POLITIK UND SO

Bunga Bunga Balla Balla
Laufzeitverlängerung? Was ist denn das für eine Moppelkotze?
Das Namensgen macht den Unterschied 
Ahaus, 24.4.2010, Demonstration gegen das Atommüll-Zwischenlager 
Westerwelle: Zurück in die Opposition
Ein Traktat
Blue Monday
Gore-taz
Wurstige Franzosen
Der Fröhliche Skeptiker
Mehr Freizeit wagen
Der Ökonom begehrt Aufnahme in den Kreis der Naturwissenschaftler
Drink doch eene mit
Heute schon 'ne Statistik gelesen? Mal wieder schlecht in einem "Ranking" abgeschnitten?
Brot


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Bunga Bunga Balla Balla 

Silvio Berlusconi befindet sich eindeutig jenseits von Gut und Böse. In moralischen Kategorien ist der Mann nicht mehr zu fassen. Das alles scheint er lange hinter sich gelassen zu haben, das interessiert ihn nicht mehr. Ihm geht’s nur noch darum, es noch mal richtig krachen zu lassen. Er wird schließlich dieses Jahr 75.

Berlusconi, das ist die ins Groteske verzerrte Übersteigerung des ständig flirt- und kopulationsbereiten Latin Lover, die Kopu…, nein Kapitulation vor dem Klischee. (Ich bitte das Wortspiel zu entschuldigen, gebe aber zu bedenken, dass es dem unter der Gürtellinie liegenden Thema dieses Textes nur angemessen ist.) Es sagt viel über „Il Cavaliere“ Berlusconi aus, wenn Italiens Hardcore-Pornostar Rocco Siffredi, der wahre Italian Stallion, teilnahmsvoll Verständnis für die Nöte seines Premiers äußert. Mit anderen Worten: Die beiden haben ihren Hosenstall nicht unter Kontrolle. 

Siffredi dürfte nicht der einzige sein, der sich in Berlusconi hineinversetzen kann beziehungsweise will. Man möchte gar nicht wissen, in wie vielen Runden mehr oder weniger älterer Herren inner- und außerhalb Italiens er als cooler Hund und alter Stenz abgefeiert wird, der genau das macht, was sie auch nur zu gerne tun würden. Als geborener Populist hat Berlusconi ein Gespür für solche Stimmungen und kokettiert inzwischen offen mit seiner Lustgreisenhaftigkeit. Er ist König und Hofnarr in einem. 

Wie der italienische Journalist und Berlusconi-Kenner Beppe Severgnini in einem Interview mit sueddeutsche.de berichtete, ging Berlusconi vor einigen Wochen beim Spiel seines Vereins AC Mailand gegen Inter zu den Journalisten auf die Pressetribüne und sagte: „Habt ihr schon das Ergebnis der letzten Umfrage gehört, die unter jungen Frauen gemacht wurde? Die Frage lautete: Würdet ihr mit Berlusconi schlafen? 70 Prozent haben geantwortet: Warum nicht? Die anderen 30 Prozent haben gesagt: Nicht schon wieder.“ Der Mann sucht offensichtlich den triumphalen Abgang und möchte den (Frauen-)Heldentod im Bett sterben.

Es passt aber auch alles zu schön in die Klischeekiste: Ein Ministerpräsident wird beschuldigt, strafbaren Sex mit einer minderjährigen Prostituierten marokkanischer Herkunft gehabt zu haben, deren „Künstlername“ auch noch Ruby Rubacuori (Ruby, die Herzensbrecherin) lautet. Nachdem sie aufgrund eines Diebstahlsverdachts von Carabinieri festgenommen wird, ruft der Ministerpräsident höchstpersönlich bei der Polizei an und fordert sie auf, die Herzensbrecherin freizulassen – mit dem Hinweis, es handele sich bei ihr um eine Enkelin Mubaraks, und bei einer Fortdauer der Haft seien diplomatische Schwierigkeiten zu befürchten. Später suchten angeblich Gesandte Berlusconis in Marokko nach Dokumenten, die beweisen sollten, dass Ruby zur Tatzeit doch bereits volljährig war – oder zumindest ihren Auftraggeber in dem Glauben gelassen hätten, sie sei schon volljährig gewesen. Wie soll man das nun nennen, was sie da suchten, eine gefälschte Fälschung? 

Der Unterhaltungswert dieser Geschichte war so hoch geworden, dass ich anfing Italienisch zu lernen, um die Berichterstattung auch in italienischen Medien verfolgen zu können. Unter vielen lustigen Schlagzeilen auf der Internetseite der Tageszeitung Il Fatto Quotidiano ragte eine mit einer Comiczeichnung heraus: „Il re nudo (con le ragazze)“ („Der nackte König mit den Mädchen“) zeigte einen grinsenden B. (so kürzt IFQ den „Cavaliere“ gerne ab) im Kreise leicht bekleideter junger Frauen. 

Letztere waren in der Regel allerdings nicht in Zeichnungen, sondern auf Fotos zu sehen. Ungefähr jeder zweite Online-Aufmacher von Il Fatto Quotidiano, La Repubblica et cetera zeigte ein Porträt von B. (meist den Kopf und ein Stück vom Oberkörper), um das herum Aufnahmen seiner diversen (vermeintlichen und tatsächlichen) Gespielinnen gruppiert waren, welche die äußeren Vorzüge der Frauen mehr oder weniger dezent betonen. Sich über einen zügellosen Lustgreis zu empören ist eben noch schöner, wenn man die Objekte seiner Begierde gleich mit bewundern kann, gell? Die „Rubygate“-Affäre eignet sich in jeder Hinsicht als Musterbeispiel für Demokratiedegeneration.

Denn wer hat eigentlich ein Ende der Ministerpräsidentschaft B.s am meisten zu fürchten, er selbst oder die Medien, die mit ihm Klicks, Quoten und Auflage „generieren“? Politik ohne Silvio B. wäre nur noch halb so belustigend – zumindest für Außenstehende und nicht unmittelbar davon Betroffene. Seit 31.5.2011 kann das interessierte Publikum nun verfolgen, ob die Show auch vor Gericht mit gleichbleibend hohem Unterhaltungswert weitergeht. Immerhin sind es drei Richterinnen, die die Eskapaden ihres MP zu beurteilen haben. 

Einer der Beispielsätze aus meinem Italienisch-Lernbuch lautet: „Abbiamo fatto subito amicizia“, zu Deutsch: „Wir haben uns sofort angefreundet“. Ich stelle mir gerade vor, wie Berlusconi den drei Grazien auf der Richterbank seine Beziehung zu Ruby Rubacuori, mit der er ja keinen Sex gehabt haben will, wie folgt erklärt: „Ruby e io abbiamo fatto subito amicizia!“, begleitet von jenem breiten Verkäufergrinsen, das er vermutlich für unwiderstehlich hält. 

Unvermeidlicherweise wird in der Prozessberichterstattung früher oder später von „Ruby Tuesday“ die Rede sein. Passend dazu begann der Prozess an einem Dienstag, und vielleicht könnte man den Medien auch noch so weit entgegenkommen, Rubys Aussage oder die Urteilsverkündung ebenfalls auf einen Dienstag zu legen. Die englischsprachigen Blätter werden es dann wohl nicht lassen können, zum Wortspiel zu greifen und mit „Ruby Doomsday“ zu titeln. 

Und sollte er tatsächlich verurteilt und aus dem Verkehr gezogen werden, könnte B. ja wieder als Sänger auf Kreuzfahrtschiffen anheuern und zum Höhepunkt seiner Auftritte den 50er-Jahre-Hit Ruby Baby zum Besten geben, von dem es eine schöne Blues-Shuffle-Version auf einem Live-Album des leider bereits verstorbenen Willy de Ville gibt. Dazu könnte er auch gleich good old Willys bleistiftdünnen Oberlippenbart übernehmen, das würde zu jener Aura des Schmierig-Halbseidenen passen, die von B. abstrahlt. Der Text von Ruby Baby ist dem „Cavaliere“ wie auf den lüsternen Leib geschrieben: 

“Well, I got a girl and Ruby is her name
She don't love me but I love her just the same
Whoa, oh, oh, oh, oh, Ruby, Ruby, how I want ya
Like a ghost I'm gonna haunt ya
Ruby, Ruby, when will you be mine

Well, each time I see you, baby my heart cries
(Ruby, Ruby, Ruby, baby)
Well, I'm gonna steal you away from all those guys
(Ruby, Ruby, Ruby, baby)
Whoa, oh, oh, oh, oh, from the sunny day I met ya
I made a bet that I would get ya
Whoa, oh, oh, oh, oh, got some lovin', money too
Gonna give it all to you
Ruby, Ruby, will you be mine”

Auch in Italien bemühte man sich unterdessen, der Angelegenheit ihre komischen Seiten abzugewinnen. So wurde aus Berlusconis Villa Ancore, in der die Sexpartys stattfanden, die „Villa Hardcore“, und laut Zeitungsberichten erwägen Pornoproduzenten allen Ernstes, einen Film über die Affäre zu drehen. Für die Hauptrolle käme da eigentlich nur Charlie Sheen in Frage. Als deutscher Verleihtitel eignen würde sich „Bunga Bunga im Bungalow“, oder auch „Bunga Bunga Bunga Täteräää“. (Ich entschuldige mich abermals für Wortspiel bzw. Anspielung, jedoch: siehe oben.) Und zum ebenso stimmungs- wie niveauvollen Schluss dieses Meisterwerks sollte B. in schwarzweissquergestreifter Sträflingskluft die Gitterstäbe seines Zellenfensters umklammern, aufs Meer hinausschauen und Azzurro singen. 

Mit diesem unverwüstlichen Stück ist Adriano Celentano, seit Jahren einer von Berlusconis schärfsten und populärsten Kritikern, in den 60er Jahren berühmt geworden. Auf youtube findet man ein Schwarzweiß-Video von Azzurro aus dem Jahr 1966, das direkt in die Steinzeit der Musikvideo-Ästhetik zurückführt: Drei Minuten nahezu statische Kamera, zwei oder drei Wechsel von der Naheinstellung auf eine Großaufnahme des Gesichts von Celentano, der mit abwechselnd vor der Brust verschränkten oder in die Hüfte gestemmten Armen scheinbar gründlich gelangweilt im Bild steht, dann aber wie auf Kommando sein berüchtigtes charmantes Grinsen einschaltet. Treffender Kommentar eines Nutzers dazu: „Der könnte einem Eskimo Kühlschränke verkaufen“. Nicht viel anders wirkt Berlusconi zumindest auf eine Hälfte der Italiener. Celentano und Berlusconi: In gewisser Weise kommen sie einem wie das Doppelgesicht Italiens vor. 

Da böte sich doch glatt ein weiterer Film an, nämlich eine Variation von Il buono, il brutto, il cattivo, hierzulande unter dem eine Hauptfigur unterschlagenden Titel Zwei glorreiche Halunken gelaufen und besser bekannt als The Good, The Bad And The Ugly. In den Hauptrollen zu sehen wären Celentano (buono), Berlusconi (brutto) und der separatistisch-rassistische Lega-Nord-Politiker und Berlusconi-Verbündete Umberto Bossi (cattivo).

Man sieht, es gibt schier unbegrenzte Möglichkeiten, die Silvio-Soap fortzuspinnen. Wünschen wir den drei Richterinnen, dass sie die beste Fortsetzung finden. Nur eines sollten sie ihm besser nicht als Strafe auferlegen: Sozialstunden in einem Mädchenpensionat.

(10.06.2011)
 
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Laufzeitverlängerung? Was ist denn das für eine Moppelkotze?

Es gibt nun wirklich Wichtigeres als die Causa Sarrazin & Co. Zum Beispiel die Bundesregierung und ihre Atompolitik – jetzt auch mit geheimen Zusatzklauseln in Verträgen, die um exakt 5.23 Uhr morgens ausgefertigt werden und zu deren Unterzeichnung ein Staatssekretär von Vertretern der Atomwirtschaft aus dem Bett befohlen, Pardon, geklingelt wird. Diese Regierung macht es einem wirklich sehr leicht, ihr ein baldiges Ende zu wünschen. Dabei muss sie ja noch bis 2013 halten. Vorher ist keine halbwegs realistische rot-grün-rote Alternative in Sicht. Und selbst wenn es 2013 eine rechnerische Mehrheit dafür gäbe, müsste man immer damit rechnen, dass SPD und Grüne die wirtschaftsliberale Schwundpartei mit ins Boot nehmen würden, falls es für eine Regierungsbildung reichte. Denn für noch wichtiger als eine rechnerische wird die „gesellschaftliche Mehrheit“ für eine bestimmte Politik und eine bestimmte Koalition gehalten. 

Diese gesellschaftliche Mehrheit gibt es in der Anti-Atompolitik konstant seit Jahrzehnten. Das muss aber nicht nur der Politik und dem Energie-Oligopol immer wieder deutlich gemacht werden. Die gesellschaftliche Mehrheit gegen die Nutzung der Kernenergie sollte auch sich selbst gelegentlich daran erinnern – und den anderen in Erinnerung bringen – , dass es sie gibt. Dazu haben Sie jetzt die Gelegenheit, indem Sie erst einmal den „Appell gegen Merkels Atompläne“ bei www.campact.de mitunterzeichnen (Man könnte doch glatt auf die Idee kommen, als Kampagnen-Motto vorzuschlagen: „Seit 5.24 Uhr wird zurückunterschrieben“). Und/Oder am Samstag, den 18. September in Berlin gegen die Pläne zur Laufzeitverlängerung mitdemonstrieren (mehr dazu unter www.anti-atom-demo.de). Danach wird man weitersehen. Alles schön der Reihe nach. Den Stromanbieter haben Sie natürlich schon längst gewechselt, gell? 

(13.09.2010)
 
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Das Namensgen macht den Unterschied

Man soll keine Witze mit oder über Namen machen. Doch nun muss dieses Tabu gebrochen werden, um – ganz im Stile und mit der Methodik des viel beachteten Freizeit-Genetikers und Hobby-Ethnologen Dr. Sarrazin – eine längst überfällige Debatte anzustoßen und eine unangenehme, oft verschämt verschwiegene Wahrheit auszusprechen: Entscheidend für eine aggressive, verächtliche Haltung gegenüber bestimmten Volksgruppen und Schichten ist nämlich das Namensgen. Wenn man die Namen von hiesigen Hauptvertretern eines aggressiv-elitären Konservatismus (mit fallweise unterschiedlich stark ausgeprägter Pöbel- und Migrantenverachtung) mit wissenschaftlichem Blick unter die Lupe nimmt, wird man unweigerlich zu diesem Schluss kommen. Von wegen „Namen sind Schall und Rauch“; nomen est und bleibt omen. 

In den Fällen Bolz und Hundt, die gewissermaßen die Fußtruppe bilden, dürften keine weiteren Erklärungen nötig sein; sie tragen sozusagen sprechende Namen. Bei Henkel wiederum liegt eine Verwischung vor (Nicht Vermischung, wo denken Sie hin?): Henkel müsste eigentlich Henker heißen, doch bei der engen Verwandtschaft der beiden Konsonanten ‚l‘ und ‚r‘ ist im Laufe der Sprachgeschichte bei den Henkers etwas durcheinander geraten, was unter linguistischen Experten auch als „etymologische Velwechslung“ bezeichnet wird.* Das aus dem Niederländischen entlehnte Sloterdijk hingegen ist als Geno-, Phäno- und Archetyp in einem zu verstehen und liefert den Oberbegriff für eine Gattung, deren einzelne Arten übel ausschlagen, wie etwa das Beispiel der niederländischen Fußballnationalspieler beweist, die im WM-Finale nach allem traten, was im Trikot des Wirtschafts- und Finanzkrisenverliererlandes Spanien aufgelaufen war (hervorstechendster Einzelfall: Nigel „Karatekick“ de Jong). Sarrazin selbst wiederum entspringt einem alten Stamm blutrünstiger Sarazenen, sprich Orientalen/Arabern/Muslimen, und es ist bekanntlich (geno-)typisch für ausgeprägt rechtsdrehende SPD-Probanden, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihre Herkunftsmilieus zu bringen und deren Vertreter fürderhin mit Abscheu und Verachtung zu behandeln. Bei Clement, ebenfalls aus der SPD-Rechten stammend, scheint es zunächst so, als ob die Theorie nicht stimmen könne, bedeutet doch lat. ‚clementia‘ so viel wie ‚Milde‘ und ‚Güte‘. Ein Blick auf die namensgenetische Hilfsvariable ‚Vorname‘ erhellt den Sachverhalt: Wir haben es hier mit einem Wolf-Gang zu tun. Zudem handelt es sich um ein typisches Beispiel dominant-rezessiver Vererbung, bei der in drei von vier Fällen das dominante Merkmal – hier ‚Milde‘ – weitervererbt wird, der vierte dafür aber schwerst rezessiv ausfällt.** Schließlich ist noch der Schriftsteller Mosebach zu nennen. Dessen Name scheint auf den ersten Blick ebenfalls nicht aggrogen zu sein, muss aber nur als literarisches Rätsel, genauer gesagt als Anagramm gelesen werden, und schon enthüllt sich der darin verschleierte aggressive Konservatismus: Boesmach. 

Bolz, Hundt, Henkerl, Sloterdijk, Sarrazin, Clement, Boesmach: In summa bilden sie sozusagen die glorreichen Sieben, die G7, oder einfach: die Gen-7 eines elitär-aggressiven Konservatismus, als dessen konstitutives Merkmal die namensgenetische Verwandtschaft anzusehen ist. Was zu beweisen war, streng wissenschaftlich und unwiderlegbar. Howgh.


* Chinesen kennen den Unterschied zwischen ‚l‘ und ‚r‘ bekanntlich nicht einmal und müssen deswegen als genetisch defektiv – und ergo: dümmer – gelten.

** Noch nicht abschließend geklärt werden konnte die namensgenetische Taxierung des sozialdemokratischen Reichswehrministers während der ersten beiden Jahre der Weimarer Republik, Gustav „Einer muß den Bluthund geben“ Noske, als dessen Wiedergänger Dr. Sarrazin manche betrachten. Führende Experten nehmen jedoch an, dass dieses Problem in namensgenetischer Hinsicht ähnlich aufzulösen ist wie der Fall Clement: Analysiere man nämlich die Bestandteile von Noske, komme man auf NO SKE!, was ausgeschrieben „Kein Schießkommandoeinsatz!“ bedeute. Dies aber stehe in fundamentalem Gegensatz zum tatsächlichen Handeln des besagten Noske, was die Vermutung nahelege, dass es sich auch hier um einen rezessiven Fall dominant-rezessiver Vererbung handelt.

(06.09.2010)
 
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Ahaus, 24.4.2010, Demonstration gegen das Atommüll-Zwischenlager 

Es ist zwar die kleinste Anti-Atomkraft-Aktion an diesem Wochenende, aber auch die am besten zu erreichende, wenn man in Nordrhein-Westfalen wohnt. Erster Eindruck am Bahnhof Ahaus, wo sich der zentrale Sammelplatz befindet und die Auftaktkundgebung vonstatten geht: Gut besucht und gut gemischt, hinreichend Luftballons, Fahnen und Plakate sowie vereinzelte Umhängeschilder, Musik- und Lärminstrumente sind auch zu vernehmen. Es dominieren die gelben Farbtöne der Atomkraftgegner vor den parteigebundenen grünen und roten, ein paar orange von attac sind auch dabei. Teilnehmer aus allen Alterskohorten, kein Geschlechterüberhang, die meisten in mehr oder weniger rustikalen Freizeitklamotten. Schlipsträger findet man nur unter den die Veranstaltung begleitenden Polizistinnen und Polizisten. Es gibt die üblichen Ansprachen, begleitet von anfänglichen Problemen mit der Lautsprecher-Übertragungsanlage, sodass die ersten Redner und Rednerinnen nur bruchstückhaft zu verstehen sind. 

Immerhin, zur Begrüßung russischer Anti-Atomkraft-Aktivisten, von denen zwei sprechen sollen (und übersetzt werden), ist das Lautsprecher-Problem gelöst. Gut so, sonst hätte man die folgende, unfreiwillig komische Einlage nicht mitbekommen: Der (männliche) Übersetzer gibt mit leichtem westfälischen Akzent den ersten Satz der russischen Aktivistin wieder: „Ich bin die Olga!“ *

Was die Olga zu erzählen hat, lässt allerdings vermuten, dass sie diese Veranstaltung an einem wettermäßig nahezu perfekten, sonnigen Frühlingstag in einem beschaulichen westfälischen Mittelzentrum als Urlaub vom Demonstrieren zuhause empfinden muss. Massive Repressionen durch die Staatsorgane und ihre Bediensteten sowie Einschüchterungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen von Atomkraftgegnern sind demnach in Russland an der Tagesordnung, und wirklich groß ist der Rückhalt der Öko-, Umwelt- und Antiatom-Aktivisten in der Bevölkerung nicht. Die einzigen echten Verbündeten seien die Anarchisten – was einem die russische Anti-Atom-Bewegung bestimmt nicht unsympathischer macht. 

Ein weiterer Redebeitrag macht dann unmissverständlich klar, warum Protest und Widerstand gegen Kraftwerke, Laufzeitverlängerungen, Zwischen- und Endlager auch hier zu Lande immer notwendig bleiben werden. Die Sprecherin einer der kirchlichen Landfrauen-Gruppen, die sich an dem Aktionsbündnis beteiligt haben, schildert, wie und warum sie vor mehr als 20 Jahren dazu stieß: Als sie seinerzeit im städtischen Rathaus ihre Bedenken gegen das Zwischenlager vortrug und weitere Informationen verlangte, bekam sie von dem zuständigen Beamten zur Antwort: „Das hat eine Ahauser Hausfrau nicht zu interessieren!“ Man darf davon ausgehen, dass nicht gerade wenige Politiker, Verwaltungsbeamte und natürlich Atomindustrielle das immer noch genauso bzw. ähnlich sehen – egal ob in Ahaus, Biblis, Brunsbüttel oder Hamburg, und egal welchen Geschlechts der jeweilige unbotmäßige Fragesteller ist. 

Der Demonstrationszug vom Bahnhof Ahaus zum Zwischenlager in Ahaus-Ammeln wird dann allerdings zur Konditionsfrage. Angekündigt waren auf den Infoseiten im Internet rund vier Kilometer Wegstrecke, gefühlt war's doppelt so lang. Und dann das Ganze noch einmal zurück ... Veranstaltungswerbung ist eben auch Werbung, und die sagt bekanntlich nie die ganze Wahrheit. Jedenfalls ist der Marsch über plattes Land mit Feldern, ein paar Bäumen, ein paar versprengten, abseits der Straße liegenden Häusern und sonst nix eher ein Anti-Klimax, den offensichtlich alle Beteiligten so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen. 

Das Zwischenlager befindet sich da, wo solche dubiosen Einrichtungen immer angesiedelt werden, somewhere in the middle of nowhere, ohne große Schilder, Firmenzeichen oder ähnliche schon aus der Entfernung zu erkennende Symbole. Anscheinend wollen nicht einmal die Betreiber selbst mit dem Ding etwas zu tun haben. Das Hauptgebäude ist eine riesige Lagerhalle, ein rechteckiger Kasten in grau und ziegelrot, laut Wikipedia ungefähr 200 Meter lang, 40 Meter breit und 20 Meter hoch. Auf einer eingezäunten Grünfläche neben der Zufahrt zum Zwischenlager weiden ein paar Tiere, es muss sich um Bisons beziehungsweise Wisents handeln. Oder sind das schon umgebungsbedingte Mutationen, scheinen die Hörner nicht unnatürlich groß und gewunden ... 

Vor Zufahrt und Umzäunung hat sich die Polizei aufgebaut. Den Beamtinnen und Beamten bleibt nicht viel mehr zu tun, als im Abstand von ein paar Metern zueinander in einer Reihe zu stehen. Auch so eine Art Menschenkette, allerdings nicht unbedingt der freiwilligen Art. Sollten im Sommer oder Herbst Castor-Transporte nach Ahaus rollen, dürften sie allerdings alle Hände voll damit zu tun haben, Sitzblockierer wegzutragen. Denn die werden zahlreich kommen, diesen Eindruck vermitteln Demonstration und Abschlusskundgebung ziemlich unmissverständlich. 

Eine weitere Rednerin berichtet von der RWE-Hauptversammlung, auf der sie in der letzten Woche gesprochen hat, und ruft in diesem Zusammenhang noch einmal einen der jüngsten Erfolge der Anti-AKW-Bewegung in Erinnerung: Die Verhinderung des von RWE geplanten Baus eines Kernkraftwerks im bulgarischen Belene. Dabei handelte es sich um einen Reaktortyp, der in Westeuropa aus Sicherheitsgründen niemals zugelassen würde, im korrupten Bulgarien aber durchgewunken wurde. Nun wolle RWE aber – offensichtlich aus Schaden nicht klug geworden – dasselbe mit einem AKW in Cernavoda beim Korruptions-Vizeeuropameister Rumänien versuchen. Der Aufruf, auch dies zu verhindern und entsprechende Protestmails an RWE zu verschicken, sei hiermit nachdrücklich unterstützt. Vielleicht nimmt sich ja www.campact.de der Sache noch an und startet eine Mail-Aktion mit ähnlich erfolgreichem Ausgang wie jene zu Belene. 

Einer der letzten Sprecher listet in einem längeren Redebeitrag noch einmal die Sünden der hiesigen Klima-, Atom-, und Kohlepolitik auf und schlägt den Bogen über den reinen Anlass der Demo hinaus: Eine Wende hin zu einer anderen Energiepolitik und letztlich zu einer Politik, die insgesamt unter sozial-ökologischen Vorzeichen betrieben würde, erfordere ein breites, vernetztes Bündnis, zu dem eben nicht in erster Linie Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Kirchen, sondern vor allem die vielen unterschiedlichen Initiativen bzw. single-issue-movements beitragen müssten, die sich jeweils eine Sache, ein Anliegen auf ihre Fahnen geschrieben haben, sei es Hartz IV/Mindestlohn, Bildung und Ausbildung, Gleichberechtigung und Anti-Diskriminierung, Konfliktprävention, Krisen- und Entwicklungshilfe, Regulierung der internationalen Finanzmärkte, Umwelt-, Arten- oder auch Datenschutz. Wirkung zeigen könne eine solche Bewegung indes nur, wenn sie sich nicht nur ab und an bei Wahlen und Demonstrationen zeige, sondern ein dauerhaftes Engagement mit entsprechenden Organisations- und vor allem Vernetzungsstrukturen aufbaue. Da hat der Mann sicher Recht. Und das wird schwierig, da mache man sich keine Illusionen.

Nicht zuletzt weil es mit der Einigkeit unter den ganzen verschiedenen Gruppen so eine Sache ist. Natürlich waren, wie eingangs erwähnt, unter den Teilnehmern auch viele Parteiverbände von Grünen, SPD und Linken sowie deren Nachwuchsorganisationen am Start. Ob die drei ein solch breites gesellschaftliches Bündnis, wie es der Kundgebungsredner skizzierte, wirksam unterstützen könnten, darf man derzeit noch mit Fug und Recht bezweifeln – trotz durchaus ermutigender Zeichen wie der Einrichtung des „Instituts Solidarische Moderne“, die von einer Reihe bekannter Politikerinnen und Politiker aus den drei „linken“ Parteien betrieben wurde.

Das ändert allerdings nichts daran, dass man sich untereinander an der Basis nicht unbedingt grün ist. Auf dem Rückweg von der Abschlussveranstaltung der Demo rufen ein paar schwarz gekleidete Jugendliche – offensichtlich linke Nachwuchsautonome, die offensichtlich auch nicht mehr ganz nüchtern sind – einer vor ihnen laufenden Gruppe von 20-30 Jahre älteren, an den Fahnen als Sozialdemokraten zu erkennenden Demonstranten zu: „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten! Wer war mit dabei – die grüne Partei!“. Auch einige Ortsverbände der Linken in NRW plakatieren mit ähnlichen Slogans im NRW-Landtagswahlkampf. 

Wirklich wundern dürfen sich Sozialdemokraten und Grüne über solche Schmähungen nicht. Sie haben in ihren sieben Jahren in Berlin im Namen einer angeblich alternativlosen Realpolitik viel zu wenig von dem umgesetzt, was sie angekündigt hatten. Wie sich nun zeigt, ist auch der Ausstieg aus dem von ihnen beschlossenen Atom-Ausstieg wieder möglich. CDU und FDP wollen die Restlaufzeiten der bestehenden Atommeiler wieder verlängern, wogegen es allem Anschein nach keine rechtliche Handhabe gibt. 

Wohl aber eine politische. Die insgesamt mehr als 120.000 Leute, die in Ahaus, Biblis und zwischen Hamburg und Brunsbüttel am 24. April demonstriert haben, sollten der Anti-Atomkraft-Bewegung (und darüber hinaus auch allen anderen Nichtregierungsorganisationen, die für eine andere Politik jenseits des Neoliberalismus eintreten) weiteren Schwung verleihen. Für Juli und Oktober dieses Jahres sind bereits die nächsten Aktionen angekündigt. Dann kommen die Castoren. 

P.S. Ich lese, dass die Sonntagsausgabe des Frankfurter Allgemeinen Fachblatts für neoliberale und neokonservative Befindlichkeiten es am 25.4. tatsächlich geschafft hat, die Anti-Atomkraft-Proteste, an denen sich tags zuvor mehr als 120.000 Menschen beteiligt hatten, in einer fünf Sätze langen dpa-Meldung zu verschw... pardon, das muss natürlich heißen: „redaktionell angemessen zu berücksichtigen“.

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*Das aktiviert sofort die Untiefen des Filmgedächtnisses: Es gab doch mal einen 50er-Jahre-Brüller namens Tante Olga von der Wolga, und als ob das nicht schon des „Lustspiels“ genug wäre, auch noch Tante Jutta aus Kalkutta sowie Tante Wanda aus Uganda. Und da jeder Blödsinn spätestens nach einer Generation wiederkommt, haben uns die frühen Siebziger weitere „Tanten“-Filme beschert – mit Rudi Carrell und Ilja Richter als Tanten. Und damit genug der völlig abseitigen Exkurse. 

(29.04.2010)
 
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Westerwelle: Zurück in die Opposition 

Guido Westerwelle ist und bleibt auch im Regierungsamt der letzte Ideologe der deutschen Politik. Was für ein augenfälliger Gegensatz zu seinem Vorvorgänger Fischer: Da hatte das, was sich hierzulande als Bürgertum versteht, noch pikiert bis entsetzt die Augenbrauen hochgezogen, als der ehemals linksradikale Straßenkämpfer Außenminister wurde. Nur um nachher umso befriedigter feststellen zu können, dass sich Fischer nahtlos in die hiesige Außenminister-Tradition einreihte. Barbar gründlich sozialisiert, von linksaußen zu ultra-staatstragend. Eine „demokratische Erfolgsgeschichte“ kann so etwas nur nennen, wer allen Ernstes glaubt, in der besten aller möglichen Welten zu leben.

Das immerhin glaubt Guido Westerwelle nicht. Er ist angetreten, eine „geistig-politische Wende“ herbeizuführen. Er versteht sich als Überzeugungstäter, oder tut zumindest so, als wäre er einer. Es stört ihn nicht, dass die große Mehrheit der Deutschen gar nicht von ihm geistig-politisch gewendet werden will. Wer mag schon die FDP? Genau daraus zieht Westerwelle seine destruktive Energie, die er als schöpferisch verstanden wissen möchte: Viel Feind, viel Ehr', und Recht hab' ich. 

Aber warum ist er dann ausgerechnet oberster Diplomat und Außenminister geworden? Viel angemessener für Westerwelles Wende-Ambitionen wäre ein kombiniertes Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit wie jenes, dem sein Gesinnungs- und vielleicht einmal künftiger Parteifreund Clement zwischen 2002 und 2005 vorstand. Da hätte er sich austoben können, am Ende vermutlich genauso wenig bewirkt wie der nunmehrige Atomlobbyist, und die liebe Seele hätte vielleicht Ruhe gegeben. 

Westerwelle ist eine der seltsamsten und unzeitgemäßesten Erscheinungen, die man in der deutschen Politik je vorgefunden hat. Der Neoliberalismus, den er vertritt, ist gescheitert und widerlegt. Dieses Modell von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft dürfte keine Zukunft mehr haben, auch wenn es lange dauern wird, bis seine Folgen überwunden sind. Wenn es stimmt, dass rot-grün 1998 zehn Jahre zu spät an die Regierung kam, dann ist jetzt auch Westerwelle zehn Jahre zu spät dran. Der störrische Trotz, mit dem er seine Positionen verteidigt, sein permanentes Beleidigtsein und das Immer-wieder-nachtreten-müssen-und-nicht-nachgeben-können sind es vor allem, die ihn zu einer ständiges Kopfschütteln bis Fremdschämen hervorrufenden Figur machen. Wenn er wenigstens nicht so unnatürlich und roboterhaft sprechen und wirken würde, wäre man ja noch geneigt, ihm als mildernden Umstand so etwas wie eine „Haltung“ zu attestieren. 

Und wenn es nicht so abseitig weit hergeholt klänge, könnte man Westerwelle auch als Wiedergänger von Franz-Josef Strauß interpretieren. Der war genauso rechthaberisch und dünnhäutig, witterte überall Kampagnen gegen sich – zum Beispiel, wenn es um mangelnde Trennschärfe zwischen politischen und geschäftlichen beziehungsweise privaten Angelegenheiten ging – und wollte jederzeit den Sozialismus zu Wasser, zu Lande und in der Luft bekämpfen. Und er blieb in seinem Amt als bayrischer Ministerpräsident auch dann noch weiter auf Opposition, Krawall und Populismus gebürstet, als CDU/CSU und FDP 1982 in Bonn die Bundesregierung übernommen hatten. Da Strauß nicht schwul war, konnte er Kritikern seiner Person und Amtsführung immerhin nicht latente Schwulenfeindlichkeit unterstellen. Was Westerwelle wiederum ohne mit der Wimper zu zucken tut und damit zeigt, dass er sich auch in puncto Skrupellosigkeit durchaus mit Strauß messen kann. Im Unrecht waren bei FJS und sind bei Guido W. immer die anderen. 

Die anderen, das sind vor allem die, die einem angeblich links stehenden Zeitgeist anhängen. Nur: „Linker Zeitgeist“, was ist das anno 2010 für ein lächerliches Zerrbild! Deutschland ist wie die meisten europäischen Länder in den letzten zwanzig Jahren deutlich nach rechts gerückt, wie nicht zuletzt die vielen, auch von als „links“ und als „liberal“ etikettierten Parteien mitbeschlossenen Gesetzesänderungen zur inneren und äußeren Sicherheit belegen. Mehr linken Zeitgeist und linken Liberalismus bräuchte es in der Tat, den Liberalismus einer Westerwelle-FDP gewiss nicht.

Und wieso fallen Linke immer wieder darauf herein, dass ihre Gegner „Freiheit“ und „Sozialismus“ als Gegensatzpaar denken und darstellen? Ein Sozialismus ohne individuelle Freiheiten und Freiheitsrechte wäre in der Tat nichts wert. Wenn die Linken „Eier“ (ein Ausdruck, den der bekannte Selbstmotivationsexperte Oliver Kahn geprägt hat) hätten, dann hätten sie den einfachen, aber effektiven, einst von der CDU erfundenen und inzwischen zum Mantra der Westerwelle-FDP gewordenen Spruch „Freiheit statt Sozialismus“ standhaft und hartnäckig mit „Freiheit und Sozialismus“ gekontert. 

Es hilft gelegentlich, daran zu denken, dass man den Gegner mit dessen eigenen Waffen schlagen kann. Wie wäre es mit „Liberalismus muss sich wieder lohnen“? Denn: „Liberalismus hat etwas Besseres verdient.“ Etwas Besseres als die FDP allemal, also: „Linksliberal, das ist liberal ohne FDP. Eben der bessere Liberalismus.“ Gut, es darf nicht nur gegen die FDP gehen, also auch: „Lieber linksliberal als rechtsridikül“. (Und nicht zu vergessen der Klassiker: „Liberal heißt im liberalen Sinne nicht nur liberal“, den einst Loriot in einem satirischen Sketch über TV-Politikerrunden den FDP-Teilnehmer als einzigen, stereotyp wiederholten Diskussionsbeitrag aufsagen ließ, egal um welche Frage es gerade ging. Es muss sich da wohl um ein Vorläufermodell für die maschinelle Sprechweise des jetzigen FDP-Chefs gehandelt haben.)

Was Linksliberale offensichtlich nicht so gut können, ist kämpfen. Das sollten sie aber so langsam mal lernen. Oder wollen sie etwa, dass Westerwelle länger als vier Jahre Außenminister bleibt? Der Mann gehört einfach in die Opposition. Das kann er nun mal am besten. 

Und so würde es dereinst als bleibendes historisches Verdienst der derzeitigen, beispiellos dilettierenden schwarz-gelben Regierung gelten, dass sie den Menschen im Lande endgültig die Angst vor einer rot-grün-roten Regierung genommen hätte – gegebenenfalls auch über den Umweg einer schwarz-grünen Bundesregierung. Wer weiß das schon, die Grünen sind ja bekanntlich inzwischen „vor nix mehr fies“. 

Allerdings würden auch mit rot-grün-rot keine goldenen Zeiten für die Demokratie anbrechen. Dazu müssten die regierten Demokraten schon selbst ihren Teil beitragen, indem sie durch eine permanente bürgerbewegte Druckkulisse dafür sorgten, dass eine solche rot-grün-rote Regierung auch das täte, wofür sie gewählt worden wäre. Mit Schönwetterdemokraten, die meinen, mit der Wahrnehmung ihres aktiven Wahlrechts auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene ihre staatsbürgerlichen Pflichten erfüllt zu haben, wird die Formel „Regiert euch selbst!“ jedenfalls nicht einzulösen sein. 

(22.03.2010)
 
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Ein 50 Seiten langes Traktat über Innen- und Außenpolitik, Achtundsechzig, Klimawandel, welche PARTEI man überhaupt noch wählen kann et cetera. Nur für Lesewillige, die keine Angst vor ausschweifenden Bit- und Byte-Wüsten haben.
 
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(14.07.2008)


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Blue Monday

Seit November ist bei mir jeden Montag blauer Montag. Ich habe mehr Zeit zur freien Verfügung eingekauft und auf 4-Tage-Woche umgestellt. So gehe ich also am ersten November-Montag nicht in der üblichen Montagsstimmung in eine der üblichen Mittagspausen, sondern schlendere vergleichsweise entspannt von zuhause aus zum fünf Minuten entfernten türkischen Imbiss, um dort eines der Tagesgerichte zu verkosten. Die kommen nämlich etwas billiger als ein kompletter Dönerteller, wechseln jeden Tag und sind im Preis-Leistungs-Verhältnis nahezu unschlagbar. Und schließlich muss der teilzeitbedingte Kaufkraftverlust ja irgendwie aufgefangen werden. 

Im Imbiss ist nicht zu viel los und noch einer der Tische frei, die entlang der an einem Stück verlaufenden Sitzbank an der rechten Wand aufgereiht stehen. Am anderen Ende dieser Bank sitzt einer, der wohl häufiger hier zu Gast sein muss. Er unterhält sich über den ganzen Raum hinweg mit den Imbissleuten, die hinter der Theke stehen und ihn mit „Ringo“* ansprechen. 

Ringo ist offensichtlich Anhänger des ortsansässigen Fußball-Zweitligisten, denn er beschwert sich gerade vernehmlich über die letzte schwache Leistung seines Vereins. Ringo ist ein vierschrötiger, massiger Kerl um die Fuffzig mit Brille und Schnäuzer, gekleidet in Cordhose, Hemd und Pullover plus Trenchcoat. Von welcher beruflichen Verrichtung er gerade Mittagspause macht, ist schwer zu sagen. Was er den Jungs hinter der Theke über seinen Werdegang erzählt haben könnte, darüber lässt sich hingegen trefflich spekulieren. Denn Leute wie Ringo findet man häufiger in Imbissbuden und Eckkneipen. Sie geben meist schon nach zwei Minuten ungefragt ihre bewegte Lebensgeschichte zum Besten, in der sie früher wahlweise (beziehungsweise im Wechsel) bei der Fremdenlegion, im Knast oder als Preisboxer tätig waren. Manche zeigen, gleichsam als Echtheitsnachweis für ihren schätzungsweise zu 90 Prozent aus Seemannsgarn bestehenden Lebenslauf, auch noch Tätowierungen mit irgendwelchen geheimnisvollen Nummern oder Erkennungszeichen vor. 

Indes ist unser Ringo hier weiterhin schwer mit der Ursachenforschung für eine zum wiederholten Male in dieser Saison unbefriedigende, im heutigen Sportreportsprech auch gerne als „ohne Leidenschaft vorgetragen“ klassifizierte Vorstellung des 1. FC beschäftigt. Schließlich glaubt er, die Wurzel des Übels gefunden zu haben: „Dat sin ja alles Ausländer! Die han zwei Jahre Vertrag un dann sin se widder weg!“ Die bizarre Komik der Situation entgeht Ringo. Die Imbissleute sind schließlich auch „Ausländer“. Aber sie sind natürlich keine Döner-Söldner, die ihre Bude nach zwei Jahren dichtmachen und weiterziehen. Nein, „seinen“ Türken um die Ecke hat der Kölner gemeinhin schnell als kölschen Türken eingemeindet.

Doch ausschließlich komisch ist die Situation nicht: An dieser Stelle wäre ganz klar ein Einspruch fällig gewesen. Beziehungsweise eine Frage an Ringo. Sie hätte lauten müssen: „Wie heißt eigentlich der Spieler, dem der FC es hauptsächlich zu verdanken hat, dass er immer noch vom Aufstieg träumen darf? Der nebenbei auch die Torschützenliste der 2. Liga anführt?“ Die einzig mögliche, korrekte Antwort auf diese Frage wäre „Novakovic“ gewesen. Darauf hätte sich wiederum die folgende Replik angeboten: „So so, Novakovic. Klingt irgendwie nicht danach, als ob der aus Köln, Bergisch Gladbach, Bergheim oder Düren kommt.“ Tut er auch nicht, der Mann ist Slowene. Also Ausländer. Und dann hätte man Ringo gleich noch fragen müssen, was er eigentlich von Novakovics Sturmkollegen mit dem ziemlich deutschen Namen Helmes (tatsächlich „alles Ausländer“?) hält. Der Mann ist nämlich ab nächster Saison Bayer Leverkusener. Also schlimmer als Ausländer.**

Schließlich hätte man Ringo auch die Frage stellen können, ob er denn wirklich glaube, dass sich alles zum Besseren wenden würde, wenn der FC nur wieder auf – Achtung, ganz tiefer Griff in die Phrasenmottenkiste – „junge, hungrige Talente aus der Region“ setzte, die „mit Leidenschaft und Herzblut“ zur Sache gehen, weil sie „sich mit dem Verein identifizieren“. Das letzte große Talent dieser Art spielt inzwischen – hin und wieder – für Bayern München. Nachdem es seinen Vertrag in Köln ordnungsgemäß erfüllt hatte. 

Das alles hätte wohl gefragt und gesagt werden sollen. Doch wie so häufig in Situationen, wo Plumpheit und Dumpfheit einen unvermittelt überrumpeln, stellen sich die richtigen Worte erst später ein. Nun ja, es war halt ein Montag, jener Wochentag also, der sich üblicherweise zu „gute Tagesform“ ungefähr so verhält wie „1. FC Köln“ zu „Champions-League-Finale“. 

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* Spitzname geändert...aber der echte klingt fast genauso daneben 

** Nachtrag 7.1.2008: Da war ich wohl etwas voreilig, als ich den Kölner Stürmer Helmes zum Bald-Leverkusener erklärt habe, doch an diesem Wochenende sind Wechsel und Vertragsunterzeichnung offiziell vermeldet worden. Nun kommt Leverkusen für den gemeinen Kölner und FC-Fan in der Liste der No-Go-Areas gleich hinter Düsseldorf. Tatsache ist allerdings, dass der so genannte "Plastikclub" seit mindestens zehn Jahren den weitaus schöneren und besseren Fußball bietet. Das gilt insbesondere für jene Mannschaft, die in der Saison 2001/2002 die gesamte Bundesliga und halb Europa an die Wand spielte, nur am Ende in guter alter Beautiful-Loser-Tradition nicht in der Lage war, die fälligen Titel einzusacken. Egal, die damalige Leverkusener Mittelfeldreihe mit Ballack, Zé Roberto, Schneider und Bastürk ist so ziemlich das Beste, was je in der Bundesliga zu sehen war. 

(03.12.2007)

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Gore-taz

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Ich habe es endlich getan und den Stromanbieter gewechselt. Wie immer in solch einschneidenden historischen Momenten, wenn es gilt eine neue vertragliche Bindung einzugehen, überprüft man die Dokumente nicht nur ein-, sondern x-mal, bevor man sie unterschreibt und abschickt. Danach geht alles problemlos seinen Gang, wie versprochen: Der neue, „grüne“ Ökostrom-Anbieter kümmert sich um alles, einzige Eigenleistung bleibt die telefonische Übermittlung des Zählerstands zum Wechseldatum, jeweils an alten und neuen Stromlieferanten. Und was soll ich sagen: Es funktionierte tatsächlich alles zum Übergang, kein Gerät fiel aus, das alle dreißig Sekunden Speichern am Computer in den letzten Minuten vor dem Wechsel hätte ich mir sparen können. Auch jetzt, gut sechs Wochen später, ist die Stromversorgung noch nicht zusammengebrochen. Es wird noch immer Licht. 

Der historischen Entscheidung vorausgegangen war die Offenbarung einer Unbequemen Wahrheit durch den ehemaligen Beinahe-Nächsten-Präsidenten der USA. Das brachte mich dazu, mir mal die Stromrechnung von meinem bisherigen Anbieter genauer anzugucken. Die Energiekonzerne sind ja seit einiger Zeit von Gesetz wegen verpflichtet, ihren Strom-Mix aufzuschlüsseln. Tja, und da war eindeutig mehr Kohlekraftwerksstrom drin als Al Gore erlaubt. Ganz zu schweigen von der Atom-Beimischung zu meinem Strom-Cocktail. 

Hinzu kam der massive Druck, den die taz kurze Zeit später mit einem Titelblatt entfaltete, auf dem ein Dutzend mehr oder weniger prominente Zeitgenoss/inn/en erklärten, dass, wie und warum sie auf Naturstrom gewechselt sind. Gegenüber dieser geballten Ökostrom-Front war jeder Widerstand zwecklos. Zumal im Innenteil neben guten Argumenten gleich ein paar Adressen und Links zum Wechseln aufgeführt waren (www.ews-schoenau.de, www.greenpeace-energy.de, www.lichtblick.de, www.naturstrom.de, vgl. taz-Dossier vom 4.11. 2006). Nur noch eine Frage am Rande: Warum sehen taz-Titelbilder mit einem Haufen von Porträts darauf eigentlich immer genau so aus wie die RAF-Fahndungsplakate aus den Siebzigern? 

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Mindestens genau so überzeugend wie ihre Klimaschutz-Kampagnen sind die Anstrengungen, die die taz zur Leser-Blatt-Bindung unternimmt: Redakteure unterwerfen sich Direktmarketing-Maßnahmen und (unter)schreiben Briefe an Schnupper-Abonnenten, in denen sie eindringlich die Vorzüge ihrer Zeitung schildern und düster ausmalen, was einem alles fehlen würde ohne die taz. Da konnte ich gar nicht mehr anders als nach dem Schnupperabo direkt ein Jahresabo zu bestellen. Und wenn man schon als Prämie dafür einen ökologisch unbedenklichen und nicht in Kinderarbeit gefertigten Bademantel plus (als Schnellbucher-Bonbon) die Archiv-DVD angeboten bekommt, dann nimmt man das gerne auch noch mit. 

Und nun noch einmal auf Grundsätzlich: Es gibt in Deutschland und speziell in Nordrhein-Westfalen inzwischen zu viel in ein paar wenigen Großverlagen und ihren entsprechenden Großpublikationen konzentrierte Meinungsmacht, und zu wenig eigenständige kleinere Häuser wie die taz. Die bietet aufgrund ihrer genossenschaftlichen Betriebsform vielleicht noch am ehesten die Gewähr, dem Zugriff expansionswilliger Verlagshäuser zu entgehen und eine unabhängige überregionale Qualitätszeitung zu bleiben. Ich hoffe es jedenfalls, und würde mir auch wünschen, dass nach dem Ende des Kölner Lokalteils nun der regionale taz-NRW-Teil bestehen bleibt. Wo sonst gibt es den „Laumann der Woche“, und wo sonst bekommt man so unterhaltsame Geschichten und Fotos vom lederbejackten Arbeiterführer Jürgen Rüttgers geboten?

Nachtrag: Wenn Skeptiker schon mal etwas erhoffen...das kann ja nicht gut gehen. Die taz NRW ist zum 30.06.2007 eingestellt worden.

Nachtrag 2018: Ich habe mein Abonnement der taz 2013 gekündigt und seitdem keinen guten Grund gefunden, es wieder aufzunehmen. 

(12.02.2007)

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Wurstige Franzosen

Schwägerin K. entschloss sich vor geraumer Zeit, ihre Fremdsprachenkenntnisse aus der Schulzeit auszubauen und Französisch zu lernen. Da sagt man als ehemaliger Romanistik-Nebenfächler natürlich: „Bravo!“ und „Allez-y!“, beziehungsweise „Vas-y!“ 

Nachdem K. einige Kurse an der Volkshochschulkurse erfolgreich absolviert hatte, wagte sie den Schritt ans deutlich teurere Institut Français. Das ist zwar seit Ewigkeiten nicht mehr renoviert worden und verfügt offenbar auch über keine funktionierende Heizung mehr, weshalb man großzügigerweise ein paar Elektroöfen angeschafft hat. Dafür kann es aber waschechte Französinnen und Franzosen als Sprachvermittler aufbieten.

K.s Dozentin ist eine Französin, die schon lange hier lebt. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, machte sie sich, so berichtete es K., zuallererst einmal ausgiebig über das hierzulande übliche Frühstück und einige seiner typischen Bestandteile lustig, und fragte prustend in die Runde, wie man denn so etwas nur essen könne. Ihre besondere Verachtung galt der hiesigen Wurst.

Tja, da war sie wieder, diese scheinbar typisch französische, durch keinerlei Selbstironie gebrochene Arroganz. Die erste, spontane Reaktion auf die Ansage der Dozentin wäre vermutlich die Frage gewesen: „Geht’s noch, Froschfresserin?!“ Nun ist die erste Reaktion nicht immer die beste. Vielmehr sollte man der Dame den freundlichen Ratschlag geben, sich in ihrer Eigenschaft als Vertreterin aus dem Land der Gourmets und Gourmätressen einen Text ihres Landsmanns Georges Wolinski zu Gemüte zu führen, den dieser einmal in Frankreichs renommiertem Satireblatt Le Canard Enchaîné veröffentlicht hat. 

Wolinski versetzt sich darin in die Haut eines Franzosen, der alles an gängigen Beschimpfungen und Beleidigungen durchdekliniert, was die nationale Klischeekiste so hergibt in Bezug auf die lieben europäischen Nachbarn und andere Landsleute. Jeder Satz des Textes beginnt mit „J’aime pas les...“, es folgt eine Nationalität, dann kommt die Begründung, warum er sie nicht mag. Ein Beispiel: „J’aime pas les Belges, ils sont plus cons qu'ils en ont l’air.“ * Auf Deutsch ungefähr so viel wie: „Ich kann die Belgier nicht leiden, sie sind noch blöder, als sie aussehen“. Nachdem dann endlich alle abgewatscht sind, lautet der letzte Satz: „J’aime que moi“. Auf Neudeutsch ungefähr so viel wie „Ich habe fertig“. 

Kapiert, pardon: Compris, Madame Frog?

Ein bisschen mehr von dieser wolinskischen Selbstironie würde euch gut anstehen, liebe vertraglich verbundene Freundinnen und Freunde. Immer die eigene Grande Kulturnation wie eine Monstranz vor sich herzutragen, beeindruckt heutzutage niemanden mehr. 

Ach, Ihr wisst nicht, was das ist, Selbstironie? Siehe da, in meinem dicken Handwörterbuch Französisch aus Studienzeiten sucht man tatsächlich noch vergeblich nach ‚Selbstironie’ und seinem französischen Pendant. Immerhin findet sich aber inzwischen im Internet-Lexikon LEO der Eintrag ‚autodérision’, und das kommt beim französischen Google auf über 200.000 Treffer. Geht doch.

Eines noch, Miss Froggy: Der wahre Connaisseur genießt zum ausgiebigen Frühstück sowohl Croissant als auch Wurstbrötchen. 

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* Dieser Satz ist aus dem Gedächtnis zitiert, da ich den Text nirgends in schriftlicher Form auftreiben konnte, und daher möglicherweise im Wortlaut nicht ganz korrekt wiedergegeben. 

(12.02.2007)
 
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Der Fröhliche Skeptiker 

Skeptiker werden gerne als Kleingläubige, Schwarzseher oder Miesmacher abgetan. Dabei pflegen sie nur den Zweifel, und dies zu tun ist über jeden Zweifel erhaben. In den Worten von Peter Ustinov: „Wer nicht zweifelt, ist verrückt.“ Dubito, ergo sum. Der Skeptiker wird sich außerdem energisch dagegen verwahren, als griesgrämige Gestalt gehandelt zu werden. Er will gar nicht immer Recht behalten mit seiner Skepsis, denn es gehört zu den größten Vorzügen seiner Betrachtungsweise, fast nur angenehme Überraschungen erleben zu können. Schließlich kennt er Murphys Gesetz und hat zudem bereits so einige Himmelsstürmer baden gehen sehen (sich selbst natürlich auch schon mal) und deswegen auch kein Problem damit, sich als Bedenkenträger beschimpfen zu lassen. Im Übrigen würde ihn seine Skepsis niemals vom Tun abhalten und in die Lethargie treiben. Wer sich mit Camus Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen kann, wird auch den fröhlichen Skeptiker verstehen. 

Selbstredend ist der fröhliche Skeptiker auch Agnostiker. Die Reden und das Auftreten vieler Würdenträger und Berichterstatter während des letztjährigen Papstbesuchs in Bayern haben ihn in seiner Überzeugung gestärkt. Da warnte der Pontifex Maximus etwa vor „zu viel Vernunft“, denn die sei für den Glauben hinderlich, also bittschön nicht so viel vernünfteln und zweifeln, sondern feste dran glauben. Das kam dem fröhlichen Agnostiker wie ein ferner Widerhall jener Stelle in Der Name der Rose vor, wo der Ehrwürdige Jorge William von Baskerville über eine der Geschäftsgrundlagen des mittelalterlichen Glaubens aufklärt: „Lachen tötet die Furcht, und ohne Furcht kann es keinen Glauben geben.“ Weshalb der ehrwürdige Abt einen griechischen Übersetzer, der sich erdreistete während der Übersetzungsarbeit laut zu lachen, kurzerhand ins Jenseits beförderte. 

Immerhin, mit dem Lachen hat die Kirche inzwischen ihren Frieden gemacht – sieht man mal von Popetown ab, und diversen anderen als anstößig indizierten Lachnummern. Und ganz abgesehen davon, dass einem angesichts der großen wie der kleinen Politik das Lachen in der Tat vergehen könnte und sich unwillkürlich der Gedanke aufdrängt, es gebe in der Welt eher viel zu wenig Vernunft statt zu viel: „Dran glauben“ müssen wir ohnehin alle irgendwann einmal. Muss aber nicht unbedingt jetzt schon sein. 

Der Papst beklagte in seinen Reden des Weiteren eine zunehmende „Schwerhörigkeit gegenüber Gott“. Das viel größere Problem ist doch wohl die zunehmende Zahl derer, die ihrem Gott schwer hörig sind und sich zur Rechtfertigung ihrer Worte und Taten auf angebliche göttliche ‚Weisungen’ oder im Schriftgut ihrer jeweiligen monotheistischen Überlieferung verankerte, vermeintliche ‚Befehle’ berufen. Wahrlich, da kommt sich der Agnostiker mit seinen Warnungen manchmal vor wie der Prediger in der Wüste. 

Wer in seiner Jugend als Konfirmand, Kommunionskind oder anderweitig mit religiösen Einflüssen zu tun hatte und im Laufe seines Lebens bei der agnostischen Vernunft angekommen ist, sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass er nicht davor gefeit ist, durch Krankheit oder im Alter gläubig (beziehungsweise: gläubisch) zu werden und auf irgendeine Form des Weiterlebens zu hoffen. Das hat aber auch etwas Praktisches: So bleibt die Spannung bis zum Schluss erhalten, und hinterher kann eh niemand verraten, wie’s ausgegangen ist. 

Wer weiß, vielleicht existiert ja parallel zum in Länder und Mächte aufgeteilten Globus ein multireligiös aufgestelltes Jenseits, wo aber im Unterschied zu hienieden Vertreter der „primitiven Naturreligionen“ das Sagen haben. Oder es gibt dort zwar tatsächlich nur den einen Gott, doch es ist – surprise, surprise – der große Manitu, der mit verschränkten Armen und strengem Blick am Eingang steht, sich gänzlich unbeeindruckt vom „Mein Bruder!“-Gesäusel der Bleichgesichter zeigt und die christlichen, islamischen und anderweitig religiösen Fundamentalisten seiner Jagdgründe verweist. 

Sollten indes alle auf Stamm-Vadder Abraham rekurrierenden Monotheisten Recht behalten, uns Agnostiker dann aber mit triumphalistischem Gehabe und „Haben-wir’s-euch-nicht-schon-immer-gesagt“-Geschrei im Himmel begrüßen, melden wir uns sofort für eine ausgedehnte Besichtigungsfahrt in die Hölle an. Nach allem, was im Laufe der Zeit an Spekulationen über die dortige Belegschaft geäußert und geschrieben worden ist (zum Beispiel in Christian Dietrich Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung), dürfte es sich dabei ohnehin um die unterhaltsamere Veranstaltung handeln. 

(12.02.2007)
 
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Mehr Freizeit wagen

Einer der überzeugendsten Protestsongs gegen uferlose Verlängerungen der Arbeitszeiten und Kürzungen des Jahresurlaubs im Namen von unternehmerischer Freiheit, Wettbewerbsfähigkeit und Globalisierung ist bereits über dreißig Jahre alt. Roy Black und Anita gaben ihn 1972 zum Besten: Schön ist es, auf der Welt zu sein. Und das geht so: 

(Roy) Das Beste am ganzen Tag, das sind die Pausen
(Anita) Das ist schon immer in der Schule so
(Roy) Das Schönste im ganzen Jahr, das sind die Ferien
(Anita) Dann ist sogar auch unser Lehrer froh
[Und jetzt kommt’s, aufgepasst!]
(Roy) Dann kann man endlich tun und lassen, was man selber will
(Anita) Dann sind wir frei und keiner sagt mehr: „Du, sei still!“
(Beide) Das schönste im Leben ist die Freiheit, denn dann sagen wir „Hurra!“

Freizeit, pardon: Freiheit, die Roy Black und Anita meinen: Pausen und Ferien, denn dann kann man endlich tun und lassen, was man selber will. 

Im Refrain wird’s dann ein bisschen kryptisch: 

Schön ist es auf der Welt zu sein / sagt die Biene zu dem Stachelschwein

Hmm, „sagt die Biene zu dem Stachelschwein“ ... wir wollen natürlich bei einem deutschen Schlager nicht annehmen, dass die in Musikerkreisen angeblich so beliebten magic mushrooms oder andere Stimulanzien bei der Abfassung des Liedtextes behilflich waren (Was man als Drogenunkundiger eben so für Klischeevorstellungen hat!). Wie dem auch sei, grundsätzlich hat die Biene als ausgewiesener Workaholic in einem Loblied auf die freie Zeit natürlich überhaupt nichts verloren, man vergleiche nur die entsprechenden Komposita in der deutschen Sprache: „bienenfleißig“, „Arbeitsbiene“ und neuerdings „Azubi(e)ne“. Besser gepasst hätte hier: „Schön ist es, auf der Welt zu sein / sagt das Faultier zu dem Trüffelschwein“.

Das Tier und wir wird auch in der zweiten Strophe thematisiert, und wieder kann man über das ästhetische Gelingen geteilter Meinung sein. So singt Anita etwa, sie säße mal gern auf einem Krokodil – dreißig Jahre vor MTV-Jackass. Aber dafür beweist der Textdichter erneut Weitblick in Bezug auf die Globalisierung:

(Roy) Die Welt wird immer kleiner und die Wünsche riesengroß

und versucht gleichzeitig, das Augenmerk auf die einfachen Dinge des Lebens zu lenken: 

(Anita) Warum, oh schau wie schön ist auch ein Frosch im Moos

Schönheit ist Ansichtssache. Im Märchen brauchte der Frosch noch einen Kuss, um schön zu werden. Hier soll es ausreichen, dass er im Moos sitzt. Ausgerechnet im Moos, das umgangssprachlich aus ganz anderen Zusammenhängen bekannt ist: „Ohne Moos nix los“. Für diesen Moment des Innehaltens und der Kontemplation hätte man sich ein unzweideutiges Objekt der Schönheit gewünscht. Sei’s drum, wir halten fest: es geht darum, dem permanenten Sich Abhetzen und Haben Wollen etwas entgegenzusetzen. Na gut, also stimmen auch wir ein, Schön ist es auf der Welt zu sein. Für den nächsten Streik sollte Ver.di es vielleicht schon mal als Kampflied vormerken. 
 
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Der Ökonom begehrt Aufnahme in den Kreis der Naturwissenschaftler 

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte für die überbordende Selbstgewissheit der herrschenden Lehre in der hiesigen Wirtschaftswissenschaft, dann hat ihn spätestens im Frühjahr 2005 ein Münchener (nicht: Heidelberger) Professor geliefert. In Reaktion auf die unternehmens- und kapitalismuskritische „Heuschrecken“-Rede des damaligen SPD-Vorsitzenden Müntefering ließ er verbreiten, dass dessen moralische Empörung über „ökonomische Gesetze“ sich genauso gut gegen „die Gesetze der Schwerkraft“ richten könnte. So so, demnach wäre der Ökonom also auf „Augenhöhe“ mit dem Naturwissenschaftler? Ich habe in den Veranstaltungen zur Methodik der empirischen Sozialforschung an der Uni mal gelernt, dass die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in ihrer Messgenauigkeit und Prognosefähigkeit meilenweit hinter den Naturwissenschaften zurückbleiben. Was nicht zuletzt in der Natur der Sache liegt: Denn Wirtschaft wird nicht von der Natur, sondern von fehlbaren Menschen gemacht und von keineswegs unfehlbaren Menschen analysiert und erforscht. Demnach ist auch die Globalisierung ein von Menschen gemachtes Produkt – das man folglich beanstanden und zur Nachbesserung in Reparatur geben kann. 

Erstaunlich ist nur, dass solche Experten ihre Ansichten gänzlich unbekümmert weiter in jedes Mikrofon sprechen können und ihnen dabei so selten auf den Zahn gefühlt wird. Warum stellen Journalisten den Naturgesetz-Ökonomen nicht einfach jedes Mal die Frage: „Wie begründen Sie es eigentlich, dass Sie die Ökonomie auf eine Stufe mit den Naturwissenschaften stellen?“ Denn dies ist keine Petitesse, und auch keine lässliche rhetorische Zuspitzung. Wer seine Ansichten ohne Widerrede als „Naturgesetze“ verkaufen darf, kann natürlich auch im Anschluss locker behaupten, sie seien „alternativlos“. Noch so ein Begriff aus dem Wörterbuch des Naturgesetz-Ökonomen, der gar nicht oft genug in Frage gestellt werden kann. * 

Vielleicht sollte sich die Ökonomie besser ihrer Nachbarschaft zu einer ganz anderen Wissenschaft besinnen. Wie lautete noch gleich das 1. Erhardsche „Gesetz“: „Wirtschaft besteht zu 50 Prozent aus Psychologie.“ Oder waren’s 80 Prozent? Egal, ob 50, 80 oder wie viel Prozent auch immer: Wenn es also stimmt, dass Wirtschaft zu einem beträchtlichen Teil mit Psychologie durchsuppt ist, wundert’s einen nicht mehr, dass Ökonomie-Experten egal welcher Couleur so häufig mit ihren Weissagungen daneben liegen. Irren ist schließlich menschlich. Auch so ein Naturgesetz. 

Nehmen wir mal das Beispiel Euro: Es sei hier noch einmal an die Prognosen erinnert, nach denen der Euro von Beginn an einen steilen Höhenflug im Verhältnis zum US-Dollar hinlegen sollte. Bekanntlich trat, nach Einführung des Euro als Buchgeld im Januar 1999, an den Devisenmärkten das genaue Gegenteil ein, und dabei blieb es für mehrere Jahre. Dass der Euro seit seiner Einführung als Bargeld im Januar 2002 zwischenzeitlich sogar noch höher notiert wurde als einst vorausgesagt (und mittlerweile auch wieder einmal gefallen ist), hat offensichtlich weniger mit vermeintlich allgemein gültigen „Gesetzen“ zu tun, sondern ganz konkret mit Politik, zum Beispiel der von Regierung und Zentralbank in den USA – und möglicherweise auch mit Psychologie, siehe oben. In jedem Fall aber mit Entscheidungen, die von Menschen getroffen werden, nicht von der ‚Natur’, und die auch nicht vom Himmel gefallen sind. 

Am Rande: Eine andere Gruppe von Experten, die beanspruchte d a s Naturgesetz zu kennen, hat gleich eine Partei dieses Namens gegründet. Das war die mit den Yogi-Fliegern, die in den legendären Europawahl-Werbespots immer so possierlich durchs Bild hüpften. 

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* Denn wozu braucht man dann eigentlich noch eine Demokratie? Eines der herausragenden Kennzeichen dieser Staatsform ist die Wahlfreiheit. Wenn aber alle wesentlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen "alternativlos" sind, also keinerlei Wahlmöglichkeit mehr lassen, warum sollte man dann noch wählen gehen? So oder ähnlich müssen wohl auch diejenigen Wähler/innen gedacht haben, die zuletzt bei drei Landtagswahlen im März 2006 der Partei der Nichtwähler zu neuen Rekordergebnissen verholfen haben.
 
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Drink doch eene mit 

Es ist nicht Sozialromantik, sondern schlicht und einfach Sozialvernunft, den solidarischen Sozialstaat mit seinen Schutz- und Teilnahmerechten als bewahrenswerte Art zu betrachten – selbst wenn er in seiner jetzigen, hierzulande praktizierten Form an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit geraten sein sollte. Es ist auch kein ausgeprägt linker oder linksliberaler, sondern eher klassisch zentristischer Ansatz, zu sagen: Damit es mir auf Dauer gut gehen kann, muss es möglichst vielen anderen Leuten auch gut gehen können. Oder in der Sprache des klassischen „Rheinischen Kapitalismus“: Wenn wir die Aufforderung „Drink doch eene mit“ Ernst nehmen, ist es sinnvoll und richtig, dass deutlich mehr als zwei Drittel der Kneipengesellschaft mittrinken können. Fragen Sie mal den Handel, ob er da anderer Meinung ist. Der lebt nämlich von einer florierenden Binnenkonjunktur mit einer kaufkräftigen Kundschaft und sollte sich normalerweise mit Händen und Füßen dagegen wehren, dass diese immer weniger verdienen, immer länger arbeiten und immer weniger Urlaub machen soll.

Wie soll das funktionieren, wenn man die gesammelten Vorstellungen der vielen selbst ernannten Sozialstaats- und Wirtschaftserneuerer einmal in ein Alltagsszenario überträgt: Man müsste dann also für weniger Geld in kürzerer Zeit mehr einkaufen, mit weniger Urlaubs- und Feiertagen pro Jahr Ferien in den Tsunami-Gebieten machen, um die dortige Bevölkerung nach der Katastrophe möglichst wirksam beim wirtschaftlichen Wiederaufbau zu unterstützen (dabei aber zum Beispiel auch die Erdbebenopfer in Pakistan nicht vergessen und mit Spenden bedenken), gleichzeitig mit dem weniger an Netto aber auch noch viel stärker private finanzielle Eigenvorsorge fürs Alter betreiben, und vor allem mehr Kinder in die Welt setzen und diese auch in von Frauen und Männern gemeinsam wahrgenommener Verantwortung erziehen, damit Frauen bessere Chancen haben, weiter berufstätig zu bleiben, außerdem auf diese Weise der drohenden Vergreisung der deutschen Gesellschaft sowie dem Kollaps der gesetzlichen Rentenversicherung entgegenwirken, und schließlich in der Freizeit auch beispielsweise Patenschaften für Kinderspielplätze übernehmen und sich darüber hinaus weiter bürgerschaftlich respektive ehrenamtlich engagieren. Ach ja, darin sind Besuche von Kino, Kabarett, Konzert, freien und staatlichen Theatern, Sportveranstaltungen etc. noch gar nicht enthalten, ganz zu schweigen von der eigenen körperlichen oder kreativen Ertüchtigung, oder Weiterbildung im Zeichen des „lebenslangen Lernens“. 

Was braucht der Mensch für all das, 24-, 36- oder doch eher 48-Stunden-Nonstopptage ohne Schlaf, aber dafür mit einigen bunten Pillen? Und wer bezahlt die nach der Gesundheitsreform? Und wenn man mal keine Zeit mehr zum Einkaufen hatte und nirgendwo mehr frisches Brot zu bekommen ist (natürlich nur, weil die verfluchten Gewerkschaften verhindert haben, dass der Ladenschluss komplett fällt), dann könnte man doch auch Kuchen essen, nicht wahr? Auf solche Ideen können wohl nur Leute kommen, die permanent im Flugzeug über den Wolken schweben und alle lästigen irdischen Besorgungen und Pflichten auf Steuerberater, Sekretärin, Tagesmutter, Hauslehrerin und -diener, Chauffeur, Putzfrau und Koch übertragen haben. 

Die Lösung aller Sozialstaats-, Arbeitsmarkts- und Demographieprobleme kann aus einer solchen Vogelperspektive nur lauten: Wir brauchen noch viel mehr Reiche, die permanent über den Wolken schweben – und währenddessen gleich noch die zukünftigen „high potentials“ im Flugzeug zeugen – und für die lästigen irdischen Besorgungen und Pflichten noch viel mehr Steuerberater, Sekretäre, Tagesmütter, Hauslehrer und -diener, Chauffeure, Putzfrauen und Köche einstellen. Dann kann endlich auch die Bundesagentur für Arbeit radikal verschlankt werden und schult künftig alle Arbeitslosen zu Steuerberater/inne/n, Sekretär/-en/-innen, Tagesmüttern/-vätern, Hausdiener/inne/n und -lehrer/inne/n, Chauffeur/inn/e/n, Putzfrauen/-männern und Köch/inn/en um. 

Aber es sollte bei dieser Rundumerneuerung von Staat und Gesellschaft besser nicht so dumm laufen wie im Fall des gerade ins Amt eingeführten und nach rund drei Monaten Amtszeit Anfang 2005 schon wieder abservierten französischen Wirtschafts- und Finanzministers Gaymard. Obwohl wohlhabend und im Besitz mehrerer Wohnungen, darunter ein Apartment in Paris, ließ er sich vom Staat eine Wohnung in der Hauptstadt zum Preis von 14.000€/Monat anmieten. Unter seinen dortigen Bediensteten befand sich auch ein – natürlich ebenfalls aus Steuergeldern bezahlter – Mundschenk. Das war mit „Drink doch eene mit“ eigentlich nicht gemeint. 
 
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Heute schon ’ne Statistik gelesen? Mal wieder schlecht in einem „Ranking“ abgeschnitten?

Keine Angst vor Statistiken! Der Winston Churchill zugeschriebene Ausspruch und Ratschlag „Glaube nur den Statistiken, die du selbst gefälscht hast“ gilt heute mehr denn je. Was sind wir nicht in den vergangenen Jahren mit Studien, Umfragen, Indizes und den berüchtigten „Rankings“ bombardiert worden, die uns den unmittelbar bevorstehenden Untergang prophezeit haben. Dabei blieb und bleibt es in vielen Fällen im Ungewissen oder Ungefähren, wer da was gemessen beziehungsweise was womit verglichen hat, welche Kriterien und Vergleichspunkte angelegt wurden, welche respektive wie viele Leute befragt wurden, usw. usf.. Und selbst bei denjenigen Studien, die tatsächlich hinsichtlich Methodik und Durchführung den gängigen wissenschaftlichen Anforderungen genügen, ist Vorsicht geboten. Entscheidend ist, wer der Auftraggeber ist und ergo bezahlt hat. Dies gilt genauso bei Institutionen wie etwa der Weltbank. Die Weltbank ist nicht neutral, ihr wichtigster Anteilseigner ist die USA. Ihre Arbeit und ihre Studien stehen immer unter dem Vorbehalt, auch interessengeleitet zu sein. Wenn also eine Weltbank-Studie zu dem Schluss kommt, dass die Globalisierung eine ganz prima Sache ist, von der alle etwas haben, und da auch noch was von „Win-Win-Situation“ steht, dann sollten beim Leser ring-ring die Alarmglocken schrillen. 

Aber welchen Zahlen ist eigentlich noch zu trauen? Bisher hat meines Wissens noch niemand die amtlichen Statistiken, die beispielsweise hierzulande das dafür zuständige Bundesamt in Wiesbaden und auf EU-Ebene Eurostat in Luxemburg erheben und liefern, grundsätzlich in Frage gestellt. Nichtsdestoweniger ist es aber für jeden halbwegs gewieften Ideologen (und für jeden einigermaßen geübten Politiker) eine der leichtesten Übungen, aus den amtlich ermittelten „objektiven“ Daten genau das herauszulesen, was ihm in den eigenen Kram passt. So etwas lernt man ja schließlich auch neben anderem an der Uni: Such’ dir genau das zusammen, was die These unterstützt, die du beweisen willst, und blende alles andere aus. 

Also haben Sie auch keine Angst vor dem vermeintlichen Herrschaftswissen der BWLer, VWLer und Juristen. Die kochen auch nur mit Wasser, und produzieren dabei genauso oft heiße Luft wie es unsereins zuweilen in hitzigen feuilletonistischen Debatten tut.

P.S. Ist Ihnen auch aufgefallen, dass seit der Bundestagswahl im September 2005 das Umfrage/Statistik/Studien/Ranking-Getöse merklich leiser geworden ist?

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Beitrag zum Wettbewerb „Das schönste Wort in der deutschen Sprache“ (leicht bearbeitet und ergänzt April 2006)

Brot

Das schönste Wort in der deutschen Sprache ist „Brot“. Es ist elementar und universell, es umfasst insbesondere in seinen redensartlichen und sprichwörtlichen Ausformungen und Anwendungen das gesamte Spektrum des menschlichen Daseins. Es kann auch eher negativ besetzt sein wie in: „Wessen Brot ich ess’, dessen Lied ich sing’“. Es hat in jüngster Zeit einen völlig unverdienten Vergleich verpasst bekommen: „Dumm wie Brot“, und wird als Anrede in der Jugendsprache dementsprechend hin und wieder abwertend benutzt: „Du Brot!“. Aber Brot ist stark. Brot überlebt alle Anfeindungen. Und hat inzwischen einen starken Sympathie- und Werbeträger erhalten, der es auch in der jüngeren Generation wieder populär machen wird: „Bernd, das Brot“ vom Fernseh-Kinderkanal KIKA. 

Auch diese Generation wird dann irgendwann einmal – hoffentlich – in Lohn und Brot stehen oder seine Brötchen verdienen (um uns unsere Wasser-und-Brot-Rente zu sichern). Brot und Spiele bestimmen den Alltag, und wenn der Spruch bei den alten Römern entlehnt ist, zeigt das nur die Hartlaibigkeit des Brotes. Es ist einfach nicht totzukriegen. Die biblische Speisung der Fünftausend vermittelt ebenfalls einen anschaulichen Eindruck von den Sattmacherqualitäten des Brotes. Und schon seit vielen hundert Jahren besteht das rituelle Geschenk zum Einzug in ein neues Heim aus Salz und Brot. 

Dass schließlich zwischen Brot und Literatur ebenfalls ein direkter Zusammenhang besteht, geht nicht nur aus dem Wort von der „brotlosen Kunst“ hervor. Das kann man im Übrigen auch ganz anders sehen, wenn man den Titel eines Anfang der Neunziger Jahre veröffentlichten Frühwerks von Heinrich Böll zu Rate zieht: Der Geschmack des Brotes.

Brot ist nicht glamourös, es ist schlicht, und es ist auch nicht alles: der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Es ist auch nicht das, womit die meisten Menschen wohl das meiste Positive, Angenehme und Schöne verbinden. Aber danach wurde ja auch nicht gefragt, und es war nicht die Rede davon, dass das festzulegende schönste Wort der deutschen Sprache einer bestimmten Ästhetik genügen müsse. „Schön“ ist heutzutage frei definierbar, also warum nicht „Brot“? Lang lebe die Stulle, das Fladenbrot, das Baguette, das Ciabatta...


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