundlich bis enthusiastisch gestimmte Publikum hätte ihnen aber auch keine andere Wahl gelassen. Zum Auftakt gab es pflichtgemäß ein paar Songs von der neuen Platte, dann aber kamen mit „Private Idaho“ und „Strobe Light“ vom Wild Planet-Album die ersten ganz großen alten Stücke – und wegen denen, das war am laut vernehmlichen, anhaltenden Beifall und Jubel unschwer zu erkennen, war ein Großteil des Publikums (einschließlich des Kritikers) vor allem gekommen. 

Gut, der Sound ist heute mainstreamiger, die Gitarre rockiger, das Schlagzeug wie häufig bei Konzerten etwas zu laut – aber es ist nach wie vor und unverkennbar B-52’s, was da von der Bühne kommt. Dafür sorgt zum einen Zeremonienmeister Fred Schneider, der auch mit Ende Fünfzig noch Spaß an schrägen Tanzfiguren, launigen Ansagen und anderen Albernheiten hat, wie etwa eine Textzeile von „Strobe Light“ auf Deutsch zu singen/sprechen: „Ich habe etwas zu sagen!“. Zum anderen treffen die unverwüstlichen Organe von Kate Pierson und Cindy Wilson immer noch jeden Ton. Offensichtlich altern Frauenstimmen besser als Männerstimmen – oder es hat an der einen oder anderen Stelle jemand am Mischpult ein kleines bisschen nachgeholfen, das kann man nie ganz ausschließen. Oder Frauen rauchen und saufen ganz einfach weniger als Männer ... 

Wie dem auch sei: Die inklusive Zugaben rund 90 Minuten boten einen gut abgehangenen Mix aus der Bandgeschichte und Musikern wie Publikum ausreichend Gelegenheit für Hüpf- und Tanzeinlagen. „Love In The Year 3000” und „Juliet Of The Spirits“ machten Appetit, sich mit Funplex vielleicht doch mal etwas ausführlicher zu beschäftigen, und selbstverständlich erwiesen die B-52’s auch ihrer kommerziell erfolgreichsten LP Cosmic Thing Reverenz mit „Roam“ sowie ihrem größten Hit „Love Shack“, den sie in einer ausgedehnten Version spielten und dramaturgisch geschickt ans Ende des regulären Sets platziert hatten.

Mit der ersten Zugabe ging es dann endlich zurück zum bis dahin ausgelassenen Debütalbum und dem Stück, das natürlich auch noch alle hören wollten: „Planet Claire“ mit dem „Peter-Gunn“-Gitarrenriff und Kate Pierson als galaktischer Sirene. Gleich hintendran gab es einen fetten „Rock Lobster“, und als passenden Abschluss in der zweiten Zugabe „Party Out Of Bounds“ von Wild Planet. Danach konnte nichts mehr kommen – was eigentlich schade war, denn „Dance This Mess Around“ vom Erstling hätte man auch gerne mal live gehört. 

Verkünden wir also die frohe Botschaft, die von diesem Konzert ausging: Man kann auch mit knapp Sechzig noch party out of bounds zelebrieren und jede Menge Spaß haben beziehungsweise verbreiten. Das Publikum in Bonn, eine Mischung aus Best Agern und nicht mehr ganz Jungen, schien in seiner Mehrzahl jedenfalls aufrichtig beglückt. 

P.S.: Warum die B-52’s seit neuestem den Apostroph im Bandnamen gestrichen haben und nun offiziell B-52s heißen, war bisher nirgends in Erfahrung zu bringen. Vielleicht sollte man es einfach als Wink mit dem Zaunpfahl verstehen – hier bei uns, im Lande des Deppen-Apostroph’s’s’s...

(20.07.2008 www.kultur-in-bonn.de, dort auch mit Konzertfotos: 
http://www.kultur-in-bonn.de/magazin/kritiken/anzeige/article/1216330119.html)

Und hier noch ein paar Links:
„Private Idaho" http://www.youtube.com/watch?v=n7t7cGwN7_0
„Song For A Future Generation" http://www.youtube.com/watch?v=OCPTS24fbsk
„Planet Claire" http://www.youtube.com/watch?v=1EPP3gkh_00
„Dance This Mess Around" http://www.youtube.com/watch?v=6QpiGh76zTk
 
 
 
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Gut gealtert

1982 ist mir als ertragreiches Jahr für die Pop- und Rockmusik in Erinnerung geblieben. Die Platten aus diesem Jahrgang feiern nun also ihr 25-jähriges, und drei von Ihnen, so wenig sie stilistisch miteinander verbindet, sollen an dieser Stelle exemplarisch gewürdigt werden, weil sie sich – jede auf ihre Weise – verdammt gut gehalten haben. 

Da ist zunächst einmal Shoot Out The Lights von Richard & Linda Thompson zu nennen. Die Thompsons findet man in der einschlägigen Literatur meist unter dem Etikett ‚Folk-Rock’. Stimmt wohl, allerdings handelt es sich dabei um Folk-Rock mit Haken und Ösen, nebst einer nicht unbedingt genretypischen, ziemlich phantastischen elektrischen Gitarre. Die brilliert auf Shoot Out The Lights vor allem in den beiden Soloteilen des Titeltracks. Das ist ein eher langsames, scheinbar unspektakulär daherkommendes Stück Musik mit einem leicht versetzten, brüchig wirkenden Rhythmus, das jedoch dank dieser erfindungsreichen Lead-Gitarre eine enorme Sogwirkung entfaltet. 

Wie Richard Thompson hier sein Instrument streichelt, kitzelt und schrubbt, verfehlt auch nach 25 Jahren nicht seine Wirkung. Der erste Solopart beginnt, als ob er noch gar nicht wüsste, was er denn nun mit dem dafür vorgesehenen Platz anfangen solle. Zunächst langsam, tastend findet er sich hinein und lässt das Solo quasi vor den Ohren des Zuhörers entstehen – oder erweckt zumindest diesen Eindruck. Das ist organisches Gitarrenspiel, das auf dem Song aufbaut und ihn weiterführt bis zum absichtsvoll weggelassenen letzten (Grund-)Ton, und kein Missbrauch des Stücks als Plattform für eine sich selbst genügende Technikshow, wie manche Gitarristen sie nur allzu gerne vorführen. (Am Rande bemerkt: Die auf www.youtube.com zu findenden Live-Mitschnitte von „Shoot Out The Lights“ kann man vernachlässigen, sie reichen an die Studio-Version nicht heran) 

Der Rest des Albums fällt kaum ab. Zu den Titeln, die bleiben, gehören auch der treibende Opener „Don’t Renege On Our Love“ oder die düster-schöne Ballade „Did She Jump Or Was She Pushed“. Und der mit süffigem Gebläse und Fiedeln fett instrumentierte, schwungvolle „Backstreet Slide” findet mit seinen variierten traditionellen (Tanz-)Motiven nach wie vor den unmittelbaren Weg in die Beine.

Ganz nebenbei bestätigt diese Platte das Klischee, wonach aus tiefer persönlicher Misere große Kunst hervorgehen kann. Shoot Out The Lights entstand auf dem Höhepunkt der Ehekrise im Hause Thompson. Kurz nach Abschluss der Aufnahmen war die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Richard & Linda Thompson beendet. 

Zur nächsten bemerkenswerten Platte aus dem Jahrgang 1982 führt kein Übergang, weder musikalisch noch beziehungstechnisch. Das Ehepaar Tina Weymouth (E-Bass) und Chris Frantz (Schlagzeug) gibt’s laut Wikipedia immer noch, und was sie zusammen mit Mastermind David Byrne (Gesang, Gitarre) und Jerry Harrison (Gitarre, Tasten) als Talking Heads musikalisch veranstalteten, hatte mit Folk und Rock wenig bis gar nichts zu tun. Die Talking Heads waren der Inbegriff (und Höhepunkt) von New Wave, und wie und warum sie dies wurden, dokumentiert das Live-Doppelalbum The Name Of This Band Is Talking Heads sehr schön. Es versammelt Aufnahmen aus verschiedenen Schaffensphasen der Band, von den Anfängen 1977 Marke Live im Studio bis zur Welt-Tournee 1980/81, wo sie nur noch große Hallen beschallten und mit einer kompletten Backup-Band plus Gesangsverstärkung an den Start gingen. Angesichts des zuvor auf dem dritten Studioalbum Fear Of Music (1979) angedeuteten und mit Remain In Light (1980) schließlich vollzogenen Stilwechsels hin zu mehr Funk – mit einer kräftigen Prise Ethno-Pop – war es nur folgerichtig, Busta Jones (E-Bass), Steve Scales (Percussion), Bernie Worrell (Tasten) und Nona Hendryx sowie Dolette McDonald (Gesang) mit auf die Reise zu nehmen. Für zusätzliche Farbtupfer an der Gitarre (New Wave, No Wave, Noise, who knows) sorgte zudem Adrian Belew. 

Doch der Reihe nach: „New Feeling“ heißt der Opener dieser Platte, der Titel ist Programm und gibt die Richtung der ersten drei Jahre und Studioalben vor. Schräg schön, immer voller kleiner Brüche und Volten waren diese Stücke, dauerten selten länger als vier Minuten und wurden zusammengehalten von den charakteristischen Stakkati der Rhythmusgitarre(n) und David Byrnes durchdringender, hoher Stimme. Wenn denn ein Song mal so allerliebst harmonisch und im Offbeat hüpfend daherkommt wie „Don’t Worry About The Government“, ist der Widerhaken schon in Text und Gesangsstil eingebaut. Und bevor „Building On Fire“ nach einem für Talking-Heads-Verhältnisse geradezu jubilierenden Auftakt nun etwa ganz ins Hymnen-Fach abdriftet, grätscht Byrne mal schnell mit etwas Wort- und Musiksalat dazwischen. Danach darf ein verhalltes Gitarrensolo das Stück wieder Richtung Schönklang zu seinem Abschluss führen. 

Auf den Seiten drei und vier ist dann Bigband-Sound angesagt. Das lässig groovende Intro zu „Crosseyed & Painless“ (das in der Studio-Version von Remain In Light fehlt) klingt immer noch großartig, samt Übergang zum schnellen, treibenden Riff – aber zum Ende hin zieht sich „C & P“ dann doch a bisserl. Gewisse Längen ließen sich auch an den beiden anderen Siebenminütern „The Great Curve“ und „Houses In Motion“ kritisieren, doch ist das Songmaterial in allen Fällen einfach viel zu gut, als dass diese XXL-Besetzung der Talking Heads es hätte totspielen können. Da empfiehlt es sich einfach, eine jeweils passende Stelle zum Ausblenden zu suchen. Auf ‚Repeat’ stellen kann man hingegen „Life During Wartime“, nach wie vor unwiderstehlich in Rhythmus, Riff und fulminantem Refrain: „This ain’t no party / This ain’t no disco / This ain’t no foolin’ around....“. 

Mit „Take Me To The River” findet The Name Of This Band Is Talking Heads dann seinen würdigen Schlusspunkt (Auch an dieser Stelle der Rat, die Versionen auf youtube besser zu meiden). Der alte, oft gecoverte Soul-Hit von Al Green ist einfach unverwüstlich, und die hier dargebotene Version der Talking Heads immer wieder schön zu hören: Ein ebenso einfacher wie wirkungsvoller Schlagzeugrhythmus legt vor, ein ebenso einfaches wie wirkungsvolles Bass-Riff setzt ein, Gitarren und Tasten setzen herrlich lässig-beschwingt auf dem Riff auf, und dann schmettern einem Nona Hendryx und Dolette McDonald erst einmal den Refrain um die Ohren: „Take me to the ri-ver / Push me in the wa-ter...”. David Byrne singt noch aufgedrehter als sonst und verabschiedet das begeisterte Publikum mit einem für seine Verhältnisse geradezu leutselig klingenden „Thank you!“. Nun, der Dank geht ganz an Sie und Ihre Kolleg/inn/en, Mr. Byrne. Mit einer klitzekleinen Einschränkung: Des Sängers vokale Faxen und Extravaganzen kommen einem nun, im gesetzteren Hörer-Alter, auf die lange Distanz von rund 90 Minuten bisweilen etwas anstrengend vor. Nichtsdestotrotz wünscht man sich nach dem erneuten Abhören dieser Platte, die Talking Heads mögen sich – gerne auch mit Gästen – noch einmal für eine Tour zusammenfinden. 

Das werden die vier Herren Andy Partridge (Gitarre, Gesang), Colin Moulding (Bass, Gesang), Dave Gregory (Gitarre) und Terry Chambers (Schlagzeug) wohl leider nicht mehr tun, denn Andy Partridge ist nach seinem Zusammenbruch auf der letzten gemeinsamen Tour 1982 nie wieder live aufgetreten. Mit dem Doppelalbum English Settlement hatten XTC im gleichen Jahr ein Meisterwerk verspielter, versponnener und ziemlich vertrackter Popmusik abgeliefert. Gleichzeitig waren sie damit näher an Folk dran als alle anderen Bands, die wie sie im weitesten Sinne der New Wave zugerechnet wurden. Als „Pentangle on Mescaline“ soll Andy Partridge die Musik von XTC in dieser Schaffensphase Anfang der 1980er Jahre denn auch einmal augenzwinkernd bezeichnet haben (Pentangle ist eine der klassischen Folk-Rock-Bands der späten 1960er / frühen 1970er Jahre (vgl. Eintrag bei Wikipedia), Meskalin ein Rauschmittel. Genauer gesagt, mit dem Duden: ein Alkaloid einer mexikanischen Kaktee. Was man im Duden nicht alles lernen kann).

Zu den kunstvoll komponierten und arrangierten Stücken kam ein ebenso kunstvoll konzipierter, höchst eigenwilliger Sound. XTC klangen auf English Settlement einfach anders: Viel 12-saitige und Akustikgitarre, kaum einmal ein typischer Buf-Ta-Buf-Ta-Beat mit Snaredrum auf 2 und 4, stattdessen häufig versetzte, synkopierte Rhythmen und Taktschläge, die beim Mitklopfen zu treffen einem als Nicht-Drummer eine gewisse Konzentration abverlangen – siehe/höre zum Beispiel „Jason & The Argonauts“. Bei „No Thugs In Our House“ dagegen scheinen sie ins andere Extrem zu fallen, und legen mit durchgehauenem Stampfrhythmus nebst Stadionrock-verdächtigen E-Gitarren-Riff los. Dabei zu bleiben wäre allerdings viel zu einfach, also schlägt der Song noch ein paar übermütige Kapriolen, gerne auch mal in Richtung Kinderliedhaftes. Dieser kindlich-spielerische Zug in der XTC-Melodik ist besonders ausgeprägt in allen Stücken, die Andy Partridge komponierte. Eines davon, „Senses Working Overtime“, wurde immerhin ein Top-Ten-Hit in Großbritannien. Die etwas geradlinigeren, stärker am klassischen Popsong orientierten Stücke stammen aus der Feder von Bassist Colin Moulding, so „Runaway“ und „Ball & Chain“.

Doch waren XTC immer gut für das Unerwartete und Überraschende, ob es sich um den Einsatz von klassischer Gitarre („Yacht Dance“), exotische (Drum-)Sounds („It’s Nearly Africa“) oder Extrakte aus der Synthesizer-Geräuschküche handelt: experimentell, manchmal sperrig, hie und da auch mit Längen, aber immer hochinteressant. Wer mit Begriffen wie ‚Art-Pop’ nie etwas anzufangen wusste, weiß nach dieser Platte Bescheid. English Settlement, das ist Art-Pop. Und gibt eine überzeugende Antwort auf die Frage, die XTC selbst ein paar Jahre zuvor in einem ihrer Songtitel gestellt hatten: „This Is Pop?“.

Der abschließende Blick in die Platten- und Kassettensammlung macht indes klar, dass es noch weitere Kandidaten aus dem gefühlt gloriosen Popjahr 1982 gibt, die ausführliche Würdigungen verdient hätten: Als da wären zum Beispiel The Blue Mask von Lou Reed, Music For A New Society von John Cale, Beautiful Vision von Van Morrison, Too-Rye-Ay von Dexy’s Midnight Runners und ABC’s Lexicon Of Love. Da wird dann wohl auch mal ein ausgiebiges Wiederhör’n fällig.

(31.03.2007)
 
 
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Wie geht's voran? Gut geht's!

Konzert: Die Fehlfarben im Bürgerhaus Stollwerck am 23.03.2006

"Was ich haben will, das krieg ich nicht / und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht". Es waren diese Zeilen aus Paul ist tot, bei denen das Publikum im recht gut gefüllten Bürgerhaus Stollwerck in Köln am vernehmlichsten reagierte und mit einstimmte. Der Song stammt von ihrem inzwischen kanonisierten und goldveredelten Debütalbum Monarchie und Alltag und ist somit ungefähr genau so alt wie die Fehlfarben selbst, die aus Anlass ihres 26,5-jährigen Bestehens derzeit auf Tour sind. Am Unbehagen mit dem, was man kriegen kann, hat sich offensichtlich weder bei Band noch Publikum viel geändert, und so liefern die Zeilen aus Paul ist tot wohl eine nach wie vor treffende Zustandsbeschreibung einer ganzen Generation. 

Möglicherweise ist das auch der Grund, warum die Fehlfarben nun doch wieder mit einer für ihre Verhältnisse ungewöhnlichen Regelmäßigkeit Platten veröffentlichen und auf Tour gehen. Unzufriedenheit kann eben nicht nur wütend, sondern auch kreativ und produktiv machen. Von Altersmüdigkeit oder gar -milde war an diesem Abend im Stollwerck jedenfalls nichts zu sehen und zu hören. Dafür ist allerdings nicht zuletzt die "Neue" verantwortlich: Der Live-Auftritt zeigte, wie gut den mehr oder weniger gesetzten "älteren Herren" Hein (Stimme), Schwebel (Gitarre, diesmal nicht dabei), Jahnke (Gitarre), Kemner (Bass), Dahlke (Keyboards/Electronics) und Fenstermacher (Keyboards/Percussion) das ungefähr halb so alte Energiebündel am Schlagzeug namens Saskia von Klitzing tut. Wenn "Frauenpower" nicht so ein abgeschmackter Begriff wäre ... 

Frisch und gar nicht retro klangen sie jedenfalls alle zusammen, und bestens aufeinander eingespielt. Alten Klassikern wie Große Liebe und besonders Ein Jahr (Es geht voran) haben die Fehlfarben anno 2006 den charakteristischen klaren, transparenten NDW-Sound mit seinen leicht verhallten funky Gitarren-Stakkati und Saxofon-Einlagen weitgehend entzogen. Stattdessen durchzog ein erdiger, dichter, treibender, eher rockiger als poppiger Sound den Abend. (Wenn man das so sagen darf. Es gab Zeiten, da wäre man stante pede aus der Musikgemeinde exkommuniziert worden, wenn man die Fehlfarben mit der Stilbezeichnung "Rock" in Verbindung gebracht hätte.) Wie dem auch sei: Die Stücke funktionierten auch im neuen Gewand.

Die Fehlfarben boten dabei, wie es sich für eine Jubiläumstour gehört, einen Querschnitt durch ihre Bandgeschichte, der kaum Wünsche offen ließ. Grauschleier und Das sind Geschichten vom Debüt fehlten ebenso wenig wie rund zwei Drittel ihres "Comeback"-Albums Knietief im Dispo von 2003, darunter besonders überzeugend (wie schon auf Platte): Rhein in Flammen, Die Internationale, Club der schönen Mütter und Schnöselmaschine. Dem abwesenden Thomas Schwebel wurde mit Die wilde 13 und dem Country-Song Sonntag Morgen Reverenz erwiesen, letzterer mit den schönen Refrainzeilen "Noch eine Zigarette gegen die Erinnerung / gegen die Vergangenheit". Als finale Zugabe gab's dann auch noch Nichts erreicht meine Welt aus ihrem offensichtlich zu Unrecht (auch vom Rezensenten dieses Konzerts) übersehenen 1991er-Zwischenalbum Die Platte des himmlischen Friedens. Das Stück zählte schon 2003 zu den Höhepunkten ihres Konzerts in der Kölner Live-Music-Hall, das allerdings insgesamt unter schlechtem Sound litt. Immer wenn Uwe Jahnke und Thomas Schwebel die Gitarren gleichzeitig bis zum Anschlag bratzen ließen, kam in der Halle nur noch diffuser Klangbrei an. Davon konnte nun im kleinen Stollwerck gottlob nicht die Rede sein (der bei beiden Konzerten ebenfalls anwesende Kollege von Kultur-in-Bonn.de war diesbezüglich allerdings anderer Meinung und fand auch den Sound im Stollwerck ziemlich durchwachsen), und das monoton-hypnotische Nichts erreicht meine Welt verfehlte auch in einer um eine Gitarre abgespeckten Version nicht seine Wirkung.

"Nichts erreicht" würde so mancher übelwollende Beobachter wohl auch als Überschrift für Peter Heins Karriere wählen. Die Geschichte, wie er Anfang 1981 die immer erfolgreicher und bekannter werdenden Fehlfarben kurz vor Beginn einer großen Deutschland-Tour verließ, sich lange Jahre als Angestellter bei einem Kopiergerätehersteller durchschlug und nur noch gelegentlich als Sänger in Erscheinung trat, ist oft genug in der Musik-Journaille breitgetreten worden. Sollte Hein jemals mit seinem damaligen Entschluss, ein Anti-Star zu werden, gehadert haben, war es ihm jedenfalls nicht anzumerken. Im Aussehen dem Häuptling, in seiner Art eher McMurphy-Nicholson aus "Einer flog über das Kuckucksnest" ähnelnd, ist er nach wie vor ein überzeugender Frontmann, der das große Unbehagen an den Welt- und Zeitläuften immer noch unverstellt und in angemessen schneidenden Texten artikuliert. Und das sicher nicht nur, wenn er sich gerade Knietief im Dispo befindet. Wer sagt eigentlich, dass man sich als Musiker mit fast fünfzig nicht mehr echauffieren sollte? 

Also: Die Fehlfarben sind noch verdammt lebendig. Wer sein 26,5-jähriges so feiert, kann noch reichlich krumme Jubiläen begehen. 33 1/3 würde sich da zum Beispiel anbieten; sie dürfen aber auch gerne früher wiederkommen. Und mal wieder eine "echte" neue Platte machen, statt andere Leute Coverversionen ihrer großen Stücke aufnehmen zu lassen wie auf ihrer aktuellen CD 26 ½ . 

Übrigens, wo wir gerade bei doch noch offen geblieben Wünschen sind: Es gibt ein paar Songs, die hätte man auch im Stollwerck gerne mal wieder gehört. Die Fehlfarben können schließlich aus einem reichhaltigen Fundus schöpfen, haben doch alle Mitglieder auch in mehr oder weniger bekannten und einflussreichen anderen Bands gespielt. Peter Hein zum Beispiel mit Family Five, und deren krachendes Wir haben als Kinder im Rhein gebadet wäre eine Wiederaufführung wert gewesen. Ganz zu schweigen von Der Plan, jener inzwischen legendären Band, in der Kurt Dahlke alias Pyrolator zusammen mit Frank Fenstermacher und Moritz Reichelt einst den Elektro-Pop neu erfand. Aus deren Oeuvre würden Kennern wohl mindestens ein Dutzend Stücke einfallen, die man der Menschheit unbedingt wieder zu Gehör bringen sollte. Mir hätte ja schon jener Plan-Klassiker gereicht, mit dem die Fehlfarben vor zweieinhalb Jahren ihren Kölner Auftritt in fröhlichem Ska-Sound beschlossen: "Draußen am Bahnhof liegt 'ne alte Pizza..."

(Kultur-in-Bonn.de, 28.03.2006)


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